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Manche mögen’s scharf. Gäste eines Hot-Pot-Restaurants in der zentralchinesischen Stadt Chongqing.

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Exotische Küche: Chinesisch für Fortgeschrittene

Unser Autor hat sich verliebt – in diese Küche. Die Wahrheit über tausendjährige Eier, Ingwer-Auberginen und Nummer 47 süß-sauer.

Es muss Ende der 90er Jahre gewesen sein. Aus meinem Heimatort war ich gerade ins große Köln umgezogen, wo es viel Aufregendes zu entdecken gab, darunter auch „Nr. 47 süß-sauer“. So hieß das Gericht, das ich eines Tages in einem China-Restaurant am Eigelstein bestellte – dem ersten, das ich je betrat. In meinem Heimatort gab es damals keine Chinesen. Man wusste auch nicht viel über sie. Eigentlich nur, dass sie Hunde aßen.

„Nr. 47 süß-sauer“ bestand aus frittierten Schweinefleischkügelchen, serviert in einer grell-orangen Sauce, die mir angemessen exotisch vorkam. Neugierig probierte ich später auch „Nr. 33“ (Peking-Ente), „Nr. 7“ (Frühlingsrollen) und all die anderen Klassiker der deutschen China-Küche. Es sollte Jahre dauern, bis ich begriff, dass diese Gerichte nichts, aber auch gar nichts mit chinesischem Essen zu tun haben.

Es war Mitte der nuller Jahre. Mit der Transsibirischen Eisenbahn fuhr ich von Moskau nach Peking. Am Abend meiner Ankunft in China lud mich eine deutsche Bekannte in ein Restaurant ein. Danach war nichts mehr wie zuvor. Heute, zehn Jahre und zwei weitere China-Reisen später, habe ich immer noch nicht das Gefühl, die chinesische Küche wirklich gut zu kennen – dafür müsste man dieser sicher vielseitigsten aller Nationalküchen wohl ein ganzes Leben widmen. Verstanden habe ich aber, dass dieses Leben ein himmlisches wäre.

Die sechs Wochen, die ich bei meinem ersten Besuch in China verbrachte, verbrachte ich essend. All die hehren gesellschaftspolitischen Reisemotive, die ich mir zu Hause beim Packen meines Rucksacks zurechtgelegt hatte, verblassten, während ich mich in Peking durch eine Straße nach der anderen futterte. Alle Welt begann damals über China zu reden, über Wirtschaftsmacht, Investitionspotenziale und Exportquoten. Warum, fragte ich mich, redete kein Mensch über chinesischen Gurkensalat? Über Ingwer-Auberginen, Lammspieße nach Xinjiang-Art, tausendjährige Eier, Pekinger Nudeltöpfe und all die anderen unfassbar leckeren Dinge, die mich in jenen ersten Wochen schier überwältigten?

Zumal die Chinesen, die ich traf, über kaum etwas anderes redeten. Schon zur Begrüßung stellten sie die Standardfrage: „Hast du gegessen?“ Verabredungen trafen sie nicht zum Biertrinken, sondern zu gemeinsamen Mahlzeiten, bei denen sie über die Zusammensetzung und Präsentation der Speisen diskutierten, sich gegenseitig ausgesuchte Bissen zuschoben, Erinnerungen an vergangene und Träume von zukünftigen Mahlzeiten beschworen, Restaurantadressen austauschten, kulinarische Trends analysierten.

Anfangs verstand ich wenig bei solchen Gesprächen, auch wenn sie mir zuliebe auf Englisch geführt wurden. Mangels Erfahrung kam mir alles, was ich aß, chinesisch vor – so unterschiedlich die einzelnen Gerichte auch schmeckten, ich begriff sie alle als Teil einer übergeordneten Nationalküche. Erst später verstand ich, dass chinesisches Essen in Wirklichkeit aus einer unüberschaubaren Vielfalt von Regionalküchen besteht, die variantenreicher ist als alle europäischen Landesküchen zusammengenommen. Wie sollte es auch anders sein in einem Land, das von Wüste bis Regenwald so ziemlich alle Klimazonen umfasst? Langsam lernte ich zu unterscheiden: zwischen den scharfen, von Chili und Sichuan-Pfeffer geprägten Aromen des Südwestens, den ölig-süßen Gerichten der Ostküste, den naturbelasseneren Zutaten aus Südchina, den muslimisch geprägten Lamm- und Brotgerichten des Nordwestens, der selbst für chinesische Verhältnisse exzentrischen Fleischküche Guangdongs, dem Reis des Südens, den Nudeln des Nordens.

