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Anschlagsort Gedächtniskirche. Auf die Frage nach dem Warum hat Berlin, so scheint es, nun eine schmerzvolle Antwort gefunden.

© Sidney Gennies

Verdacht der Strafvereitelung im Fall Amri: Beispiellos in der deutschen Polizeigeschichte

Sonderermittler Bruno Jost soll das Versagen der Berliner Behörden im Fall des Terroristen Anis Amri aufdecken. Seine Arbeit könnte den Angehörigen endlich Klarheit bringen – und viel Geld.

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Sie stehen noch immer dort, rund um den Platz vor der Gedächtniskirche. Schwere graue Blöcke. Eine Schutzvorkehrung, aber mehr noch eine betongewordene Mahnung, dass an diesem Ort im Dezember 2016 der Islamist Anis Amri mit einem Lkw in einen Weihnachtsmarkt raste. Jemand hat eine Uhr abgelegt, die Ziffern mit roten Kreuzen überklebt. Jede Stunde weist der Zeiger auf einen der zwölf Toten hin. Davor sind auf den Stufen zur Kirche hunderte Grablichter aufgebaut, aber die wenigsten brennen noch. Und über allem prangt ein Schild: „Warum?“, steht darauf.

Berlin, so scheint es, hat darauf nun eine schmerzvolle Antwort gefunden.

Es ist ein beispielloser Vorgang in der deutschen Polizeigeschichte, der vom unabhängigen Sonderermittler des Berliner Senats, Bruno Jost, jetzt aufgedeckt wurde. Die Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern haben nicht nur Fehler gemacht, weil sie den Terroristen Amri nach intensiver Observation und kurzzeitiger Inhaftierung im schwäbischen Ravensburg laufen ließen – anstatt ihn spätestens im November 2016 abzuschieben.

Im Berliner Landeskriminalamt wurde sogar versucht, Ermittlungsergebnisse zu vertuschen. Mitarbeiter des LKA manipulierten, so der Vorwurf, interne Akten, um zu verschleiern, dass Amri in banden- und gewerbsmäßigen Handel mit Drogen verwickelt war. Er hätte festgenommen werden können. Er hätte festgenommen werden müssen. Die zwölf Opfer könnten noch leben.

Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft im Fall des schlimmsten islamistischen Terrorakts der deutschen Geschichte gegen die Polizei. Innensenator Andreas Geisel selbst hatte Anzeige gegen das LKA erstattet. Wegen Strafvereitelung im Amt und Urkundenfälschung.

„Das Vertrauen in unsere Polizei besteht weiter.“

Einen Tag später nun muss er erklären, wie es dazu kommen konnte. In schwarzem Anzug, mit dunkler Krawatte und in einem Ton, der einer Trauerfeier angemessen wäre, steht Geisel am Donnerstag um 10 Uhr im Abgeordnetenhaus. Die geplante Aktuelle Stunde zur Bekämpfung der Cyberkriminalität interessierte plötzlich niemanden mehr. Alle sechs Fraktionen wollen den Polizeiskandal zum Thema machen, der die ganze Republik bewegt. Und Geisel hat sichtlich Mühe, die richtigen Worte zu finden.

Einerseits: „Das Vertrauen in unsere Polizei besteht weiter.“ Andererseits: „Wir haben kein Interesse, etwas zu verschleiern.“ Der Innensenator steht unter enormen Druck. Nicht nur weil er den Skandal lückenlos aufklären muss. Geisel versprach am Donnerstag im Parlament, im Laufe der Wahlperiode mehr Polizisten einzustellen, die Arbeit der Sicherheits- und Justizbehörden zu verbessern und die Abgeordneten auf dem Laufenden zu halten. „Aber glauben Sie nicht den Vereinfachern, die absolute Sicherheit versprechen!“

Die Rede ist kühl, nüchtern. Dennoch scheint sie den Ton zu treffen, denn auch die Opposition klatscht zuweilen. Nur in der dritten Reihe der Bänke der Union zögert einer, der nicht ganz unbeteiligt war an der Arbeit der Berliner Sicherheitsbehörden in den vergangenen Jahren – und klatscht dann doch: Geisels Vorgänger als Innensenator, CDU-Mann Frank Henkel. Nur äußern will er sich nicht. Das tun andere. Und wie immer, wenn es um den Fall Amri geht, ist die nunmehr oppositionelle CDU auffallend zahm, sucht den Schulterschluss mit der rot-rot-grünen Koalition.

Der Fall wühlt auf, auch das Parlament

Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, den FDP und AfD seit Januar erfolglos fordern, hätte die „ungeheuren Vorwürfe gegen das LKA“ so schnell nicht zutage gefördert, sagt der CDU-Innenexperte Stephan Lenz. Er lobt erneut den Einsatz des unabhängigen Sonderermittlers Jost.

Nur der Linken-Sicherheitsexperte Hakan Tas wird in seiner Rede so scharf, dass sich anschließend nur die eigene Fraktion zu einem müden Pflichtbeifall hinreißen lässt. An die Adresse des Landeskriminalamts gerichtet, sagt er: „Wer so handelt, ist keinen Deut besser als die, gegen die ermittelt werden soll“. Tas solle sich schämen für seine Rede, ruft der CDU-Generalsekretär Stefan Evers anschließend ins Mikrofon.

