zum Hauptinhalt
Keine Ausnahme. Der Zustand in Diyarbakir, im kurdischen Südosten der Türkei, bessert sich seit Monaten kaum.

© Reuters

Türkei gegen PKK: Viele Kurden wollen bleiben – trotz Bürgerkrieg

Der türkische Staat zeigt Härte und will die PKK-Rebellen treffen. Die wiederum sollen diesen Mittwoch zwei Sicherheitskräfte getötet haben, der Region droht Bürgerkrieg.

In der sonntäglichen Mittagshitze steht Ahmet, der seinen richtigen Namen lieber nicht nennt, auf einem Dach in Sur, der Altstadt von Diyarbakir, und beobachtet, wie Bagger sein Haus demolieren. An einer Wäscheleine hinter ihm trocknen, wie Perlen aufgereiht, Auberginen und Paprika. Staub steigt auf, als eine Wand krachend zusammenbricht.

„Es ist das zweite Mal, dass ich denen dabei zuschaue, wie sie mein Haus abreißen“, sagt der 33-Jährige. Beim ersten Mal war er neun Jahre alt. Damals, in den 90er Jahren, als der Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans, der PKK, seinen Höhepunkt erreicht hatte, brannten Soldaten sein Dorf nieder. Zusammen mit Tausenden zog seine kurdische Familie nach Sur: „Wir haben alles zurücklassen müssen. Ich hatte nicht mal Schuhe, als wir in Diyarbakir ankamen.“ Ahmet schaut an sich herab. „Wenigstens die habe ich diesmal retten können.“

Symbol für die Spaltung des Landes

In der Türkei wird wieder gekämpft, internationale Beobachter sprechen sogar von einem Bürgerkrieg im kurdischen Südosten. Diyarbakir ist dabei zum Symbol geworden für die Spaltung des Landes. Kaum irgendwo wird der Konflikt zwischen dem Staat und den rebellierenden Kurden so offen ausgetragen.

Dabei schien doch alles besser zu werden. Die Regierung verhandelte ab 2013 mit der PKK über Frieden, zwei Jahre hielt die Waffenruhe. Selbst Touristen kamen wieder nach Diyarbakir, Hotels wurden eröffnet.

Im benachbarten Syrien erklärten sich die Kurden zu einem selbstverwalteten Autonomiegebiet. Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan warnte davor. Im Sommer 2015 riefen kurdische Aktivisten in verschiedenen Städten dennoch die „Selbstverwaltung“ aus, auch in Diyarbakir. Die Regierung verhängte eine monatelange Ausgangssperre, rückte mit Panzern an. Tausende PKK-Kämpfer wurden seitdem getötet, hunderte Soldaten der türkischen Armee. Allein in Sur starben 100 Menschen, darunter Kinder.

Wo sich einst PKK-nahe Milizen hinter Barrikaden, Gräben und Sprengfallen verschanzt hatten, soll nichts mehr an den Widerstand erinnern. Eine halbe Million Männer, Frauen und Kinder haben ihre Wohnungen verlassen, ganze Stadtviertel wurden durch die Kämpfe zerstört. Und das in einem Land, in dem schon 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge leben.

Erdogan verlängert Ausnahmezustand

In dieser Woche kündigte Staatspräsident Erdogan an, den Ausnahmezustand bis ins nächste Jahr verlängern zu wollen. Begründet hat er das mit dem Putschversuch vom Juli. Erdogan hatte im Südosten auch Bürgermeister wegen mutmaßlicher Unterstützung der PKK entlassen und durch Zwangsverwalter ersetzt. Betroffen sind meist Gemeinden, denen die prokurdische, linke HDP vorsteht. Der bislang legalen Partei werfen Islamisten und Konservative vor, militante Kurden zu unterstützen.