Klar, dass mich solche Differenzierungen am Anfang noch überforderten – ich hatte genug damit zu tun, mein europäisch verengtes Verständnis von „essbar“ zu erweitern. In Schanghai lernte ich während meiner ersten Reise eine Gruppe Chinesen kennen, die mich in ein „Hot-Pot“-Restaurant mitnahmen. In der Mitte des runden Tischs war ein Kessel montiert, gefüllt mit einem höllisch scharfen Sud, in den nach und nach die unglaublichsten Zutaten gekippt wurden. Jedes Mal, wenn wir die gegarten Fleisch- und Gemüsestücke mit unseren Essstäbchen aus dem Sud fischten, sahen die Chinesen neugierig in meine Richtung. Sie gaben sich Mühe, meine Grenzen zu testen. Geschnetzelte Entenhaut schmeckte überraschend gut, das Schweinehirn war annehmbar. Schwerer tat ich mich mit Scheiben aus gestocktem Blut, aber ich ließ mir nichts anmerken. Verschwörerisch steckten die Chinesen die Köpfe zusammen. Wenig später trug der Kellner eine Servierplatte an den Tisch, bei deren Anblick mir der Atem stockte. „Ist es das, wofür ich es halte?“, fragte ich. Die Chinesen kicherten. Vor meinen Augen lag ein kolossaler Rinderpenis.

„Die müssen dich gemocht haben“, sagte Jahre später ein chinesischer Freund, dem ich von dem Abend erzählte. „So ein Penis ist nicht billig.“ Als Student, erinnerte er sich, habe er in einem Provinzrestaurant gejobbt, in dem die örtliche Partei-Elite gern Betriebsfeiern abhielt. Mitunter riefen die Kader vorher an, um Rinderpenisse zu bestellen, die dann im Kühlschrank eingelagert wurden, versehen mit dem Namen des jeweiligen Bestellers: „Ortsvorsteher Li“, „Parteisekretär Wu“ und so weiter. Es muss ein bizarrer Anblick gewesen sein.

Probiert habe ich den Penis damals nicht – ich brachte es nicht über mich. Heute bereue ich das ein bisschen. Bald darauf machte ich es mir nämlich zur Regel, grundsätzlich alles zu kosten, was man mir vorsetzt. Nicht immer war das klug, aber die Sorge, eine geschmackliche Offenbarung zu verpassen, verdrängte bei mir bald jeden Ekel. Hühnerkrallen etwa sehen fies aus, schmecken aber nicht schlecht. In ihren Genuss kam ich nur, weil ich sie auf der Abbildung in der Speisekarte mangels englischer Übersetzung für Wurzelgemüse gehalten hatte. Bei einer anderen Blindbestellung bekam ich ein Gericht serviert, dessen zentrale Zutat mir bis heute ein Rätsel ist. Da es schmeckte, schob ich kauend die Frage beiseite, ob es sich nun um Pilze, Innereien oder eine der zahllosen Zubereitungsarten von Tofu handelte.

Manchmal frage ich mich, ob ich Hund probieren würde. Ich habe die leise Hoffnung, dass mir diese Prüfung erspart bleiben wird, denn entgegen meiner jugendlichen Vorstellungen bin ich nie einem Chinesen begegnet, der Hund isst. Viel öfter als mit exotischen Tieren kam ich ohnehin mit exotischen Teilen unexotischer Tiere in Berührung: Entenhälse zum Beispiel sind ein beliebter und leckerer Snack zum Bier. Und in Peking lernte ich einmal einen deutschen Fleischer kennen, der in China eine Rinderschlachterei leitete. In der Anfangszeit, erzählte er, habe er stets das Gefühl gehabt, dass im Betrieb etwas fehlte. Erst nach Monaten begriff er, was er vermisste: den Container für die Fleischabfälle. Es gab ihn nicht. Warum? Weil es keine Fleischabfälle gab. Die Rinder wurden komplett verwertet, von den Nüstern bis zur Schwanzspitze.

Manche Erscheinungsformen dieses ganzheitlichen Ansatzes sind gewöhnungsbedürftig. Entenzungen etwa fühlen sich so seltsam im Mund an, dass ich sie dort lieber nie mehr haben will. Für andere aber macht genau das ihren Reiz aus: Das „Mundgefühl“ ist in China eine wichtige Geschmacksdimension, die sich Europäern schwer erschließt. Wer sie nicht kennt, wird nie verstehen, was Quallen oder Seegurken attraktiv macht. Chinesen hingegen können ausführlich erklären, wie toll es sich anfühlt, mit der Zunge und den Zähnen das Fleisch von den Knorpeln einer Hühnerkralle zu trennen.

„Wir Chinesen haben keine Kirche“, sagte einmal ein Freund aus Schanghai zu mir. „Essen ist unsere Religion.“

Authentisches chinesisches Essen gibt es in Berlin bei: „Tian Fu“ (Uhlandstraße 142, Wilmersdorf, Hot-Pot und Sichuan-Küche), „Good Friends“ (Kantstraße 30, Charlottenburg, kantonesisch), „Long March Canteen“ (Wrangelstraße 20, Kreuzberg, Fusion), „Peking-Ente“ (Voßstraße 1, Mitte, Sichuan-Küche), „Yumcha Heroes“ (Weinbergsweg 8, Mitte, Teigtaschen).

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