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Panorama: Lichtblick im Meer der Dunkelheit

Vor 200 Jahren wurde Louis Braille geboren – er erfand die Blindenschrift

Alice legt ein kartoniertes Stück Papier auf eine Tafel und klappt ein aus kleinen Kästchen bestehendes Gitter darüber. Dann beginnt sie, nach einer Vorlage mit einer stumpfen Ahle von rechts nach links in jedem Kästchen Vertiefungen ins Papier zu drücken, für jeden Buchstaben eine oder mehrere in verschiedener Anordnung. An der Seite ihres Großvaters, mit dem sie zu einer Besichtung des Geburtshauses des Erfinders der Blindenschrift, Louis Braille, in Coupvray bei Paris gekommen ist, hat die Zehnjährige den Ausführungen der Museumswärterin, Madame Benedetto, gelauscht. Dann hat sie einen Schreibversuch in Braille-Schrift machen dürfen. Jetzt klappt sie das Gitter wieder auf, nimmt das Papier heraus, dreht es um und tastet die auf der Rückseite als reliefartige Punkte erscheinenden Einstanzungen ab: Alice, ihr Name. Glücklich blickt sie in die Runde, als ob sie sagen wollte, so einfach ist das also. Ebenso glücklich haben vielleicht auch die Schüler des Pariser Blindeninstituts reagiert, denen Braille mit der von ihm ausgetüftelten Methode des Lesens und Schreibens im 19. Jahrhundert den Zugang zu Bildung und Wissen eröffnete. Heute kommunizieren Millionen blinder Menschen überall in der Welt nach der nach ihm benannten Methode. Um sie zu erfinden, hatte Braille, der am 4. Januar 1809 geboren wurde, erst selbst das Unglück des Verlusts des Augenlichts erlebt.

Der Unfall ereignete sich 1812, als er in der Sattlerwerkstatt seines Vaters mit dessen Werkzeug spielt und sich dabei ins Auge sticht. Zwei Jahre später ist er vollständig erblindet. Um seine geistigen Fähigkeiten zu fördern, bastelt ihm der Vater ein Brett, in das er mit Nägeln die Buchstaben des lateinischen Alphabets klopft. „Das war eine sehr rudimentäre Hilfe“, sagt die Museumswärterin und reicht das Brett herum, das in dem als Museum erhaltenen Haus ausgestellt ist. Doch der Wissensdrang des Buben ist geweckt. In der Dorfschule übertrifft er alle Mitschüler. Als Zehnjähriger empfiehlt ihn der Lehrer zum Besuch des Königlichen Blindeninstituts in Paris.

Auch dort ist der Hochbegabte in allen Fächern schnell der Beste. Er lernt Klavier, Violoncello und Orgel zu spielen. Die Institutsleitung setzt ihn bald als Lehrer ein. Als eines Tages der Artilleriehauptmann Charles Barbier dem Institut eine Geheimschrift vorstellt, die er zur nächtlichen Übermittlung von Nachrichten entwickelt hat und die für Blinde von Interesse sein könnte, hat er keine Ruhe mehr. Viele Nächte arbeitet er an der Vereinfachung der komplexen militärischen Lautschrift.1824 hat er es geschafft. Aus nur sechs mit den Fingern ertastbaren Punkten setzt sich seine alphabetische Schrift zusammen. Sie enthält 64 Kombinationsmöglichkeiten und schließt auch die Ziffern sowie die Zeichen für mathematische Operationen ein. Von dem einfachen System, das Licht in ihrer Dunkelheit verheißt, sind die Schüler sofort begeistert. Den weltweiten Siegeszug seiner Schrift sollte Braille nicht mehr erleben. Er starb am 6. Januar 1852 an Tuberkulose. Erst 1854 wurde seine Blindenschrift in Frankreichoffiziell anerkannt, ab 1878 auch in anderen Ländern. Zum 200. Geburtstag wird Braille am heutigen Sonntag in der Kathedrale Notre-Dame in Paris mit einem Konzert des blinden Organisten Jean-Pierre Legnay geehrt.

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