Ahmets Familie verließ auf Anweisung der Polizei im November ihr Haus, sie kamen bei Verwandten unter. Kaum eine Tasche, erzählt er, hätten sie packen können. Unter der Woche verkauft Ahmet im Stadtzentrum gekühlten Süßholzwurzelsirup, eine regionale Spezialität. Im Monat verdient er damit 500 Türkische Lira, knapp 150 Euro. Was er im Winter machen wird, weiß er nicht.

In Ankara hat die islamische AKP-Regierung angekündigt, Sur erneuern zu lassen. Dabei zählen Teile der Altstadt zum Unesco-Weltkulturerbe. Ahmet befürchtet, dass er nicht zurückkehren kann: „Reiche Leute werden nach Sur ziehen. Wie sollte ich mir so ein renoviertes Haus leisten können?“ Den Bewohnern bietet die Regierung Neubauwohnungen am Stadtrand zum Kauf an. Für die zerstörten Häuser soll es Entschädigungen geben, wie viel, weiß niemand. Damit ist Ahmet nicht einverstanden. „Alles, was ich will, ist mein Haus“, sagt er. Der Staat solle sich nicht einmischen – er wolle weder deren Geld, noch deren Neubauwohnung. „Wenn es sein muss, baue ich lieber ein Zelt auf den Ruinen auf, als Sur zu verlassen.“ Ahmet ist wütend und fassungslos über das weltweite Desinteresse an der Lage der Kurden in der Türkei. Er nickt mit dem Kopf in Richtung der zerstörten Altstadt. Bauarbeiter werfen Teppiche und Bettzeug von einem Gebäude. Die Bagger schieben den Bauschutt zu einem Haufen zusammen. „Hier sieht es aus wie in Syrien“, sagt er. „Was ist mit den Menschenrechten, gelten die für uns nicht?“

Wie viele Kurden in der Türkei fühlt sich Ahmet von der Europäischen Union alleingelassen. „Die haben uns für die Flüchtlinge verkauft.“ Er meint das Asyl-Abkommen zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Erdogan. Immerhin wurde HDP-Chef Selahattin Demirtas am Donnerstag in Berlin von Außenminister Frank-Walter Steinmeier empfangen. In der Türkei droht Demirtas eine Haftstrafe.

Die meisten Läden entlang der Hauptgeschäftsstraße in Diyarbakir sind zwar wieder geöffnet, doch die Hälfte der Altstadt ist gesperrt. Gassen sind durch Polizeigitter blockiert und mit Plastikplanen verhängt. Betonblöcke versperren die Tore der antiken Stadtmauer. Türkische Fahnen wehen von Minaretten und Gebäuden. Gepanzerte Polizeifahrzeuge patrouillieren durch die Straßen.

Optimisten sahen Präsident Erdogan und PKK-Chef Öcalan als künftige Nobelpreisträger

„Der türkische Staat benimmt sich wie eine Besatzungsmacht“, sagt ein Teehausbesitzer trocken. Ein paar Straßen weiter sitzt ein Händler in seinem halbleeren Käsestand. Mehr als 20 Käsesorten habe er noch vor einem Jahr verkauft, nun sind es fünf. Die meisten Kunden hätten Sur verlassen, an manchen Tagen verkaufe er gar nichts. Sein Haus sei von Baggern schon plattgemacht worden. Seinen Namen möchte auch er nicht nennen, ein Verwandter sitze derzeit im Gefängnis, angeklagt wegen Mitgliedschaft in der PKK. „Diese ganzen Toten, diese Gewalt – so kommen wir zu keiner Lösung. So viele türkische Regierungen haben das doch schon versucht. Sie haben unsere Dörfer zerstört, unsere Wälder abgebrannt, jetzt liegen auch unsere Städte in Trümmern.“ Dabei könne Präsident Erdogan diesen Konflikt, sagt der Käseverkäufer, mit einem einzigen Satz beenden.

