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Attila Dézsi (oben) und sein Team.

© Projekt Dézsi

37 Jahre später: Suche nach Überresten in Gorleben

Auf Knien rutschen die Archäologen mit ihren Pinselchen durch den Wald von Gorleben. Sie suchen nach Überresten der „Republik Freies Wendland“ – und finden mehr als erwartet.

Bauernschlau fielen damals die Bäume der Waldarbeiter beim Fällen in die falsche Richtung über die Zufahrtswege und versperrten der Staatsgewalt den Weg. Hatten sie im Wendland auch die Schwerkraft außer Kraft gesetzt? Es fanden ganz plötzlich, es war mitten in der Schonzeit, im Wald lustige Jagdgesellschaften statt, als es darum ging, zu verhindern, dass Gorleben das Endlager für den deutschen Atommüll würde. Zwar stehen nun, 37 Jahre später, hohe Fichten hier im Wald, aber noch immer ist kein Gras über die Sache gewachsen.

Rotweißes Flatterband säumt eine Stelle, in deren Mitte eine Plane über etwas Unebenem ausgebreitet liegt. Es sieht aus wie ein Tatort. – „Es ist ein Tatort.“ Attila Dézsi lässt die Schiebetür des grauen Transporters zurücksirren: Auf der Ladefläche liegen der Laptop, das Vermessungsgerät, Eimer, Regenplanen, Proviant, Kellen, Kamera und Funkgeräte. Es ist das Arsenal eines Archäologen. Attila Dézsi, 29 Jahre alt, hat ein zweijähriges Promotionsstipendium bekommen, um die „Republik freies Wendland“ wieder auszugraben. Mitte Oktober ist die Temperatur gerade zweistellig. Sonnenaufgang: 7.35 Uhr, Sonnenuntergang: 18.27 – das Tageslicht dazwischen beleuchtet ein Stück Wald nicht weit hinter Trebel Richtung Gorleben.

Als am 3. Mai 1980 genau hier Hunderte Menschen auf die Tiefbohrstelle 1004 ziehen, um sie dauerhaft zu besetzen, wollen sie die Bohrungen zur Erkundung des Endlagers in Gorleben verhindern. Sie haben Zelte und Baumaterial dabei. Es entsteht ein legendäres Dorf mit fast 120 Hütten, irgendwo zwischen Indianercamp und Luftschloss. Nach 33 Tagen wird die Republik am 4. Juni 1980 von Polizei und Bundesgrenzschutz geräumt, mit mehr als 7000 Mann ist es die bis dahin größte Polizeiaktion der Nachkriegsgeschichte.

37 Jahre später wird wieder gegraben

Attila Dézsi bringt sein Messgerät in Stellung. 37 Jahre später wird hier wieder gegraben. Dieses Mal keine zwei Meter tief. Und doch führen diese Bohrungen weit, hinein in den Kern des deutschen Atom-Protests, wo, wenn man so will, auch das erste Kapitel der Energiewende geschrieben wurde.

Mit dem Geoinformationssystem GIS hatte Dézsi alle verfügbaren Karten übereinandergelegt. Er hat die Anomalien im Baumbewuchs, die er auf heutigen Luftaufnahmen fand, mit Bildern des Dorfes in Deckung gebracht. Weshalb Dézsi nun auf sieben Millimeter genau den Standort jeder Hütte bestimmen kann.

Die Helfer Maren, Anne und Christoph, die schon auf den Knien liegen, haben bronzezeitliche Grabungen mitgemacht und auch mittelalterliche. Sie buddeln ja nicht einfach drauflos. Sie legen Schnitte an in der Landschaft, kartografiert, genau zu verorten. Zehn Zentimeter Aushub, dann Bestandsaufnahmen und wieder zehn Zentimeter. Schon knapp unter der Humusschicht werden sie fündig.

Die Sorgfalt ist sagenhaft, mit der Gonzales mit dem Pinsel den Sand von einer halb aus dem Grund ragenden Konservendose wischt. Daneben wölbt sich ihm ein gefüllter, blauer Plastiksack aus der Erde entgegen. Was kann man aus Zivilisationsmüll schließen? Raider heißt jetzt Twix? Sonst ändert sich nix?

Die Zeitgenössische Archäologie ist eine junge Strömung – und scheint ein Widerspruch in sich. Wenn die Zeitgenossen noch leben, warum nicht einfach die fragen? – Attila Dézsi hat in Wien und Hamburg Archäologie studiert. Er hat 2011 in Österreich an einer Grabung im KZ Mauthausen teilgenommen und das Projekt eines Engländers bewundert, der ein Obdachlosenlager ausgrub. Andere Erkenntnisse sind möglich, wenn man Zeitzeugen mit den Funden konfrontieren kann.

