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Die DDR-Gezeitenmaschine im Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven.

© Eckhard Stengel

Ingenieurkunst: Wie die DDR mit einem Maschinenungetüm Ebbe und Flut vorhersagen wollte

Ebbe und Flut – das Wasser geht, das Wasser kommt. Aber wann genau? In der DDR wurde eine Riesenmaschine gebaut, die nicht so gut funktionierte wie erhofft und nach der Wende ins Museum kam.

Aus der Sicht von Nordseeurlaubern ist alles ganz simpel: Zweimal am Tag kommt die Flut, zweimal am Tag ist Ebbe. Wann genau, steht im Gezeitenkalender oder im Schaukasten der Kurverwaltung. Wäre die Sache tatsächlich so einfach, dann hätten DDR-Ingenieure vor über 60 Jahren keine acht Tonnen schwere Gezeitenrechenmaschine konstruieren müssen. Das 5,40 Meter lange und 2,20 Meter hohe Wunderwerk, gebaut in Potsdam und danach eingesetzt beim Seehydrographischen Dienst der DDR in Rostock-Warnemünde, steht heute im Deutschen Schifffahrtsmuseum (DSM) in Bremerhaven. Wenn Mitarbeiter Martin Weiss die Funktionsweise erklärt, dann kommt bei Landratten das Gefühl auf, die Berechnung der Gezeiten sei eines der letzten Rätsel der Menschheit. Da schwirren Begriffe durch die den Raum wie „Partialtiden“, „Cosinus-Überlagerungen“ oder „Mond-Perigäum“.

Das Problem bei Ebbe und Flut ist, dass sie durch mehrere sich überlagernde Faktoren beeinflusst werden. Sonne, Mond und Planeten – sie alle lassen ihre Anziehungskräfte spielen. Der Mond als Hauptakteur ändert ständig seine Bahn und wiederholt seinen Kurs erst nach 18,6 Jahren. Auch das macht die Vorhersage so kompliziert.

34 Einflussfaktoren kann der Gezeitenrechner berücksichtigen. Seine 34 Rechenwerke, die sogenannten Tidengetriebe, simulieren den Einfluss jeweils einer externen Kraft auf die Gezeiten. Weil sie miteinander verbunden sind, lassen sich die unterschiedlichen Einflüsse zu einem Gesamtwert zusammenfassen. Am Ende spuckt die Maschine eine Liste aus: mit allen rund 1400 Hoch- und Niedrigwasserzeiten eines Jahres für einen vorher festgelegten Hafen, einschließlich der zu erwartenden Wasserstände.

Nicht für jeden Hafen der Welt kann der Rechner die Gezeiten vorhersagen, aber für alle jene Orte, für die bereits jahrelange Erfahrungswerte vorliegen. Diese speziellen Ortsfaktoren werden vor dem Rechendurchgang an der Maschine eingestellt. Allein das kann anderthalb Stunden dauern.

Im Schneckentempo

Dann wird der Elektromotor für die Gezeitengetriebe angeworfen. Jedes von ihnen treibt ein Handrad an. Man sieht sie in Reih und Glied an der Außenseite der Maschine. Vier bis fünf Stunden lang drehen sie sich im Schneckentempo und bewegen sich auf und ab. Ein Stahlband verbindet sie miteinander, ähnlich wie bei einem Flaschenzug. Je nach Stellung der Räder verkürzt oder verlängert sich jener Teil des Bandes, der am Ende aus der Maschine herausragt. In älteren Rechnern wurde an dieser Stelle ein Stift angebracht. Der konnte auf einer rotierenden Papierwalze das Ergebnis notieren: als wellenförmige Grafik mit Bergen und Tälern, also mit Hoch- und Niedrigwasserzeiten. Je höher ein Berg, desto höher der Wasserstand. Die DDR-Maschine macht es anders. Statt einer Grafik druckt sie eine Zahlentabelle.

Vom Eingeben der Ortsfaktoren bis zum ausgedruckten Ergebnis dauert es 20 Stunden. Heute erledigen Computer dieselbe Aufgabe in Windeseile und können dabei auch noch den Einfluss von Stürmen und Versandungen mit berücksichtigen.

In ganz Deutschland wurden nur drei mechanische Gezeitenrechenmaschinen gebaut, die erste 1915/16 in Potsdam für die Reichsmarine – vor allem, weil deutsche U-Boote nicht bei Ebbe an feindlichen Gestaden stranden sollten. Das zweite Exemplar entstand im Auftrag der Nazis, das dritte und letzte von 1952 bis 1955 im Volkseigenen Betrieb Lokomotivbau „Karl Marx“ in Potsdam-Babelsberg und beim Babelsberger Feinmechanik-Werk des VEB Geräte- und Regler-Werke Teltow. Dort arbeitete ein Konstrukteur, der auch schon beim Bau der Nazi-Maschine mitgewirkt hatte – das machte die Sache einfacher.

Warum die DDR einen eigenen Rechner haben wollte, ist für Historiker Weiss leicht zu beantworten: Im Kalten Krieg wollte sie nicht länger auf die Daten des Deutschen Hydrographischen Instituts in Hamburg angewiesen sein, das 1945 auf Geheiß der Alliierten zunächst allein für die Gezeitenberechnung zuständig war. „Aber die Maschine“, erzählt Weiss, „erfüllte nicht die Erwartungen, die in sie gesetzt wurden.“ Und das, obwohl sie extra in einem klimatisierten Raum aufgestellt wurde, wegen des temperatur-empfindlichen Innenlebens. Letztlich griff der Osten für seine Militär- und Handelsflotte dann doch auch wieder auf Klassenfeind-Daten aus Hamburg zurück.

Mit dem Ende der DDR sollte auch der Rechner verschrottet werden. Als das DSM davon erfuhr, rettete es den Acht-Tonnen-Koloss. Zunächst wurde er in Einzelteile zerlegt, dann lagerte das Museum die Teile für ein Jahrzehnt ein. Erst als das DSM einen Anbau bekam, wurde auch der Rechner wieder zusammengebaut und ausgestellt –- eigentlich funktionsfähig, aber doch außer Betrieb und nur zum Anschauen.

„Von Weitem hat er den Charme eines Küchenschranks“, findet Historiker Weiss – eines Küchenschranks aus den 1950er Jahren. „Aber je näher man kommt, desto faszinierender ist er. Die Präzision, die Feinmechanik, die darin steckende Ingenieurskunst – das ist wirklich phänomenal.“

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