Erdogan verhandelte 2013 mit der PKK, ein Friedensabkommen schien möglich – nach mehr als 30 Jahren Kampf und 40 000 Toten. Optimisten sahen Erdogan und PKK-Chef Abdullah Öcalan bereits als künftige Nobelpreisträger. Öcalan ist seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftiert. Anlässlich des Opferfestes vor ein paar Wochen durften ihn zum ersten Mal seit Langem Verwandte besuchen.

Sein Bruder Mehmet kehrte mit der Botschaft von der Gefängnisinsel zurück, dass die PKK neuen Friedensverhandlungen zustimmt. „Wenn die Regierung bereit ist, sollen sie zwei Leute schicken und wir werden binnen sechs Monaten eine Lösung finden. Dieser Krieg ist keiner, den eine Seite gewinnen kann“, ließ Öcalan seinen Bruder auf einer Pressekonferenz in Diyarbakir ausrichten. Ministerpräsident Binali Yildirim ließ verlauten, es werde so keine Lösung geben. Nach dem Putschversuch vom 15. Juli haben sich die Fronten verhärtet.

"Es fühlt sich an, als wäre eine Junta an der Macht.“

„Ich bin Kurde, aber ich lebe doch auch als Bürger in diesem Land“, sagt der Käsehändler. Auch in Diyarbakir seien die Menschen in der Nacht vom 15. Juli auf die Straße gegangen, um gegen den Militärputsch zu protestieren. „Ich mag Erdogan nicht, aber als wir ihn in dieser Nacht auf dem Handybildschirm im Fernsehen sahen, da habe ich für ihn gebetet.“

Als der Staatschef dazu aufrief, gegen die Putschisten auf die Straße zu gehen, seien auch sie seinem Ruf gefolgt. Egal, wie unzufrieden man mit einer gewählten Regierung ist, sie sei einer Militärjunta vorzuziehen. „Wir haben hier schon einige Putsche erlebt, und jedes Mal waren die Folgen für uns Kurden schrecklich.“ Er pausiert, als eine Kundin nach Ziegenkäse fragt. Die Vorräte habe er aufgrund der Ausgangssperre wegwerfen müssen. Die Kundin geht weiter.

„Dieses Mal wurde der Putsch niedergeschlagen“, sagt der Käseverkäufer. „Trotzdem fühlt es sich an, als wäre eine Junta an der Macht.“ Mittlerweile hat die Regierung die „Säuberungsaktionen“ gegen angebliche Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, den Ankara für den Putschversuch verantwortlich macht, auch auf die Kurden ausgeweitet. Die Gülenisten und die PKK seien dasselbe, sagte Erdogan. „Das ist absurd“, kommentiert ein kurdischer Journalist in Diyarbakir. „Gülen hasst die Kurden und hat sich gegen den Friedensprozess mit der PKK ausgesprochen.“

Die Regierung nutzt den Ausnahmezustand, den sie nach dem Putschversuch verhängte. Die kurdische Tageszeitung „Özgür Gündem“ wurde im August geschlossen, und der in Diyarbakir ansässige Fernsehsender „Özgür Gün TV“ kurzerhand vom staatlichen Satellitenanbieter Türksat geschmissen. Am Freitag wurde bekannt, dass 20 weitere Sender unter dem Vorwurf terroristischer Propaganda schließen mussten. Darunter ist auch der kurdischsprachige „Zarok TV“ – ein Kinderkanal, der unter anderem Zeichentrickfilme wie „Die Biene Maja“ ins Kurdische übersetzt und ausstrahlt.

„Alle Reporter in der Region suchen entweder einen anderen Job oder wollen ins Ausland“, sagt ein Journalist in Diyarbakir. „Selbst wenn wir es schaffen, von hier zu berichten sind ja kaum noch Medien übrig, die diese Berichte veröffentlichen können.“ Die Medien sind nicht die einzigen, die den Druck zu spüren bekommen. Wenige Tage vor Beginn des neuen Schuljahres im September suspendierte das Bildungsministerium rund 11 000 Lehrer weil es ihnen vorwarf, Unterstützer der PKK zu sein, 4 000 von ihnen arbeiteten in Diyarbakir.