Alle waren einbezogen in den Widerstand

Gonzales aus Kolumbien hat schon in Argentinien geholfen, Massengräber der „Desaparecidos“ freizulegen, der Verschwundenen der letzten Militärdiktatur. Auch Gräber aus dem spanischen Bürgerkrieg hat er bearbeitet. Bisher richtete sich das Interesse meist auf Massaker, Tatorte, Konflikte. Dies ist das erste Projekt der Zeitgenössischen Archäologie zum Alltagsleben in Deutschland.

Ein Wagen hält. „Attila?“, fragt ein Mann. „Attila wie der Hunnenkönig?“ Ein Kämpfer von damals, der im Zusammenhang der Archäologen jetzt „Zeitzeuge“ heißt, wirft ein Notzelt ab, das vor Regen schützen kann. Es ist produziert in Kalifornien, aufzubauen in wenigen Sekunden. „Einfach die Metallscheren auseinanderziehen.“ Es ist eine Spende und Sympathiebekundung der Atomgegner. Die um 37 Jahre gealterten wendländischen Protestteilnehmer sind immer noch jederzeit in der Lage, in Sekundenschnelle draußen ein Notzelt aufzubauen.

Die ganze Gegend war damals einbezogen in den Widerstand. Hamburger Atomkraftgegner heirateten in wendländische Bauernfamilien ein. Für viele ist ihr Protest zu einem Lebensthema geworden. Der Widerstand hat die ganze Gegend geformt, sogar die Bürgerinitiative existiert noch. Zuerst lachten sie, als sie von Dézsis Projekt hörten. Ausgrabung? Sie waren doch noch quicklebendig! Dann sympathisierten sie. Jetzt spenden sie. Sie unterstützen die fünf dankbaren Archäologen mit Bio-Produkten und teurem Tofu. Wurden sie nicht damals auch mit Lebensmitteln unterstützt? 

Keine Frust-, sondern eine Lustveranstaltung

Wer sich hineinversetzen will in die gezählten Tage der Freien Republik von 1980, muss nach Lüchow ins Gorleben-Archiv fahren. Attila Dézsi hat vor dem ersten Spatenstich hier recherchiert, um die Orte zu bestimmen, an denen er nun graben kann. Zu den Schätzen, die Dézsi entdeckte, zählt auch eine Luftaufnahme des Hüttendorfes, die es ihm ermöglichte, die Standorte jeder einzelnen der mehr als 100 Hütten in seine Karten zu übertragen. Mitten im Herbst 2017 kann man hier eintauchen in die aufgekratzte Stimmung des 33 Tage dauernden, anti-atomaren Camps in einem freien, heißen Sommer gegen die Konventionen. Ein gesellschaftliches Phänomen dröselt sich in die Beiträge Einzelner auf: Leserbriefe, Anzeigen, Fotoalben, Korrespondenzen mit Polizei und Staatsgewalt, Aufrufe, Flugblätter – in lichtundurchlässigen, säurefreien Kartons verschlagwortet. Es gibt sogar Mitschnitte des Camp-eigenen Radiosenders. Aus den Bildbänden blicken einem die entspannten Gesichter junger Frauen mit ihren Babys entgegen, da schaukeln Leute in Hängematten, abenteuerliche Hauskonstruktionen aus Baumstämmen, Lehmputz und alten Fenstern ragen in den wolkenlosen Himmel. Anhängerweise bringen die Bauern Stroh zum Verputzen, Baumaterial und Lebensmittel bis an den Schlagbaum der Republik. Dort, die Mülltrennung. Da, der glatte Gerhard Schröder als Juso-Chef zu Besuch. Hier das „Freundschaftshaus“, das 400 Leute fasst und zum Empfang der Besucher gedacht ist. Es gibt eine eigne „Klinik“, eine Schiffschaukel und ein Frauenhaus, gebaut aus Glasflaschen. Längst geht es nicht mehr nur um das Atomendlager. Es gibt ja so vieles, was man besser machen kann in dieser Gesellschaft.

Attila Dézsi vor Bildern des Protestcamps von 1980.
Attila Dézsi vor Bildern des Protestcamps von 1980.