Der Fall Amri wühlt auf, auch das Parlament. Dabei muss nun vor allem einer sachlich bleiben: Bruno Jost, seit März vom Senat eingesetzt als Sonderermittler. Der Mann ist ein ehemaliger Bundesanwalt, der 2009 in den Ruhestand ging, und genießt immer noch einen exzellenten Ruf als Ermittler und Ankläger. Leute, die mit ihm zu tun hatten, sagen, er kenne alle Tricks.

Ab 1992 war er am Bundesgerichtshof in Karlsruhe als Oberstaatsanwalt für Straftaten gegen die innere Sicherheit Deutschlands zuständig, dann wechselte er in die Abteilung für äußere Sicherheit und wurde im Jahr 2000 schließlich zum Bundesanwalt befördert. Bis 2007 war Jost dort für Spionage und Landesverrat zuständig. Fünf Jahre später, da war er bereits Pensionär, wurde er Mitglied einer Bund-Länder-Kommission zur Untersuchung der NSU-Morde.

Morddrohungen - und Widerstand der Bundesregierung

Bekannt wurde Jost, als er nach der Ermordung iranischer Oppositioneller im Berliner Restaurant Mykonos 1992 die Ermittlungen führte – beharrlich und mit großem Mut bis zum rechtskräftigen Urteil Ende 1998, mit dem die Regierung in Teheran des Staatsterrorismus überführt wurde. Jost hatte dabei mit Morddrohungen, aber auch mit erheblichem Widerstand aus den Reihen der damaligen Bundesregierung zu kämpfen.

Der nunmehr 68-jährige Jurist, mittlerweile ergraut und mit markantem Schnäuzer, wird dem Senat noch vor der Sommerpause einen ersten Zwischenbericht vorlegen. Und es steht zu erwarten, dass er weitere Ungereimtheiten aufdeckt. Der Polizeiskandal ist nur die spektakulärste in einer langen Reihe von Pannen im Fall Anis Amri.

Eigentlich passierten monatelang Dinge, die – rückblickend – nur schwer zu erklären sind. Der Tunesier registriert sich mehrfach in Nordrhein-Westfalen als notleidender Asylbewerber, schöpft dann auch in Berlin den Staat ab, den er bekämpfen möchte. Keine Festnahme. Amri reist mit Zug, Fernbus, Auto durch das Land, um Imame, Hehler, Dealer zu treffen, ist also bundesweit unterwegs, auch weil er immer Geld aus Sozialbetrug, Drogenhandel, Diebstahl hat. Keine Festnahme. Vermutlich trifft er sich auch in Hildesheim mit dem salafistischen Prediger Abu Walaa – einem Klerikalfaschisten, den diverse Stellen seit Jahren beobachten.

In einer vor Monaten veröffentlichten Chronologie des Innen- und Justizministeriums heißt es: Ein V-Mann teilte im Sommer 2016 mit, Amri deute „einen möglichen später geplanten Selbstmordanschlag“ an. Keine Festnahme. Amri wird in Nordrhein-Westfalen und in Berlin von Beamten beobachtet. Von den schon damals 100 islamistischen Gefährdern in der Stadt ist er jedoch nur einer.

„Anis Amri war einer von vielen.“

Amri besucht in Moabit und Charlottenburg zwar einschlägige Moscheen, aktiver aber scheint er als Drogenhändler zu sein. In einer Spelunke in Neukölln schlägt er vor laufenden Überwachungskameras einen Kontrahenten mit einem Hammer nieder. Keine Festnahme. Irgendwann dann fällt am Rhein auf, dass Amri sich durch seine Aliasnamen systematisch Geld erschlichen hat . Keine Festnahme. Amri beantragt sogar erneut Asyl unter mehreren Namen in verschiedenen Städten. In Berlin hält er sich nun wieder zurück, die Überwachung wird beendet.

Dass er nicht festgenommen wurde, und dass Senator Geisel das nun so heftig kritisiert, wird eine Beamtin besonders sorgen: Jutta Porzucek, die Leiterin des Staatsschutzes der Berliner Polizei. Sie ist erst seit zwei Jahren im Amt, generell war der Staatsschutz nach dem Skandal um das NSU-Trio auch in Berlin umgekrempelt worden. Dutzende erfahrene Ermittler wurden versetzt, nun gibt es Fälle, an denen nur Beamte arbeiten, die erst ein paar Jahre dabei sind.

Porzucek sagte vor ein paar Wochen: „Anis Amri war einer von vielen.“ Keineswegs sei er „der Schlimmste“ unter denen gewesen, die man vor dem 19. Dezember 2016 im Blick hatte – also vor dem Attentat auf den Weihnachtsmarkt. Nun könnte es sein, dass Porzucek – die damals eigentlich nichts Falsches sagte – den Posten räumen muss.

