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2,5 Millionen Tonnen Schutt müssen aus den betroffenen Gemeinden weggeräumt werden.

© dpa

Ein Jahr nach dem Erdbeben in Italien: Leben in den Trümmern von Amatrice

Ein Jahr nach den schweren Erdbeben in Italien liegen noch riesige Schuttmengen herum. Die Einwohner von Amatrice und Norcia sind verbittert.

Enzo Bizzoni sitzt mit Freunden und Bekannten in der „Bar Rinascimento“ an der Hauptstraße wenige Meter vor dem Ortseingang von Amatrice. Es herrscht viel Betrieb an diesem strahlenden Spätsommertag: „Es sind viele Einheimische unterwegs, aber auch zahlreiche Römer, die hier früher ihre Ferienhäuser hatten und zu uns heraufkommen – aus Solidarität, oder auch nur, um zu sehen, was passiert“, sagt der 58-Jährige.

Amatrice ist auch zum beliebten Ziel von Schaulustigen geworden: Bürgermeister Sergio Pirozzi musste ein „Selfie“-Verbot erlassen und den Katastrophen-Touristen in Erinnerung rufen, dass an diesem Ort mehr als 200 Menschen starben. Insgesamt gab es in der Region fast 300 Todesopfer, hunderte weitere wurden verletzt.

Die „Bar Rinascimento“ befindet sich in einem der wenigen Gebäude, die in Amatrice beim Beben vom 24. August 2016 unversehrt geblieben sind. Sie ist erst vor Kurzem eröffnet worden. Der Name ist Programm: „Rinascimento“ bedeutet Wiedergeburt. Hier treffen sich Einheimische, Zivilschützer und Feuerwehrmänner. „Es ist wichtig für uns, dass wir uns treffen und austauschen können. Das Erdbeben hat tiefe Wunden hinterlassen. Sie schmerzen etwas weniger, wenn man sich austauschen und sein Leid teilen kann“, sagt Bizzoni.

Im Erdbebengebiet wurden 240.000 Häuser zerstört

Von Wiedergeburt ist in Amatrice allerdings wenig zu sehen. Das, was einst eine Kleinstadt mit 2000 Einwohnern war, ist nach wie vor ein Trümmerfeld. Im ganzen Erdbebengebiet Mittelitaliens wurden 240.000 Häuser zerstört oder beschädigt; aus den betroffenen Gemeinden müssen 2,5 Millionen Tonnen Schutt weggeräumt werden, davon eine Million in Amatrice. Abtransportiert sind Schätzungen zufolge erst zwölf Prozent. „Seit dem Beben sehen wir hier sehr viel mehr Ordnungskräfte und Soldaten, welche die abgesperrte ,rote Zone‘ sichern, als Bauarbeiter“, sagt Bizzoni verärgert. Bevor die Schuttberge beseitigt sind, ist an Wiederaufbau gar nicht zu denken.

Dass die Arbeiten so schleppend vorangehen, hat bei der betroffenen Bevölkerung in den vergangenen Wochen und Monaten zu Verbitterung und Protestkundgebungen geführt. Die Verzögerungen lassen sich aber zum Teil begründen: Die Arbeiten wurden durch insgesamt 70.000 Nachbeben erschwert, die Sicherung der noch vorhandenen Bausubstanz hatte Priorität. Zudem befindet sich im Schutt auch Asbest und anderer Sondermüll. Für die Entsorgung müssen Spezialfirmen beauftragt werden. Um zu verhindern, dass sich die Mafia einmischt, gestalteten sich die Ausschreibungen langwierig. Zu all dem kam in der Region der härteste Winter seit Menschengedenken mit zwei Metern Schnee, der die Aufräumarbeiten wochenlang lahmgelegte.

Weniger schwer getroffen als Amatrice wurde die Kleinstadt Norcia in Umbrien, wo die Erde am 30. Oktober bebte. Zwar wurde die berühmte San-Benedetto-Kathedrale weitgehend zerstört, aber es gab keine Toten, und trotz der beträchtlichen Gebäudeschäden stand der größte Teil der prächtigen mittelalterlichen Stadt noch. Aber auch in Norcia liegen noch große Trümmermengen herum, Der Wiederaufbau der Kathedrale wird noch Jahre dauern und Millionen verschlingen. Immerhin: Ein großer Teil des historischen Zentrums konnte inzwischen wieder für die Bewohner und auch für einige Geschäft geöffnet werden.

Viele Menschen sind noch behelfsmäßig untergebracht

„Wir hätten, wie in L’Aquila nach dem Beben von 2009, ebenfalls Retortensiedlungen errichten können und die Leute erst nach dem vollständigen Wiederaufbau wieder in die Stadt zurückkehren lassen“, sagt Umbriens Regionalpräsidentin Catiusha Marini. Doch wie das Beispiel von L’Aquila zeige, dauere der Wiederaufbau viele Jahre, vielleicht Jahrzehnte. „Wir verfolgen deshalb eine andere Strategie: Wir öffnen eine ,rote Zone‘ nach der anderen, sobald wir es verantworten können. Denn eine Stadt besteht nicht nur aus Gebäuden, sondern vor allem aus Menschen.“ Für mehr als 800 Familien, die auf absehbare Zeit nicht in ihre Wohnungen zurückkehren können, hat die Region Umbrien in unmittelbarer Nähe der betroffenen Orte Fertighäuser gebaut.

Auch in Norcia wohnen immer noch zahlreiche Einwohner in Containern, Behelfsunterkünften oder bei Verwandten. Andere, wie der Rentner Aldo Agostini, sind in ihre Häuser zurückgekehrt, obwohl sie es eigentlich nicht dürften. „Die Behörden haben die Häuser in drei Kategorien eingeteilt: A bedeutet bewohnbar, B bedeutet bewohnbar, aber nicht in der Nacht, C bedeutet unbewohnbar. Mein Haus fällt in die Kategorie B, aber ich schlafe dort. Sollen mich die Carabinieri doch abholen“, sagt Agostini. Er weiß, dass die Carabinieri das nicht tun werden. Gleichzeitig wirft er den Behörden vor, Leute wie ihn vergessen zu haben.

Vorlage für den Wiederaufbau sind Pläne aus dem Mittelalter

Die Angst, vergessen zu werden, kennen auch die Einwohner von Amatrice und der anderen Dörfer, die beim Beben dem Erdboden gleichgemacht wurden. Die Regierung unter dem damaligen Ministerpräsidenten Matteo Renzi hatte versprochen, dass alle Orte wieder aufgebaut würden – „wo sie waren und wie sie waren“. Daran glauben in Amatrice nur noch wenige. „Wie soll das denn funktionieren? Hier steht ja nichts mehr, hier ist alles weg“, sagt Enzo Bizzoni. Viele Einwohner seien schon nach Rom oder in die nahe Provinzhauptstadt Rieti gezogen. Vorlage für den Wiederaufbau sollen nun Pläne aus dem Mittelalter bilden – als Amatrice noch deutlich kleiner war.

Tatsächlich stellt sich bei den schwer verwüsteten Gemeinden wie Amatrice die Frage, warum sie wieder aufgebaut werden sollen. Die Orte bestanden zu einem großen Teil aus Ferienhäusern, die nur im Sommer bewohnt waren. In dem weitgehend zerstörten Ort Campi in der Nähe von Norcia lebten vor dem Beben beispielsweise nur noch acht Menschen ständig. „Der vollständige Wiederaufbau dieser Dörfer in den Bergen, so schön sie auch waren, ergibt eigentlich keinen Sinn“, sagte auch unlängst der Bischof von Rieti, Domenico Pompili.

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