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Zug um Zug. Margot Käßmann fährt gerade durch Europa und wirbt für das Reformationsjubiläum. Vor 500 Jahren veröffentlichte Luther seine Thesen. Der Mönch aus Wittenberg hat auch sie verändert.

© picture alliance / dpa

Theologin und Ex-Bischöfin: Wie Margot Käßmann ihre Krise überwunden hat

Sie war der Star ihrer Kirche. Dann wurde sie betrunken am Steuer erwischt und verlor alle Ämter. Sechs Jahre später hat Margot Käßmann sich neu erfunden. Bundespräsidentin werden will sie aber nicht.

Sie kommt durch den Seiteneingang. Klein ist sie, man sieht sie gar nicht in der vollen Deutschen Evangelischen Kirche von Den Haag, und doch weiß man sofort, dass sie da ist. Wegen der Menschentraube, die sich um sie herum bildet wie ein Strudel, und in der Mitte steht sie. Margot Käßmann, der gefallene Star der evangelischen Kirche, die Frau, die polarisiert wie niemand sonst unter den führenden Protestanten im Land.

Der Bau aus rotem Backstein steht in der Nähe des niederländischen Regierungssitzes und versammelt das gehobene Bürgertum der Auslandsdeutschen: Diplomatengattinnen, die ihren Diplomatengatten gleich mitgeschleift haben, Wissenschaftler, Juristen, um und jenseits der 50, die Männer deutlich in der Minderheit. Teures Parfum liegt in der Luft, gegen die Kühle des lutherisch nüchternen Kirchenraums werden edle Seidenschals um die Schultern gelegt.

Käßmann hat parteitaktische Spielchen nicht nötig

Margot Käßmann soll an diesem Spätsommerabend erklären, was die Kirche von Martin Luther für die Zukunft lernen kann. Denn 2017 jährt es sich zum 500. Mal, dass der Mönch aus Wittenberg seine Thesen veröffentlicht hat. Das wollen Kirche, Bund und Länder groß feiern mit Weltausstellung, Jugendcamps, Pilgerfahrten und Kirchentagen. Am 31. Oktober 2016, am Reformationstag, wird das Jubeljahr eröffnet. Käßmann tourt seit fünf Jahren durch die Welt, um für das Jubiläum zu werben. Sie ist die „Reformationsbotschafterin“ ihrer Kirche.

Und jetzt hat auch noch SPD-Chef Sigmar Gabriel die Kirchenfrau für das höchste Staatsamt ins Gespräch gebracht. Zumindest die Linke könnte sich eine Bundespräsidentin Käßmann vorstellen. Doch die Theologin ließ ausrichten, sie fühle sich geehrt, stehe aber für das Amt „nicht zur Verfügung“. Sie ahnt vielleicht, dass es Gabriel womöglich nicht so ernst war mit seinem Vorstoß. Dass er nur eine Botschaft an die Union senden wollte im politischen Suchspiel um einen Kandidaten. Ausgerechnet die Pazifistin Käßmann – für viele in CDU und CSU ist das eine Drohung.

Margot Käßmann hat solche parteitaktischen Spielchen nicht nötig, Ihre Bücher landen regelmäßig auf den Bestsellerlisten, und sie leidet nicht unter Beschäftigungsmangel. 2015 hat sie 1800 Einladungen zu Vorträgen, Predigten und Podiumsdiskussionen erhalten. Sie ist jetzt 58 und hat ein paar Falten mehr bekommen und graue Fäden im schwarzen Haar. Für die Lutheraner in Den Haag hat sie sich fein gemacht und trägt ein blau-weißes Etuikleid, Jackett, weiße Pumps und Perlenohrringe.

„Was ich 2010 erlebt habe, wünsche ich niemandem.“

„Guter Wein braucht keine Prüfung“, murmelt der Moderator, als er sie auf der Bühne ankündigt. Wahrscheinlich ist ihm die Bemerkung einfach rausgerutscht. Margot Käßmann lächelt gequält. Es waren ein paar Gläser Wein zu viel, die sie vor sechs Jahren das Amt und die Karriere gekostet haben. Käßmann war Bischöfin in Hannover und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, der EKD. Das ist das höchste Amt, das die evangelische Kirche hierzulande zu vergeben hat. Die Bischöfin saß in Talkshows, mischte sich politisch ein und sprach auch über ihren Brustkrebs und ihre Scheidung öffentlich. Im Februar 2010 wurde sie mit 1,54 Promille am Steuer erwischt und trat sofort von allen Ämtern zurück.

„Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand“, hat sie damals in dutzende Mikrofone gesagt. Heute sagt sie: „Was ich 2010 erlebt habe, wünsche ich niemandem.“ Doch sie hat die Krise überstanden. Dabei haben ihr die vier Töchter geholfen, viele Gespräche mit Freunden und auch der Mann, mit dem sie sich seit fünf Jahren fast täglich beschäftigt: Martin Luther.

Margot Käßmann schiebt die Ärmel hoch, geht zum Rednerpult, biegt das Mikrofon zu sich herunter und lächelt. Sie schwärmt von Luther und seiner neuen Sicht auf Gott und die Menschen. „Luther sah die Menschen als Gerechte und Sünder zugleich, das ist sehr realistisch. Menschen scheitern, sie sind dabei aber niemals vollkommen Gescheiterte.“ Käßmann fügt an: „Das ist sehr befreiend.“

Sie weiß, wovon sie spricht, auch wenn sie ihren Rücktritt in Den Haag nicht erwähnt. Sie erklärt, was für sie die zentrale Botschaft der Reformation ist: Die Menschen können sich nicht vom Fegefeuer loskaufen, wie es die katholische Kirche vor 500 Jahren mit den Ablassbriefen predigte. Sie müssen es auch gar nicht, denn sie sind schon durch Gottes Gnade gerettet. Auch die Gescheiterten, die Gefallenen und Ausgerutschten. Es reicht, wenn sie an Gott glauben. Mit dieser Erkenntnis hat Luther die katholische Kirche in ihren Grundfesten erschüttert und den Rest der Welt gleich mit.

Käßmann aktualisiert die Botschaft und sagt: „Das Leben macht Sinn, auch wenn du den Arbeitsplatz verlierst und nicht so schön, reich und klug bist.“ Sie spricht mit so viel Aufbruch in der Stimme und versucht, Mut zu machen. „Seid zuversichtlich, vertraut auf Gott, habt keine Angst vor Veränderung!“, ruft sie den Protestanten in Den Haag zu. An Gott zu zweifeln und nicht zu verzweifeln - auch das hat sie von Luther gelernt.

Um für sich zu klären, wie es weitergehen soll, verschwand Margot Käßmann nach ihrem Abgang 2010 erst einmal in die USA. Ein Jahr später kam sie wieder. Sie wollte kein offizielles Kirchenamt mehr, weil sie um ihre Glaubwürdigkeit fürchtete so kurz nach dem Rücktritt. Sie hat lange gezögert, bis sie dem Vorschlag ihrer Kirche folgte, „Reformationsbotschafterin“ zu werden.

Was dann begann, war gewissermaßen ihre eigene kleine Reformation.

Sie will 800 Millionen Protestanten für das Jubiläum begeistern

Sie hat fast jedes europäische Land besucht und mehrmals die USA. Sie war in Japan, Tansania und im Libanon. Dieses Jahr ist sie durch Asien gereist, sie war in Mexiko und Guatemala. Sie predigt in Kirchengemeinden, hält Vorträge in Botschaften und an Universitäten, oft mehrere am Tag. Sie versucht, die weltweit 800 Millionen Protestanten für das anstehende Jubiläum zu begeistern. Denn diesmal soll international gefeiert werden - nicht deutsch-nationalistisch wie 1917, als Luther für Durchhalteparolen im Ersten Weltkrieg instrumentalisiert wurde.

Die evangelische Kirche hat in Deutschland derzeit 22,3 Millionen Mitglieder, und es werden immer weniger. Daran wird vermutlich auch die große Gedenkparty wenig ändern. Doch sie soll neuen Schwung bringen und zur Selbstvergewisserung beitragen: Wo kommen wir her? Wo wollen wir hin?

Für die Lutheraner in Den Haag ist das Jubiläum weit weg. Doch von Käßmann sind sie begeistert. „Hat mich überzeugt“, sagt etwa die Gemeindesekretärin, „man merkt, dass sie lebt, was sie predigt.“ Nach ihrer Rede muss Käßmann für Selfies und Gruppenfotos posieren.

