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Gesundheit: Kurze Reaktionszeit kann nicht antrainiert werden - Die Willkür der Nervenzellen triumphiert über Bewusstsein

Wenn man das Gehirn besser verstehen will, ist der Vergleich mit einem Computer nur bedingt tragfähig. Denn während der Elektronenrechner beim mehrfachen Auftreten eines bestimmten Inputs mit mechanischer Gleichgültigkeit den selben Output produziert, kann die Wiederholungsgenauigkeit des Zentralorgans erheblich schwanken.

Wenn man das Gehirn besser verstehen will, ist der Vergleich mit einem Computer nur bedingt tragfähig. Denn während der Elektronenrechner beim mehrfachen Auftreten eines bestimmten Inputs mit mechanischer Gleichgültigkeit den selben Output produziert, kann die Wiederholungsgenauigkeit des Zentralorgans erheblich schwanken. Experimente zur Reaktionsgeschwindigkeit nähren sogar den Verdacht, dass die Entladungen von Nervenzellen (Neuronen) durch eine Art von Zufallsgenerator gesteuert werden, der vorsätzlich einen Grad von Unbestimmbarkeit in das Getöse bringt.

Es gibt wenige mentale Leistungen, die die Arbeitsweise des Nervensystems so anschaulich widerspiegeln, wie die Reaktionsgeschwindigkeit. So rasch wie möglich auf Signale aus der Umwelt zu reagieren, kann im Daseinskampf den entscheidenden Vorsprung bedeuten. Um so erstaunlicher ist die Tatsache, dass sich die Frist zwischen Reiz und Reaktion auch mit massiven Anstrengungen nicht optimieren lässt. Wettläufer, die in der Startbox dem Knall der Pistole harren, können ihre Reaktionsgeschwindigkeit auch mit nachhaltigen Training nicht auf den Bestwert trimmen. So sehr sie sich auch bemühen, die Anlaufzeit schwankt von einem zum anderen Durchgang um bis zu eine Zehntelsekunde.

Es ist bemerkenswert, dass das Auf und Ab der Reaktionsgeschwindigkeit keinem systematischen Trend gehorcht: Das Pendel schlägt aufs Geratewohl in die eine und andere Richtung aus und scheint alleine vom Zufall bestimmt zu sein. Die Wechselhaftigkeit der Reizantwort bereitete schon vor 100 Jahren den Psychologen Kopfzerbrechen, die als erste entsprechende Messungen durchführten. In der Zwischenzeit steht fest, dass die Schwankungen bei Reaktionen auf alle Sinnesreize auftreten, seien es Töne, Lichtsignale oder gar Berührungen. Die Streuung besitzt über alle Sinneskanäle hinweg das gleiche, willkürliche Muster. Es wird daher schon länger vermutet, dass sie durch elementare Prozesse in den Nervenzellen zustande kommt, welche an allen Formen der Informationsverarbeitung beteiligt sind.

Die Zeit, die Nervenimpulse benötigen, um von den Sinnesorganen bis zu den sensorischen Anlaufstellen im Gehirn zurückzulegen, kann nicht für das Phänomen verantwortlich sein, erklären die Neurobiologen Doug P. Hanes und Jeffrey D. Schall von der Vanderbilt-Universität in Nashville. Denn diese Übermittlung schafft einen gleichbleibenden Aufschub, der ohnehin nur einen geringen Teil der beobachtbaren Verzögerung ausmacht. Auf eine durchschnittliche Reaktionszeit von 200 Millisekunden kommen 100 Millisekunden Fluktuation, welche völlig unberechenbar sind.

