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Bedrohte Mitte. Zahlreiche Schilder machen auf den Ort aufmerksam.

© S. Leber

Westerngrund im fränkischen Spessart: Wie viel Europa steckt im Mittelpunkt der EU?

Der Mittelpunkt der EU liegt im fränkischen Westerngrund neben einem Misthaufen und der Netzempfang ist schlecht. Das Dorf bangt nach dem Brexit nun trotzdem um seinen Glanz.

Wer ihn sehen möchte, muss an einer Scheune, einer Pferdekoppel und einer angemoosten Christusstatue vorbei. Folgt dem Wanderweg den Hang hinauf, lässt einen Hochsitz links liegen und steht plötzlich vor einem gigantischen, die Umgebung weithin überragenden Misthaufen. Es ist unklar, wer ihn hier direkt am Wegesrand aufgeschüttet hat und wie viele Kühe, oder besser: Kuhherden, es dafür bedurfte. Erinnert an die Müllberge von Neapel. Ein paar hundert Meter weiter, hinter einem kleinen Waldstück, ist die Luft wieder frisch und der Blick weitet sich. Am Rand einer Wiese wehen fünf Fahnen.

Der Mittelpunkt der Europäischen Union hat eine Menge Hinweisschilder. Typisch. Auf einem steht: „Bitte Schriftzug und Kiesbett nicht betreten.“ Ein anderes informiert darüber, dass beim Hissen der Fahnen am Metallmast Stellring B mindestens 20 Zentimeter über dem unteren Gurtband fixiert gehört. Ein drittes erklärt, wo geparkt werden darf. Ein viertes, dass die nebenstehende Holzbank Eigentum der Gemeinde Westerngrund ist. Es gibt auch noch ein fünftes, ein sechstes und ein siebtes Hinweisschild. Aber keines verrät, wo das Gästebuch liegt. An diesem nebligen Sonntagmittag hat sich bloß ein älteres Ehepaar zum Mittelpunkt der EU aufgemacht. Die beiden sind auf der Durchreise, kommen aus Frankfurt am Main, und wenn sie das Gästebuch jetzt nicht finden, sagt der Mann, werden sie wohl noch mal wiederkommen müssen. Er hat gehört, dort hätten sich „schon Menschen aus aller Welt eingetragen, sogar Chinesen“.

Franzosen bestimmen, wo die Mitte ist

Wer hat das eigentlich bestimmt: dass der geografische Mittelpunkt der EU ausgerechnet auf einer Wiese im unterfränkischen Spessart, am Nordwestrand Bayerns, im Landkreis Aschaffenburg liegt? Franzosen waren es. Am „Institut National de l’Information Géographique et Forestière“ in Paris führten Ingenieure computergestützte Berechnungen auf Basis der Gauß’schen Flächenformel durch. Oder anders gesagt: „Stellt euch vor, man hängt alle Landmassen Europas an einem Mobile auf – und sucht dann den Punkt, an dem das Mobile mit einem Faden an der Decke befestigt werden muss.“ So erklärt es Gerhard Stühler, wenn er Schulklassen zum Denkmal führt. Der 66-Jährige ist Mitglied der „Interessengemeinschaft EU-Mittelpunkt“, einer kleinen Gruppe Europabegeisterter aus Westerngrund und Umgebung, die sich nach dem Beitritt Kroatiens im Juli 2013 zusammengefunden hat. Damals verkündeten die Pariser Ingenieure, der Mittelpunkt ihres EU-Mobiles habe sich soeben vom hessischen Meerholz hierher nach Westerngrund verlagert. Die Meerholzer waren betrübt, sie hatten extra eine Merchandising-Kampagne gestartet. Mit Meery, dem Mittelpunkts-Schaf, auf Kaffeetassen und T-Shirts.

Westerngrund liegt im unterfränkischen Spessart und ist Mittelpunkt der EU. Noch.
Westerngrund liegt im unterfränkischen Spessart und ist Mittelpunkt der EU. Noch.

© Fabian Bartel

Zur Einweihung des Westerngrunder Denkmals gab es ein Fest, als Ehrengast kam Markus Söder. Vor dem Rathaus stellte der sich auf die kleine Bühne neben dem Kinderkarussell und forderte tatsächlich, dass Gipfel europäischer Staatschefs künftig hier in Westerngrund stattfinden sollten.

Den meisten Einheimischen ist das Denkmal egal

Leider musste das Denkmal ein halbes Jahr später um 500 Meter verlegt werden. Verantwortlich war die französische Inselgruppe Mayotte, die im Indischen Ozean bei Madagaskar liegt und lange als Überseeterritorium mit Sonderstatus galt, nun aber zu einem regulären französischen Departement wurde und damit geografisch der EU zugeschlagen werden musste – als sogenanntes Gebiet in äußerster Randlage. Also Fahnen ausbuddeln und ein Stück weiter ostwärts, neun Grad und 15 Minuten östlicher Länge sowie 50 Grad und sieben Minuten nördlicher Breite, wieder in den Boden. Zur zweiten Feier kam Markus Söder nicht mehr.