Am nächsten Tag um 13.17 Uhr steigt die Kirchenfrau mit einem lilafarbenen Rollköfferchen in den Thalys-Zug nach Brüssel. Sie hat bei einer Freundin übernachtet, es ist spät geworden. Sie ist früh aufgestanden, hat Mails beantwortet und an ihrer Kolumne für die Bild-Zeitung geschrieben. Sie war auch noch kurz joggen, das muss sein, egal, wo sie ist.

Käßmann lässt sich in der ersten Klasse in einen breiten Ledersessel fallen. Als sie vor einem halben Jahr gebucht habe, sei der Platz kaum teurer gewesen als in der zweiten Klasse! Käßmann rechtfertigt sich sofort. Sonst kommt noch jemand auf die Idee, sie gönne sich diesen Luxus auf Kosten der Kirchensteuerzahler. Bodenhaftung ist Käßmann wichtig, die will sie nicht verlieren. Ihr Vater war Kraftfahrzeugmechaniker, die Mutter Krankenschwester.

Vor dem Zugfenster ziehen grüne Wiesen, Dörfer und viel Wasser vorbei. Die holländische Tiefebene weitet sich zum Mündungsdelta großer Flüsse. Da steht plötzlich der Schaffner mit Mittagessen vor ihr. Mittagessen? Käßmann ist die erste Klasse tatsächlich nicht gewöhnt. Sie hat sich extra noch ein belegtes Brötchen im Bahnhof gekauft. Das wandert nun in die große Handtasche.

Seit fünf Jahren spricht Käßmann fast täglich über Luther. Sie hat viel über seine Abgründe gelernt, über seinen Judenhass, seine Hetze gegen die aufständischen Bauern. Das hat sie schockiert. Sie erzählt aber auch von dem Seelsorger Luther, der ihr näher gekommen ist. Der seinen Briefpartnern offen gestand, dass er manchmal so „niedergeschmettert ist von Traurigkeit“, dass er gar nicht wisse, was er schreiben solle. Seine depressiven Schübe hielt er für Teufelswerk. Er empfahl lebensmüden Briefpartnern, sich „ein Herz und Trotz“ zu fassen, „die Zähne zusammenzubeißen“ und den Teufel mit aller Kraft zurückzustoßen.

Käßmann hat von Luther auch gelernt, dass sich die Kirche immer wieder verändern muss. Die Bibel kritisch lesen zu dürfen - anders als es die Fundamentalisten tun - ist für sie eine große Errungenschaft der Reformation. „Fragen zu dürfen, selbst zu denken, das ist doch großartig“, sagt sie. Auch das habe ihr geholfen, sich von vielem zu befreien, was sie belastet hat.

Heute sagt sie sogar: „Es war gut für mich, dass alles so gekommen ist. Ich bin frei wie nie zuvor im Leben.“

Sie muss für niemanden mehr sorgen. Die Töchter leben ihr eigenes Leben, nicht einmal ihr Husky-Mischlingshund Ole ist noch da. Von den vielen Einladungen nimmt sie an, was sie für sinnvoll hält. Mehr muss nicht sein.

Kai Diekmann schwärmt von Käßmanns Standhaftigkeit

Ohne Bischofsamt ist sie auch politisch freier, sich so zu äußern, wie sie will. Den Sturm der Entrüstung hält sie dann auch alleine aus. Der kommt regelmäßig, wenn sie sich zu Krieg und Frieden äußert, Flüchtlinge verteidigt oder Frauen mit Kopftuch. Oder neulich, als sie gefragt wurde, was Jesus zum Terror sagen würde. Sie hat geantwortet, dass Jesus sagte, dass man seine Feinde lieben soll, und empfahl, „den Terroristen mit Beten und Liebe zu begegnen“. Die Häme, die ihr entgegenschlug, war grenzenlos. „Was hätte ich denn sagen sollen?“, fragt Käßmann. „Schießt sie alle tot?“

Am Abend vor ihrer Reise nach Den Haag wurde ihr in Berlin der Estrongo-Nachama-Preis für Toleranz und Zivilcourage verliehen. Estrongo Nachama war ein jüdischer Kantor. Die Laudatio hielt Kai Diekmann, der Herausgeber der Bild-Zeitung. Er schwärmte von Käßmanns Standhaftigkeit und ihrem Mut, „nicht jedes Wort so lange abzuschleifen, bis nichts mehr übrig bleibt.“ Er bewundere „diese Haltung der Souveränität und Gelassenheit“, sagte Diekmann und wünschte Deutschland „mehr Käßmann und weniger Konsens“.

