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Nachts gegen eins brach in Rotterdam die Gewalt aus.

© REUTERS/Dylan Martinez

Türkei-Streit nach Rotterdam: Ein tiefer Riss geht durch die Niederlande

Jugendliche werfen Steine, Anwohner Blumentöpfe. Nach der Gewalt von Rotterdam treibt viele die Frage um, wer von der Eskalation profitiert. Ein Blick auf eine erschütterte Gesellschaft kurz vor der Wahl.

Die Nachricht, dass die türkische Familienministerin nicht kommen wird, verbreitet sich nachts gegen eins über Smartphones. „Sie wurde festgenommen“, schreien Wartende. Aber auch: „Scheiß Juden! Scheiß Wilders!“ Dann bricht die Gewalt los. Vor dem Konsulat schmeißen türkische Jugendliche Pflastersteine und Böller auf die Polizei, die antwortet mit Wasserwerfern. Ein Anwohner wirft vom Balkon einen Blumentopf auf die Demonstranten. Als nach anderthalb Stunden Krawall die Krankenwagen vorfahren, um Verletzte vor dem Konsulat zu versorgen, schreien wütende Demonstranten: „Lasst sie liegen. Es sind doch nur Türken. Ihr hasst uns doch!“ Ein Augenzeuge sagt: „Es hätte Tote geben können.“

Am nächsten Morgen sind die Spuren der Ausschreitungen noch sehr präsent – sowohl in den Straßen Rotterdams als auch in der politischen Debatte. Drei Tage vor der Parlamentswahl wird in den Niederlanden darüber gerätselt, wem der angerichtete Scherbenhaufen schadet und wem er nutzt. Ob er am Ende gar über den Wahlausgang entscheiden könnte.

Die politische Lage ist unübersichtlich. Rund 75 Prozent der Niederländer haben sich noch nicht entschieden, wem sie am Mittwoch ihre Stimme geben. Klare Favoriten gibt es nicht. Die großen Volksparteien sind eingebrochen, von den 24 zur Wahl stehenden Parteien werden es wohl zwölf bis 14 ins Parlament schaffen. Für eine Regierungsmehrheit wird man eine Koalition aus vier oder gar fünf Parteien schmieden müssen.

Nach der jüngsten Umfrage, die kurz vor den Krawallen durchgeführt wurde, liegt die rechtsliberale VVD von Ministerpräsident Mark Rutte knapp vor der rechtspopulistischen PVV von Geert Wilders. Spielen die Krawalle nun Provokateur Wilders in die Hände? Oder wird der Amtsinhaber gestärkt, weil er nach der Eskalation der vergangenen Tage die türkische Ministerin auflaufen ließ?

Wie sich die Stimmung hochschaukelte

Der Gewaltnacht von Rotterdam ging eine Reihe von Anfeindungen und Drohungen voraus. Zunächst verweigerten die Niederlande dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu die Einreise, daraufhin sprach Präsident Recep Erdogan von „Nazi-Methoden.“ Ministerpräsident Rutte wiederum nannte Erdogans Vorwurf „bizarr und unangemessen“ – und beschloss, dass die türkische Familienministerin Fatma Kaya an diesem Abend nicht in Rotterdam auftreten dürfe.

Mehrere hundert Türken versammelten sich dennoch vor dem dortigen Konsulat, sie blieben zunächst friedlich. Anwesende Bereitschaftspolizisten hielten sich zurück. Ein paar Jugendliche, die randalieren wollten, wurden laut Reportern des „Algemeen Dagblad“ von älteren Türken gestoppt: „Ruhig bleiben. Denkt an unseren Ruf.“ Am Ende nutzte es nichts.