© Philipp Schulze/dpa

Für über 800 Leute wird täglich gekocht. Die Energie liefern Windräder und Sonnenkollektoren. Schnell ist ein Gemüsegarten angelegt. Die Leute, die nachts Brandwachen schieben, sonnen sich tagsüber auf den Dächern. Sie veranstalten Lesungen, Musik, politische Diskussionen, schwitzen in der Sauna und gehen zum Friseur. Entscheidungen, zum Beispiel über die heiß diskutierte Gewaltfreiheit, werden nur im Plenum getroffen. Das hier ist keine Frust-, sondern eine Lustveranstaltung. Der Ton der Plakate ist übermütig, im Pass steht: „Dieser Pass ist gültig, solange sein Inhaber noch lachen kann“. Und neben der Eingangstür des Lüchower Archivs ist sogar der aus Holz geschnitzte Passstempel der Republik noch erhalten. Daneben ein Stempelkissen, das ist – zack! – einsatzbereit wie damals.

Am besten dokumentierter Protest der Bundesrepublik

Schon ohne Dézsis Grabungen gilt der Atomprotest als der am besten dokumentierte Protest der Bundesrepublik. Man kann sich festlesen, die Schilderungen sind so lebendig, dass man glaubt, die Protestler in ihren Schlafsäcken atmen zu hören. Was also tun wir noch im Wald?

Die Temperaturen sind knapp zweistellig, es ist feucht, der Wind pfeift. Füße, die jetzt schon kalt sind, werden bis zum Abend nicht mehr warm. Die Grabungsstellen sehen aus wie Wunden.

Attila, Anna, Christoph, Maren und Gonzales liegen wieder auf den Knien und „putzen“ ihre Stelle mit einer kleinen, dreieckigen Kelle. Zentimeterweise schaben sie den Waldboden auf, bis zwischen dem Wurzelwerk plötzlich ein Widerstand knistert: ein Fund! Und was ist es? Einer dieser weiß gerillten, unsterblichen Plastikbecher, wie es sie damals schon gab und heute noch gibt. Zerknautscht, aber erkennbar.

Muss man das Umweltbewusstsein der Alternativen neu überdenken?

Das Mittagessen besteht aus Bohnen aus der Dose, frischer Guacamole und kaltem Gemüse mit Zsatziki. „Vermutlich stammt der Becher nicht aus der Kernzeit“, sagt Attila Dézsi. Mit „Kernzeit“ meint er die 33 Tage des Hüttendorfes. Danach wurde um die Tiefbohrstelle eine Mauer aus Fertigelementen gezogen und eine Straße in den Wald gegossen, die die Baufahrzeuge tragen konnte. Arbeiter machten hier Pause, und die Bohrstelle wurde ständig von Polizisten bewacht.

Dafür, dass der Becher erst später hinzukam, spricht ein historisches Schwarzweißbild, das Dézsi jetzt aus seinem Rechner fingert: Tatsache, da sitzen zwei Beamte vom Bundesgrenzschutz auf einer Holzbank vor dem umzäunten Gelände. Zu ihren Füßen liegen: gerillte, weiße Plastikbecher. Geknautscht, aber erkennbar.

Verschüttete Erinnerungen

Angenommen, es handelt sich also um einen Kaffeebecher der Staatsgewalt. Er saß unter einer 20 Zentimeter dicken, von Heide durchwurzelten Humusschicht im Sand. Ein auf Staatskosten beschaffter Plastikbecher eines staatlich bezahlten Räumkommandos, der nun, mehr las 30 Jahre später, mit staatlichen Forschungsgeldern wieder ans Licht geholt wird. Ist das eine Ironie der Geschichte oder wissenschaftlicher Fortschritt?

Wenn ein Wissenschaftler etwas erforscht, geht er in Archive, sagt Dézsi. Glückliche können noch mit Zeitzeugen sprechen. Aber Quellen, sagt Attila, sind immer selektiv und oft widersprüchlich. Man muss sie abgleichen. Sonst hat man es mit Verklärung oder auch Verteufelung zu tun. Archäologen untersuchen die Orte des Geschehens selbst, so gesehen seien die Funde die dritte Säule der Erkenntnis. Mit ihnen lassen sich dann Widersprüche finden oder auflösen.

Aber eigentlich hofft er auf verschüttete Erinnerungen, die an die Oberfläche kommen, wenn er Zeitzeugen mit ihnen konfrontiert. Von denen hätte sich wohl niemand vorstellen können, dass hier fast 40 Jahre später Wissenschaftler auf den Knien liegend ihre Hinterlassenschaften freipinseln. Roswitha Ziegler lacht noch immer etwas ungläubig und richtet ihre Kamera auf Attila Dézsi. Für Dézsi ist das alles hier Geschichte. Für Roswitha Ziegler ist es Biografie. Sie war 1980 dabei, ein Jahr später erschien ihr Dokumentarfilm „Ein Traum von einer Sache“. Sie hat die Wendländische Filmkooperative mitbegründet, und jetzt dokumentiert sie das Ausgrabungsprojekt für ihren siebten Film über den Gorleben-Protest. Ziegler erinnert sich an die Hitze Ende Mai 1980, an den Sand auf der für die Bohrungen frisch gerodeten Fläche. Sie erinnert sich an die Anziehungskraft des Camps, deren spontan bewegten Teilnehmer noch nichts von der späteren Bedeutung ahnen konnten.