Am nächsten Tag schickten Freunde ihr Nachrichten aufs Handy: „Wie kannst du dich vom Bild-Chef loben lassen?“ Käßmann schüttelt den Kopf, als sie das erzählt. Mehr fällt ihr dazu nicht ein. Auch im Bekanntenkreis wissen eben manchmal einige allzu genau, wer Freund und wer Feind ist.

Der Zug hat Antwerpen hinter sich gelassen, die Landschaft wird hügeliger, der Thalys nähert sich der belgischen Hauptstadt. Käßmann soll hier EU-Parlamentariern Luther erklären.

Die Veranstaltung ist in der Innenstadt von Brüssel in der früheren Botschaft der DDR. Hier residieren jetzt die Vertreter von Sachsen-Anhalt, denen das Reformationsjubiläum wegen der vielen Luther-Stätten in ihrem Bundesland wichtig ist. Waschbeton und Klinker der DDR-Botschaft aus den 60ern wurden erneuert. Das Linoleum im Vortragssaal leuchtet knallrot.

Gut 200 Lobbyisten, Abgeordnete, sogar ein Nato-Flottengeneral in Uniform sind gekommen. Die Reformationsbotschafterin ist diesmal nicht alleine auf dem Podium. Neben ihr sitzt Petra Bahr, 50, Theologin, Ex-Kulturbeauftragte der EKD, Leiterin der Abteilung Politik in der Konrad-Adenauer-Stiftung.

„Was kann Europa lernen von der Reformation?“, will der Moderator wissen. „Dass Reformen nur möglich sind, wenn die Menschen sich dafür begeistern und mitgenommen werden“, antwortet Käßmann knapp. Petra Bahr holt historisch weit aus und denkt die Dinge weiter. Es geht um die Streitkultur vor 500 Jahren und heute, um Identität und Angst. Bahr fängt an zu dozieren über die Köpfe der Leute hinweg.

Ganz anders Käßmann. Wenn sie dran ist, lehnt sie sich zurück, streut Anekdoten ein, spricht das Publikum direkt an und lenkt das Gespräch auf die Flüchtlingskrise und das Sterben im Mittelmeer. „Da braucht es praktische Lösungen und keinen intellektuellen Diskurs“, sagt sie und kontert damit Petra Bahr. Käßmann muss sich nichts mehr beweisen. Sie weiß, dass ihre Sätze nicht so in die Tiefe gehen, und manchmal verrutschen sie auch. Eine gute Seelsorgerin, findet sie, muss keine Intellektuelle sein.

„Nur der Teufel holt die Menschen ab, wo sie stehen“ - einige beziehen das auf Käßmann

Käßmann kann Nähe herstellen. Sie schafft das in einer Messehalle mit 5000 Menschen und in einer Runde mit dreien. Ihre Bücher sind populär, weil die Leserinnen das Gefühl haben, Margot Käßmann sei wie sie. So durchschnittlich, so spektakulär unelitär.

Käßmann verlangt keine radikalen Veränderungen von ihnen. „Wer dankbar bleibt für das kleine Glück, wird am Ende ein großes und gesegnetes Leben führen“, schreibt sie in ihrem neuen Buch „Sorge dich nicht, Seele“. Im Zug setzen sich immer wieder wildfremde Menschen neben sie und erzählen aus ihrem Leben. Käßmann gelingt, was viele Bischöfe und Politiker nicht können: Sie spricht die Massen an.

Andere sagen, das sei eben nur weichgespülter Kuschel-Glaube, der sich gut verkaufe. Ihre Bücher - reine Geldmacherei. „Nur der Teufel holt die Menschen ab, wo sie stehen“, hat kürzlich der Philosoph Peter Sloterdijk geschrieben. Er hat das nicht auf die Kirche bezogen. Aber einige Pfarrer zitieren ihn genüsslich, wenn es um Käßmann geht.

Sie frage sich schon manchmal, ob es nicht besser wäre, sich zurückzuziehen, sich einfach nicht mehr mit all dem Elend dieser Welt zu befassen, sagt die Kirchenfrau. 2018 ist der Luther-Rummel vorbei und Käßmann wird 60. Dann will sie sich erst einmal ein halbes Jahr durch die Welt treiben lassen - wie es ihre Töchter nach dem Abitur gemacht haben.

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