Es ist verständlich, dass man in Unterfranken nicht begeistert war, als Großbritannien im Juni dieses Jahres für den Austritt votierte. Die Westerngrunder werden ihr wichtigstes Denkmal verlieren. Gerhard Stühler sagt, das müsse man sportlich sehen, die Mittelpunktsuche sei eben eine „dynamische Angelegenheit“, so wie ja auch das europäische Projekt als Ganzes schon immer prozesshaft gewesen sei.

Ohnehin sind nicht alle 1900 Einwohner Westerngrunds so mittelpunktbegeistert wie Gerhard Stühler. Kurz vor Weihnachten hat ein Unbekannter mehrere Hinweisschilder am Denkmal mit goldener Farbe beschmiert, ein paar Schlieren sind noch zu sehen. Auch eine Fahne wurde geklaut. Außerdem sei das Denkmal vielen Einheimischen leider schlichtweg egal, sagt Stühler. Gern hätten er und seine Mitstreiter oben am Denkmal einen Unterstand gebaut, damit kein Besucher mehr nass wird. Die untere Naturschutzbehörde hatte Bedenken, die Bürgermeisterin auch.

Am Mittelpunkt der EU ist der Netzempfang schlecht

Gerhard Stühler sagt, er selbst habe sich schon im Kindesalter als Europäer gefühlt, lange vor allen Mittelpunktsberechnungen. Und dass ihm sehr wehtue, wie das „Ansehen der EU in den vergangenen Jahren den Bach runtergeht“. Wenn er Menschen begegnet, die über Brüssel schimpfen, dann stellt er ihnen eine einzige Frage: „Was sind uns 70 Jahre Frieden wert?“ Die Frage zieht eigentlich immer, sagt Gerhard Stühler.

Das Kapellencafé am nahe gelegenen Forsthaus bietet „Europa-Torte“ an, ein Brenner aus der Region verkauft einen Schnaps namens „Europäischer Geist aus der Flasche“. Ist das Getue um den EU-Mittelpunkt nur ein PR-Gag, der Versuch, ein paar Touristen in den Spessart zu locken – oder finden sich hier in der tiefen Provinz europäische Werte? Wie viel Europa steckt also in Westerngrund? 

Dem Besucher fallen die vielen Solarzellen auf den Häuserdächern auf. Die gepflegten Gärten und die Trampoline. Der breite Radweg neben der Landstraße. Ab und zu bellt in der Ferne ein Hund, und am Himmel sieht man die Maschinen, die 50 Kilometer entfernt in Frankfurt gestartet sind. Es heißt, in Westerngrund ließen sich jede Menge Pokémons einfangen, aber am Mittelpunkt der EU ist der Netzempfang schlecht. Soll sich angeblich bald ändern. Kommt man mit Westerngrundern ins Gespräch, erfährt man, dass die Feuerwehr dringend Nachwuchs sucht. Der demografische Wandel sei schuld. Die zwei Fußballvereine des Dorfs haben sich bereits zusammengeschlossen.

Ein Ehepaar aus Westerngrund wurde Opfer des Anschlages in Istanbul

Man erfährt auch von den 30 syrischen Flüchtlingen, die im Nachbardorf Schöllkrippen untergekommen sind, von gespendeten Fahrrädern, ehrenamtlichem Deutschunterricht, aber auch der Angst, es könnten noch mehr Asylanten kommen. Und man erfährt von dem Ehepaar aus Westerngrund, das im Januar dieses Jahres auf einen Städtetrip nach Istanbul flog. Die beiden schlossen sich einer deutschen Reisegruppe an, wollten das berühmte Altstadtviertel Sultanahmet besichtigen. Ausgerechnet an dem Tag, an dem sich ein Selbstmordattentäter auf einem Platz in der Nähe der Hagia Sophia in die Luft sprengte. Wochen später erlag die Frau ihren inneren Verletzungen. Sie war die Schwägerin der Bürgermeisterin.

Gerhard Stühler, der Mann von der „Interessengemeinschaft EU-Mittelpunkt“, sagt, die europäischen Verflechtungen Westerngrunds reichten weit in die Vergangenheit zurück. Schon vor 700 Jahren hätten sich ganz in der Nähe zwei der wichtigsten Heer- und Handelsrouten des Kontinents befunden, „die Autobahnen des Mittelalters sozusagen“. Da war der berühmte Eselsweg, die Nord-Süd-Verbindung, Gustav Adolf von Schweden hat sie bereist. Außerdem die Birkenhainer Straße, über die floh Napoleon vor den Russen. Bloß Grenzsteine sind geblieben.