Rotterdams Bürgermeister Ahmed Aboutaleb, Sozialdemokrat und marokkanischer Abstammung, spricht am Sonntag von einer „schändlichen Irreführung“. Der türkische Generalkonsul habe ihm versichert, dass kein Auftritt geplant sei, obwohl die Ministerin zu diesem Zeitpunkt schon im Auto unterwegs nach Rotterdam war. Die Türken hätten zudem versucht, verschiedene Autokolonnen in Marsch zu setzen, um die Polizei zu irritieren.

"Wir sind auch ein stolzes Land"

Ministerpräsident Mark Rutte meldet sich am Sonntag ebenfalls zu Wort. In einem Fernsehinterview nennt er das Geschehen in Rotterdam „inakzeptabel“. Die Niederlande ließen sich nicht erpressen. „Wir sind auch ein stolzes Land.“ In der Nacht zu Sonntag habe er, noch während die Krawalle im Gange waren, mit dem türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim telefoniert und gesagt: „Dies kann nicht wahr sein. Ich bin im falschen Film gelandet.“ Eine von der Türkei geforderte Entschuldigung lehne sein Kabinett ab. Falls die Türkei den Dialog verweigere, sei das Kabinett zu „sehr scharfen Maßnahmen“ bereit.

Mit Ausnahme der Piraten stehen alle Parteien zum Entschluss von Ministerpräsident Rutte, die türkische Ministerin Kaya als „unerwünschte Ausländerin“ des Landes zu verweisen. Vize Lodewijk Asscher, Sozialdemokrat, sagt: „In solch einem Moment kann man sich als Staat nicht erpressen lassen.“ Der Chef der linken SP erklärt, hier sei „wirklich eine Grenze überschritten worden. Rutte hat das gut gemacht.“ Weniger Lob gibt es von Geert Wilders. Auf Twitter poltert der Rechtspopulist: „Rutte hat nur Eier, wenn die PVV das verlangt und die Wahlen vor der Tür stehen.“ Er fordert, den niederländischen Botschafter aus der Türkei zurückzurufen und den türkischen Botschafter auszuweisen.

Was bedeuten die Krawalle für Geert Wilders?

Bei den Krawallen wurden zahlreiche Demonstranten verletzt.
Bei den Krawallen wurden zahlreiche Demonstranten verletzt.

© REUTERS/Dylan Martinez

Wilders könnte die Nacht von Rotterdam am Ende nicht viel bringen. Ruttes VVD hat sich in der Vergangenheit zunehmend an Wilders’ Kurs orientiert und fordert inzwischen ebenfalls eine strengere Regelung der Zuwanderung. Mit seiner klaren Entscheidung könnte Rutte von Rotterdam profitieren, weil er sich als starker Mann erwiesen hat, der sich nicht erpressen lässt.

Aber auch die Christdemokraten des CDA, einst Regierungspartei, sind nach rechts gerückt und schauen kritisch auf den Islam. Insofern könnten ihnen die Ereignisse von Samstagnacht ebenfalls in die Hände spielen. Oder dann doch lieber gleich das Original? Wilders sieht sich in allem bestätigt, was er propagiert hat. Die Frage ist, ob ihm das mit zusätzlichen Stimmen gedankt wird.

Sonntagmorgen in Amsterdam-Oost, einem Stadtteil, in dem viele türkischstämmige Niederländer leben. Ismail Sarikaya, dessen Sohn in einer belebten Einkaufsstraße eine Bäckerei betreibt, sieht müde aus. Vorige Nacht war er mit fünf Freunden in Rotterdam. Die Polizei habe sie jedoch mit dem Auto nicht bis zum Konsulat vorgelassen, die Ausschreitungen habe er nur am Smartphone verfolgt.