Am gleichen Tag, an dem man Mehmet Öcalan zu seinem berühmten Bruder auf die Gefängnisinsel fahren ließ, setzten die Behörden per Notstandsdekret Zwangsverwalter für 24 Städte ein, unter anderem auch in Sur. Ankara beschuldigt die dort meist für die prokurdische HDP gewählten Bürgermeister, Verbindungen zur PKK zu unterhalten.

„Nach dem Putsch sprachen sie vom Sieg der Demokratie“

Idris Baluken, Abgeordneter der HDP, sitzt im Parteihauptquartier in Diyarbakir: „Warum gibt es überhaupt noch Wahlen, wenn ein Politiker, der mit mehr als 70 oder sogar 80 Prozent der Stimmen ins Amt gewählt wurde, einfach von der Regierung abgesetzt werden kann?“ Sein Assistent schaut zur Tür herein, tippt auf seine Armbanduhr, es sei Zeit zu gehen. Baluken hebt die Hand, eine Minute, etwas müsse er noch sagen. Zwangsverwaltung per Notstandsdekret durchzusetzen sei unehrlich, sagt er. Im August habe das Parlament einen solchen Vorschlag der AKP-Regierung einstimmig abgelehnt: „Damit gibt Erdogan zu verstehen, er habe immer das letzte Wort, egal, was das Parlament beschließt. Das bedeutet, dass nicht das Parlament, sondern Erdogan die Türkei regiert.“

In einem kleinen Teehaus in Sur wird die Nachricht, dass der Bezirk und 23 weitere Rathäuser in der Region jetzt von der AKP geleitet werden, mit Resignation zur Kenntnis genommen. Der Teehausbesitzer zuckt mit den Schultern, während er gekonnt die vollen Teegläser auf einem Tablett balanciert. „Nach dem Putsch haben sie überall vom Sieg der Demokratie gesprochen“, sagt er. „Aber Demokratie und der vielbesungene Willen des Volkes, gelten wohl nur, wenn es der AKP passt.“ Protest erwartet er diesmal jedoch nicht. „Die Leute hier haben Angst. Es herrscht Demonstrationsverbot. Sobald mehr als drei Leute zusammenkommen, rückt die Polizei an.“ Ein Gast, der selbst im Rathaus arbeitet, mischt sich ein. „Es war doch sowieso die Regierung, die hier in Sur alle Entscheidungen traf. Die Stadt war nur noch für die Müllabfuhr zuständig.“

Ministerpräsident Yildirim kündigte bei einem Besuch in Diyarbakir kürzlich ein Förderpaket von drei Milliarden Euro für den Wiederaufbau der zerstörter Städte an. 67 000 Wohnungen, Krankenhäuser, Fabriken, Stadien und Polizeistationen sollten entstehen.

Ahmet, der Süßholzsirup-Verkäufer, winkt ab. „Das haben wir hier schon so oft gehört. Türkische Regierungen haben uns über die Jahre immer Wohnungen und Fabriken versprochen. Aber nichts hat sich geändert.“ Natürlich seien Wohnungen und Jobs wichtig. „Aber wir sind doch keine Bittsteller. Es ist falsch, die Kurdenfrage als Geldproblem zu behandeln. Wir wollen ihre Almosen nicht, sondern unsere Rechte.“ Ahmet gestikuliert in Richtung der Ruinen, der Bagger, der Staubwolken. „Ich will keine schicke Neubauwohnung. Ich will nicht das Sur, das die Regierung uns vorschreibt. Ich bin arm, das stimmt. Aber Sur war mein Zuhause.“ Die Altstadt sei doch das Herz von Diyarbakir. „Wenn uns das genommen wird, was bleibt dann noch?“

Constanze Letsch

Zur Startseite