Am Mittelpunkt der Europäischen Union hat samstagabends nur ein einziges Restaurant geöffnet. Es ist kleiner Italiener. Eigentlich mehr ein Pizza-Lieferservice, aber es gibt auch einen Stehtisch und zwei Stühle. Die drei jungen Männer, die gerade auf Pizza und Döner warten, trinken „Schlappeseppel“, Traditionsbier aus Aschaffenburg. Der Laden wird von Andreas Schiller geführt, er ist hier geboren. Das mit Europa, sagt er, war früher mal eine gute Idee. „Nur irgendwie ist alles schiefgegangen.“ Die jungen Männer nicken. Wer von Andreas Schiller wissen will, was genau alles schiefgegangen sei, bekommt zur Antwort: „Gute Frage.“

"Vergiss die Gurke nicht!"

Dann Schweigen, Bartzupfen, und dann geht es los: Die Leute in Brüssel, die seien doch alle Akademiker und lebten in ihrer eigenen Welt. Die kümmerten sich nicht um Europa. Und überhaupt kümmerten sich die Italiener und die Franzosen nicht um die Bedürfnisse der Deutschen, die Griechen schon gar nicht. „Vergiss die Gurke nicht“, sagt ein Gast. „Ja, genau, die Gurke“, sagt Andreas. „Erst wurde die genormt und dann wieder nicht.“

Andreas Schiller schimpft noch eine Weile weiter über Europa, dann fällt ihm eine andere Geschichte ein. Die von dem Rumänen, der nach dem Ende des Kommunismus zu Fuß nach Deutschland gewandert und ausgerechnet hier in Westerngrund gelandet sei. Der Fremde wurde Andreas Schillers Kollege, und eines Tages zeigte ihm der Mann ein Foto seiner rumänischen Familie. Eine junge Frau auf dem Bild gefiel Schiller sehr. „Das ist meine Schwester Mirela“, sagte der Kollege. „Die muss ich kennenlernen“, sagte Andreas Schiller.

Er reiste nach Rumänien, traf die Schwester, sie konnte weder Deutsch noch Englisch, er weder Rumänisch noch Russisch. Sie haben sich trotzdem verstanden und bald verliebt.

Heute, mehr als 20 Jahre später, steht diese Frau neben ihm hinterm Tresen und belegt gerade eine Pizza quattro formaggi. Die beiden haben geheiratet, zwei Kinder, ein Haus, Mirela Schiller spricht besseres Hochdeutsch als die Männer mit dem Schlappeseppel. Je mehr die Schillers von sich selbst erzählen, desto mehr fällt ihnen auf, was für unwahrscheinliche Erfolgsgeschichten dieses Europa schreibt.

Der Mittelpunkt soll jetzt verschoben werden

Zum Abschied gibt es rumänischen Schnaps, und Mirela Schiller sagt, sie fände es gut, wenn das mit der EU doch noch ein bisschen andauere.

Draußen ist es kalt geworden. Unter der Hauptstraße des Dorfes fließt ein Rinnsal hindurch. Der Herzbach. Wer hier eine Seite aus seinem Notizblock herausreißt, das Papier zu einem Boot faltet und ins Wasser lässt, kann dem Boot theoretisch so lange hinterherschauen, bis der Herzbach in den kaum breiteren Westerbach mündet. Dieser müsste das Papierboot 30 Kilometer nach Süden tragen, bis der Westerbach in die Kahl mündet. Die schlängelt sich zunächst südwärts, vollzieht dann eine lang gezogene Rechtsdrehung, sodass sie Richtung Nordwesten fließt und bei Hanau in den Main. Von dort würde das Boot zur Rheinmündung gelangen und dann noch einmal hunderte Kilometer weiter, bis es schließlich über das niederländische Rhein-Maas-Delta die Nordsee erreicht. Einen Versuch ist es wert.

Das Papierboot bleibt vor der ersten Biegung an den Blättern einer Uferpflanze hängen.

Gerhard Stühler sagt, er wolle seine Arbeit auch fortsetzen, wenn der Brexit dem Dorf den Mittelpunkt genommen habe. Zum Beispiel indem er sich für einen Wanderweg vom alten zum neuen Denkmal einsetze. Der künftige Mittelpunkt wird südöstlich liegen, Richtung Würzburg. Die genauen Koordinaten haben die Ingenieure aus dem Pariser Nationalinstitut auch schon berechnet. Sie wollen sie aber noch nicht verraten. Schließlich ist nicht klar, ob wirklich ganz Großbritannien austritt oder zum Beispiel Schottland bleibt. Das hätte wiederum Auswirkungen auf das Mobile. Die EU hat ihre nächste Mitte noch nicht gefunden.

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