Auf Basis von mathematischen Modellen waren Forscher zu dem Schluss gelangt, dass die Fluktuation mit der wechselhaften Ladezeit zusammenhängt, die gewisse motorische Nervenzellen beanspruchen, um ihre "Betriebsspannung" zu erreichen, die die Schwelle zum Auslösen einer Handlung bildet. Bereits in den 80er Jahren hatte eine Gruppe von Psychologen mit dem EEG die Stromspitzen (evozierte Potentiale) abgeleitet, die über der Großhirnrinde (Kortex) entstehen, wenn Menschen auf Sinnesreize antworten. Tatsächlich bauten sich die Ausbuchtungen mit einer unbeständigen Verzögerung auf, obwohl Reiz und Reaktion stets identisch blieben. Hanes und Schall haben bei Experimenten mit Rhesusaffen untersucht, ob sich ähnliche Abweichungen beim Erreichen des elektrischen "Kipppunktes" auch auf der Ebene einzelner Neuronen nachweisen lassen.

Zu diesem Zweck trainierten sie die Tiere darauf, ihren Blick auf ein Signal hin von einer Stelle auf dem Bildschirm zu einer anderen zu richten. Während der gesamten Prozedur wurden mit implantierten Elektroden die Spannungsveränderungen im "frontalen Augenfeld" abgehorcht. Das ist eine Struktur im Stirnlappen, deren motorische Nervenzellen den Anstoß zur Bewegung der Augen geben. Bei mehreren hundert Versuchen erzielten die Affen eine Reaktionszeit, die ganz wahllos von 150 bis 400 Millisekunden währte.

Die Verzögerung hing allein davon ab, wie lange die Nervenzellen benötigten, um ihren kritischen Schwellenwert zu erreichen, der bei jedem Neuron eine feste und unveränderliche Konstante bildet. Sobald dieser Schwellenwert überschritten war, war der Weg frei für die Augenbewegung. Sie erfolgte immer genau 20 Millisekunden nachdem die Nervenzellen die kritische Erregungsgrenze passiert hatten. Es ist jetzt immer noch völlig offen, warum die motorischen Nervenzellen mal mehr, mal weniger Zeit benötigen, bis ihr Ladezustand die kritische Marge erreicht. Aber die Vorstellung eines Schwellenwertes könnte beim Verständnis neurologischer Krankheiten behilflich sein. Patienten mit Parkinson-Krankheit zeichnen sich zum Beispiel durch verlängerte Reaktionszeiten ihrer Augenbewegungen aus. Das könnte daran liegen, dass der Schwellenwert bei ihnen angehoben wurde, oder dass ihre Neuronen sich mit verlangsamter Geschwindigkeit aufladen.

Warum die Evolution überhaupt zwischen Reiz und Reaktion einen Zufallsgenerator setzt, bleibt rätselhaft. Für Wettläufer wäre es sicher vorteilhaft, wenn sie ihre Reaktionszeit auf ein Minimum trimmen könnten. Aber auf der Bühne des Daseinskampfes könnte die eingebaute Unberechenbarkeit einen gewissen Vorteil bieten. Ein Lebewesen, das seinen Reaktionen eine bestimmte Portion Zufälligkeit verleiht, hat unter Umständen gegenüber seinen Widersachern die Nase vorn. Der Hase, der verzweifelt vor einem Fressfeind flieht, schlägt einen kapriziösen Zickzackkurs. Die Motte, die in den "Radar" einer Fledermaus gerät, lässt sich torkelnd zu Boden fallen.

Die Tiere handeln wie ein menschlicher Boxer, der seine wahren Pläne durch Finten und Scheinhiebe unkenntlich macht, erklärt Geoffrey Miller vom Max-Planck-Institut für psychologische Forschung in München. "Fast jede Verhaltensstrategie wird wirksamer, wenn man sie mit Eigenschaften ausstattet, die für die evolutionären Widersacher unvorhersehbar sind." Am besten ist, wenn nicht einmal der Handelnde selbst weiß, was als nächstes kommt, damit er sich nicht ungewollt verrät. Der Kurs der U-Boote im Zweiten Weltkrieg wurde ausgewürfelt, um die Gegner im Dunkeln zu halten.

Rolf Degen

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