„Ich stehe immer noch unter Schock“, sagt der 57-Jährige, der seit 40 Jahren in Amsterdam lebt. „Das ist ein Skandal. Ich hätte nie erwartet, dass man in Holland Minister so behandelt.“ Hätten Deutschland oder Frankreich derart reagiert, wäre er nicht so überrascht gewesen, sagt er. „Holland imitiert da nur Deutschland. Weil die Reden der Minister dort verboten wurden, hat Holland jetzt nachgezogen.“

Türken wenden sich von Rutte ab

Ismail Sarikaya sagt, viele Türkischstämmige in seinem Viertel seien sehr aufgebracht. Er selbst habe jahrelang Ruttes VVD gewählt. „Die haben viel vorangebracht. Aber jetzt sind sie für mich gestorben.“ Kommenden Mittwoch werde er die vor zwei Jahren gegründete Einwandererpartei Denk wählen.

Nicht weit entfernt in einem Schneiderladen unterhält sich Inhaber Zeki Korkmaz mit zwei Bekannten. Die Stimmung ist aufgeheizt. Der 50-Jährige kritisiert, dass Türkeistämmige in den Niederlanden sowohl von Den Haag als auch von Ankara für die jeweiligen Wahlkampagnen benutzt worden seien. Dann holt er das Handy aus der Tasche, um das Bild eines in Rotterdam von einem Polizeihund gebissenen türkischen Demonstranten zu zeigen. „Ist das etwa normal? Darf man einen Menschen so behandeln?“

Eigentlich habe Korkmaz im türkischen Referendum zur Verfassungsänderung nicht wählen wollen, aber das sei jetzt anders. „Nachdem, was gestern Abend in Rotterdam passiert ist, werde ich extra nach Zentralanatolien fahren, um dort meine Stimme abzugeben. Ich stimme auf alle Fälle für die Verfassungsänderung.“ Er seufzt. „Die Reaktion der holländischen Regierung hat die Türken hier erst richtig zusammengeschweißt.“

Auch er werde bei den Wahlen am Mittwoch sein Häkchen für die Einwandererpartei Denk machen. „Wir haben große Erwartungen an sie“, sagt er. „Der Rassismus und die Islamophobie in Holland haben extrem zugenommen, da muss sich endlich etwas ändern.“ Dann sagt er noch: „Gestern haben wir gesehen, wie sie auf Journalisten und Demonstranten eingeprügelt haben. Und dann zeigen sie auf die Türkei und bemängeln die Zustände dort. Sie sagen immer, dass es dort keine Pressefreiheit gibt.“ Aber jetzt sei klar, dass die Demokratie in der Türkei viel stärker sei als in den Niederlanden.

Längst nicht alle sind dieser Meinung. Der türkische Maler Mustafa Sener, 71, der seit den frühen Siebzigern in Amsterdam lebt, kritisiert die heftigen Reaktionen aus Ankara. „Wenn ein Präsident eine Regierung als ‚Nazi-Überbleibsel‘ beschimpft, kann diese ihn und seine Minister doch nicht willkommen heißen. Irgendjemand muss Erdogan und der AKP auch mal die Stirn bieten und sich nicht alles gefallen lassen.“ Genau das sei in Holland jetzt passiert.

Den politischen Schaden in diesem Streit trügen vor allem die Niederlande davon, sagt Adriaan Schout vom Thinktank Clingendael. Bei möglichen Sanktionen seitens der Türkei müsse man abwarten, wen das besonders treffe, der türkischen Wirtschaft gehe es momentan nicht so gut. Allerdings würde durch die niederländische Ablehnung der Einreise das nationalistische Gefühl der Türken erst recht angefacht. Das sei ein Pluspunkt für das Referendum der Türken. Wahrscheinlich hätten auch die anstehenden Wahlen Rutte zu seiner Entscheidung bewogen, aber der habe sowieso keine Alternative gehabt. „Das war keine Herzensentscheidung“, sagte Schout der „Volkskrant“, aber „für ein Land von Recht, Demokratie und freier Meinungsäußerung wie den Niederlanden ist dies zweifellos ein sehr schwerwiegender Beschluss gewesen.“

"Wir sehen das definitive Ende dieses Systems": Ein Interview mit dem Schriftsteller Geert Mak über die Niederlande vor der Wahl.

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