Das Polizeipräsidium äußert sich dazu nicht, dafür aber der Bund Deutscher Kriminalbeamter, die Gewerkschaft der Fahnder. Man missbillige die latente Vorverurteilung der Staatsschützer – auch und gerade, weil man die Arbeit des Sonderermittlers Bruno Jost begrüße, also abwarten wolle: „Augenscheinlich geht es dem Senator vor allem darum, selbst eine saubere Weste zu bewahren. Kriminaltaktisch ist es unsinnig, einen Straftatverdacht zuallererst medial zu verbreiten und einen Sündenbock auf unterster Ebene zu verorten.“

Kenner meinen: In Italien könnte er V-Mann gewesen sein

Damit ist gemeint, dass selbst Staatsschutz-Leiter nicht allein dafür verantwortlich sein können, wie die – personell ausgedünnte – Behörde arbeiten muss. Es sei zudem „weiter fraglich, ob tatsächlich zwingende Haftgründe“ gegen Amri vorlagen. Der Berliner BDK-Vizechef, Carsten Milius, sagte: Es sei nicht zwangsläufig so, dass beim Tatverdacht gewerbsmäßigen Rauschgifthandels immer eine sofortige Festnahme gerechtfertigt sei.

Es gibt in anderen Einrichtungen sogar Juristen, die sagen: Amri war ein Spitzel, jedenfalls muss jemand auf Bundesebene daran interessiert gewesen sein, dass Amri nicht verhaftet wird. Alle deutschen Behörden erklärten direkt oder indirekt: Für uns war dieser Kriminelle nicht unterwegs, wir haben ihn nicht als Informanten geführt.

Doch, und das meinen Kenner, in Italien könnte das anders gewesen sein. Amri war dort im Knast, wo V-Leute häufig rekrutiert werden. Amri wurde oft verlegt, sollte womöglich also neue Männer in den Haftanstalten kennenlernen. Und Amri wurde nach der Haft nicht abgeschoben, sondern reiste europaweit durch das Milieu islamischer Wanderkrimineller. Italien, Schweiz, Deutschland. Letztlich Berlin.

Während hier die Aufarbeitung erst beginnt, wird in Nordrhein-Westfalen der Zwischenbericht des Untersuchungsausschusses vorgelegt. 44 Zeugen hatte der Ausschuss in 19 Sitzungen angehört. Sie alle sollen eine Frage klären: Wie kann es sein, dass die Behörden keine Handhabe hatten, trotz zahlreicher krimineller Vergehen, monatelanger Observation und Telefonüberwachung Amri zu inhaftieren? Anruf bei Sven Wolf, dem Vorsitzenden des Ausschusses, seine nüchterne Antwort: „Die Behörden hatten ihn einfach nicht mehr auf dem Schirm gehabt.“

Aber warum nicht?

Eine Geste der Demut, aber nur eine symbolische

Drei Monate, erklärt Wolf, seien viel zu kurz gewesen, um mögliche Versäumnisse der nordrhein-westfälischen Sicherheitsbehörden aufzuarbeiten. Etwa, warum die Behörden im vergangenen Oktober keinen Antrag auf Sicherheitshaft gestellt haben. Waren sie angesichts seiner vielen Identitäten schlicht überfordert? „30 Zeugen stehen noch auf der Liste“, sagt Wolf. Deshalb verzichtete der Ausschuss in seinem neuen Zwischenbericht auf eine Beweiswürdigung. Dass die neue Landesregierung diesen Untersuchungsausschuss wieder einsetzt, ist sehr wahrscheinlich.

Fest steht aber auch für die Mitglieder des Ausschusses, dass das Versagen wohl nicht nur auf NRW und Berlin begrenzt war. „Ich glaube, dass auch im Bund Pannen passiert sind“, sagt Wolf.

Ob auch in Berlin ein Untersuchungsausschuss eingerichtet wird, wird nach dem Bericht des Sonderbeauftragten Jost im Sommer entschieden. In Düsseldorf raten sie den Berlinern dazu, „das scharfe Schwert eines Untersuchungsausschusses“ auch zu nutzen.

Der Regierende Bürgermeister Michael Müller hat sich am vergangenen Wochenende sechs Stunden lang mit Angehörigen der Opfer vom Breitscheidplatz getroffen. Eine Geste der Demut, aber nur eine symbolische. Gut möglich, dass mit dem Polizeiskandal nun auch echte Schadensersatzansprüche möglich werden. Denn dafür muss ein Fall von Amtshaftung vorliegen, also das schuldhafte Versäumnis des Staates nachgewiesen werden.

Die Chancen, dies darlegen zu können, steigen. Der  Berliner Anwalt Khubaib Ali Mohammed vertritt Verletzte des Attentats und Hinterbliebene. Er sagt, die neuen Enthüllungen seien ein „wichtiger und weiterer Mosaikstein“, um ein Verschulden des Staates nachzuweisen. Weil es viele Verletzte, viele Angehörige der von Amri ermordeten Männer und Frauen gibt, geht nicht nur Mohammed davon aus, dass insgesamt mehr als 100 Millionen Euro gezahlt werden müssen.

Es ist eine Zahl, die ahnen lässt, dass der Fall Amri dieses Land noch jahrelang beschäftigt.

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