„Kann man Gefühle ausgraben?“, fragt Ziegler jetzt. Denn das ist ja die eigentliche Frage des Projekts, wenn die Fundstücke bei den Zeitzeugen verschüttete Erinnerungen freisetzen sollen. Gefühle, die noch in keinem Archiv vermerkt sind.

Das sagenhafte Korrekturpotenzial der Demokratie

Attila Dézsi ist im Kontakt mit einem Mann, der bei der Räumung am 4. Juni 1980 als Polizist dabei war. Sie haben lange E-Mails ausgetauscht. Seitdem er wieder über die Zeit nachdenkt, schreibt der Polizist, höre er in den Nächten das Dröhnen der Bulldozer. Dann kann er nicht mehr schlafen.

Man muss sich den Tag infernalisch vorstellen: 7000 Polizisten und behelmte Beamte vom Bundesgrenzschutz umstellen um 6.25 Uhr das Camp. 1500 Besetzer in Sitzblockade werden davongetragen unter dem Lärm der Raupenfahrzeuge und den über dem „Dorf“ kreisenden Hubschraubern. Der Polizist ist verantwortlich dafür, in jede einzelne Hütte zu gehen, um sicherzugehen, dass sich niemand mehr darin befindet. Dann gibt er das Okay für die Zerstörung. 40 Jahre später schreibt er dem Archäologen Dézsi von seiner Angst, einen Menschen zu übersehen. Auch dieses Zeugnis muss man einen Ausgrabungserfolg nennen.

„Haben die die gleichen Gefühle wie wir?“ fragt die Filmemacherin Roswitha Ziegler skeptisch. Skeptisch noch nach so vielen Jahren. Schließlich hatten sie sich doch für einen unter allen Umständen gewaltlosen Widerstand entschieden, auch um damit die Gewalt des Staates zu entlarven. „Dieser Polizist schon“, sagt Dézsi und lächelt.

Der Atomprotest um Gorleben handelt vom Mut Einzelner, von der Wirkmacht der Vielen und nicht zuletzt vom sagenhaften Korrekturpotenzial der Demokratie, die ihre Irrtümer revidieren kann, wenn sich nur genügend Leute finden, ihre Instrumente auszureizen. In diesem Jahr wurde das Standortauswahlgesetz verabschiedet, mit Dank an die Protestler. Es regelt die neu einzuleitende Standortsuche für ein Endlager nach wissenschaftlichen und nicht politischen Kriterien. In diesem Sinne nimmt Attila Dézsi bei seinen Tiefenbohrungen auch Gewebeproben der Demokratie. Nach zwei Wochen Grabungszeit hat Dézsi mehr als 700 Funde nach Hamburg gefahren.

Im März wird seine Suche weitergehen

Am Samstag nach der ersten Grabungswoche kamen die ersten Zeitzeugen, um sich den Ort anzusehen. Man hat ihnen die Ausgrabungen gezeigt – der Wissenschaftler Dézsi registrierte die entsetzten Blicke, als sie die Plastiklöffel und Konservendosen sahen: „Nein, das waren wir nicht“, sagten sie empört. „Das wollt ihr uns jetzt unterjubeln, das haben wir nie benutzt.“

Dézsi erzählte ihnen dann, dass diese eine Stelle wahrscheinlich eine Mülldeponie der Polizisten gewesen ist. Sie hatten auch noch eine Gasmaske gefunden und Kabelbinder. Weiter drinnen im Wald, wo die Hütten standen, hatten sie ganz andere Dinge gefunden: Holz mit angenagelter Dachpappe, das tatsächlich zu einer Hütte gehört haben könnte. Besteck. Vorratsgefäße, die auf Gemeinschaftsverpflegung schließen lassen. Einen Kanister für Kochöl. Da drehte sich, sagt Dézsi, die Stimmung. Sie wurden wütend darüber, wie die Polizisten die Umwelt verschandelt haben.

Das Spannendste, findet Dézsi, ist die Tatsache, dass die ganze Sache noch nicht abgeschlossen ist. Seine Grabung nicht und die gesellschaftliche Diskussion erst recht nicht. Im März wird seine Suche weitergehen. Bis 2030 muss nach dem neuen Gesetz ein Endlager gefunden sein, das die atomaren Abfälle sicher verwahren soll für eine Million Jahre. Dézsi wird dann Doktor sein.

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