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Gewalt in den eigenen vier Wänden - kein seltenes Problem.

© dpa

Häusliche Gewalt: Zweite Hilfe

Eine spezielle Ambulanz der Charité unterstützt Opfer häuslicher Gewalt. Sie schließt eine Lücke, denn für Beratung haben die Ärzte oft wenig Zeit.

Die Nase der Frau ist unter einem dicken Verband versteckt – als hätte sie eine HNO-Operation hinter sich. In Wahrheit ist sie verletzt, das Jochbein war gebrochen, das Schlucken tat weh. Die Ärzte in der Rettungsstelle leisteten Erste Hilfe und wiesen die Patientin auf eine besondere Art der „zweiten Hilfe“ hin. Die Frau hat das dankbar angenommen. Und noch in der Nacht, von der Wohnung ihrer Freundin aus, auf den Anrufbeantworter der Gewaltschutzambulanz gesprochen.

Schon ein paar Stunden später sitzt sie in einem ruhigen Raum in der Weddinger Birkenstraße – in der ersten Gewaltschutzambulanz Berlins. Sie wurde im Februar mit Unterstützung der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz eröffnet und ist als rechtsmedizinische Untersuchungsstelle an die Charité angebunden. Seither wurden dort 90 Personen ausführlich untersucht, 40 Prozent davon Kinder. Außerhäusliche Gewalt trifft häufig auch Männer. Trotzdem sind die Erwachsenen, die auf eigene Initiative kommen, meist weiblich. Wie die junge Frau, an die Saskia Etzold sich erinnert. „Sie sprach nur mit heiserer Stimme“, erzählt die Rechtsmedizinerin und stellvertretende Ärztliche Leiterin der Gewaltschutzambulanz. „Am Hals hatte sie Abschürfungen und unterblutete Hautstellen – deutliche Hinweise dafür, dass sie gewürgt worden war. Es lag Lebensgefahr vor.“

„Wir können zum Glück nicht nur bei Verstorbenen, sondern auch bei Lebenden aus Wunden Geschichten lesen“, sagt Etzold. Die Spezialisten dokumentieren sie schriftlich und auf Fotos – für die Opfer. Damit etwas bleibt, wenn die sichtbaren Verletzungen verheilt sind. Kommt es später doch zu einer Anzeige, hat die professionelle Dokumentation vor Gericht Bestand. Zunächst können die Verletzten sich die Befunde nach Hause zuschicken oder, für maximal zehn Jahre, auch in der Ambulanz aufbewahren lassen.

Neun Frauen starben 2013 in Berlin an den Folgen häuslicher Gewalt

„Frauen, die von Gewalt betroffen sind, suchen häufig erst medizinische Einrichtungen auf“, sagt Dagmar Reinemann, Koordinatorin für Gewaltschutz an der Charité. Sie ist überzeugt, dass das neue niedrigschwellige, kostenfreie und diskrete Angebot Leben retten kann. Die Gewaltschutzambulanz schließt eine Lücke. Zwar werden Ärzte und Pflegekräfte, die in den drei Notaufnahmen der Charité arbeiten, seit Jahren geschult, aufmerksam zu sein, Verletzungen zu erkennen, die Betroffenen auf häusliche Gewalt anzusprechen und Unterstützung anzubieten. Inzwischen ist das Thema auch Bestandteil der Lehrpläne. Die Rettungsstellen verfügen über ein standardisiertes Verfahren, um sexuelle Gewalt rechtssicher zu dokumentieren. Doch natürlich geht die Versorgung der Wunden vor, bleibt meist wenig Zeit für eingehende, Vertrauen bildende Gespräche. „Wir dagegen haben eine Stunde für die Untersuchung zur Verfügung“, so Etzold. Bei der Gelegenheit machen die Ärzte auch auf rechtliche und psychosoziale Beratungsmöglichkeiten aufmerksam, bieten ihren Patienten sogar an, gemeinsam dort anzurufen.

Häusliche Gewalt ist meist ein chronisches Problem. In der Berliner Kriminalstatistik wurden vergangenes Jahr 15 971 Fälle registriert, darunter 1474 Mal gefährliche und schwere Körperverletzung. Die Dunkelziffer liegt um ein Vielfaches höher. Von den Frauen, die bisher in die Gewaltschutzambulanz kamen, habe jede zehnte Gewalt gegen ihr Leben erfahren, so Reinemann. Meist wurden sie gewürgt. Neun Frauen starben 2013 an den Folgen von Gewalt im privaten Umfeld.

Eine Rund-um-die-Uhr-Ambulanz, in der auch die frischen Würgemale dokumentiert werden, sollte in den Augen von Etzold der nächste Schritt sein. „Wir haben in Berlin schon gute Strukturen, doch sie sind über die ganze Stadt verteilt. Deshalb wissen viele Opfer nicht, wohin sie sich wenden sollen.“ Und noch eines ist der Rechtsmedizinerin wichtig: „Zu uns kommen Menschen aller Nationalitäten und Schichten.“ In den sogenannten bildungsnahen Schichten sei die häusliche Gewalt aber bisweilen perfider, die Schläge würden überlegter verteilt. „Die Wunden sind dann erst zu sehen, wenn die Frau ihr Kostüm auszieht.“ Die Nase ist nicht gebrochen.

Gewaltschutz-Ambulanz, Termine unter Tel. 450 57 02 70, www.gewaltschutz- ambulanz.charite.de

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