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Hilfe zur Selbsthilfe. Houssam Aldeen hat in Berlin den Verein „Salam“ gegründet. Syrische Flüchtlinge unterstützen sich dort gegenseitig, in Deutschland Fuß zu fassen.

© Georg Moritz

Syrischer Flüchtling erzählt: Überlebenskampf auf dem Stahlkutter

Fünfeinhalb Stunden war die Familie von Houssam Aldeen auf einem Flüchtlingsschiff eingepfercht. „Diese Überfahrten sind ein Überlebenskampf“, sagt der Syrer. Schuld daran sei auch die deutsche Bürokratie.

Nur wenige Wochen nachdem er in Berlin Familiennachzug beantragt hatte, ahnte Houssam Aldeen, dass der Plan, den er zwei Jahre zuvor in Syrien geschmiedet hatte, nicht aufgehen würde. Er würde seine Familie nicht retten können.

Zwei Jahre lang hatte er da schon gekämpft, um seine Eltern und die beiden Geschwister auf sicherem Weg nach Deutschland zu bringen. In jedem Fall wollte Houssam verhindern, dass seine Familie in einem Boot das Mittelmeer überqueren muss. Dass sie jene Fluchtroute nehmen, die er auch „Russisch Roulette“ nennt.

„Doch am Ende hatten sie keine andere Wahl“, sagt der heute 36-Jährige auf Englisch und knetet seine Hände. Der Syrer ist ein nachdenklicher, ernster Mann mit traurigen Augen. Man glaubt ihm, wenn er sagt, er habe alles versucht.

Mitte September, ein Jahr nachdem Aldeen Familiennachzug beantragt hatte, stiegen seine Mutter, 54, seine Schwester, 32, und sein Bruder, 34, an der libyschen Küste mit 700 anderen Flüchtlingen auf ein Schiff, das eigentlich für 70 Menschen zugelassen war. Das erfuhr Aldeen später von seinem Bruder. Denn die Familie hatte Glück. Ein italienisches Militärschiff entdeckte nach nur fünfeinhalb Stunden auf See den völlig überfüllten Stahlkutter, auf den die Schlepper die drei Syrer gepfercht hatten. Die Italiener brachten die Flüchtlinge nach Sizilien.

Kein Tag vergeht, ohne dass sie an ihre Überfahrt denken

Fast 1000 Menschen sind allein in diesem Jahr bei der gefährlichen Überfahrt ertrunken oder werden vermisst.
Fast 1000 Menschen sind allein in diesem Jahr bei der gefährlichen Überfahrt ertrunken oder werden vermisst.

© dpa

Obwohl alles gut lief, vergeht bis heute, sieben Monate später, kein Tag, an dem Aldeens Angehörige nicht von jenen fünfeinhalb Stunden erzählen. „Sie sind immer noch im Schockzustand“, sagt er.

Houssam Aldeen selbst ist seitdem wütend. Auf die Schlepper, denen der Profit wichtiger ist als Menschenleben, die viel zu viele Menschen auf seeuntüchtige Schiffe packen. Vor allem aber ist er wütend auf die europäische Asylpolitik. „Sie zwingt Menschen, ihr Leben zu riskieren, um zu überleben.“ Er sitzt im Lokal des Vereins „Salam“, was Frieden heißt, nicht weit vom U-Bahnhof Gesundbrunnen. Aldeen hat den Verein vor einem Monat gegründet, es ist eine Art Selbsthilfegruppe syrischer Flüchtlinge in Berlin. „Mein Verein soll helfen, in Deutschland anzukommen“, sagt Aldeen. Und nach einer Pause: „Vor allem wollen wir uns gegenseitig unterstützen, um nach allem, was wir erlebt haben, überhaupt weiterleben zu können.“

Aldeens Geschwister und seine Mutter, die eigentlich selbst von ihrer Flucht erzählen wollten, sind nicht gekommen. Sie sind in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung in Spandau geblieben, in der die drei seit Januar wohnen, seit das deutsche Asylgesetz sie nicht mehr zwingt, in einem Asylbewerberheim zu leben. Trotzdem verlassen sie die Wohnung kaum. „Alle drei sind depressiv“, sagt Aldeen und starrt auf die Tischplatte vor ihm. „Der Krieg, das Exil, die Flucht – das war alles zu viel.“

Welche Probleme Aldeen mit den deutschen Behörden hatte

Immer wieder müssen Flüchtlinge von der italienischen Marine gerettet werden.
Immer wieder müssen Flüchtlinge von der italienischen Marine gerettet werden.

© AFP

Er blickt in dem Ladenlokal um sich, in dessen Mitte er an einem Holztisch sitzt. Der Raum sieht aus wie ein syrisches Gästezimmer, wie es alle wohlhabenden Familien hatten, so wie es auch die Aldeens hatten. An den Wänden stehen niedrige verzierte, schwarz-silberne Bänke, darauf bunte Kissen, davor zierliche Tischchen. Fünf Männer sitzen auf den Bänken, trinken schwarzen Tee und rauchen, spielen Dame, unterhalten sich auf Arabisch. „Dabei hat meine Familie Riesenglück gehabt. Wir alle hier wissen, wie schlimm es kommen kann.“

Dann erzählt er von einer Bekannten, die neun Angehörige im Mittelmeer verloren hat. Von den Schwarzafrikanern, die meist weniger Geld als die Syrer haben, und die auf den Schiffen in den Maschinenraum und ins unterste Deck gepfercht werden, die dort manchmal ersticken.

Die meisten Menschen, die keine legale Möglichkeit haben, nach Europa zu gelangen, wählen den Weg übers Mittelmeer. Von den etwa 276 000 Migranten, die laut Europäischer Kommission im vergangenen Jahr ohne Visum einreisten, kamen 80 Prozent auf dem Seeweg. Die meisten von ihnen, 170 000 Menschen, wurden nach Angaben der Grenzschutzagentur Frontex, auf der zentralen Mittelmeerroute aufgegriffen.

Die Route, die von Libyen nach Malta oder Griechenland führt, ist nicht nur eine der gefährlichsten, sie ist zurzeit mit einem Preis ab 1000 Euro pro Person auch die günstigste. Ein Flug nach Frankfurt mit falschem Pass kostet bis zu 10 000 Euro.

Wie viele Flüchtlinge bei der Überfahrt sterben, weiß niemand genau. Nach Angaben der International Organization for Migration sind im Jahr 2014 im Mittelmeer 3300 Menschen gestorben oder verschwunden. In den ersten drei Monaten dieses Jahres sind der Organisation zufolge bereits 1500 Menschen im Mittelmeer umgekommen.

Als im Herbst 2011 sein Haus in Damaskus zerbombt wurde, beschloss Houssam Aldeen, ein Fernseh- und Radio-Journalist, der in Damaskus eine Arabisch-Sprachschule führte, dass seine Familie Syrien schnell verlassen müsse. Doch er war sicher, dass seine Eltern und seine Geschwister in den Nachbarstaaten von Syrien kein würdiges Leben führen könnten, dass sie als Flüchtlinge verfolgt, dass sie keine Arbeit finden würden. Deshalb schmiedete er, der älteste Sohn, seinen Plan. Er würde alleine nach Deutschland reisen und seine Familie dann auf legalem Weg nachholen. Er hatte von Bekannten gehört, dass das in Europa leicht gehe. Houssam Aldeen wollte nach Deutschland, weil er schon ein paar Mal dort gewesen war, auf Konferenzen der NGO „Reporter ohne Grenzen“, für die er sich engagiert.

Er selbst kam auf dem Landweg nach Deutschland

Ohne diesen Zettel geht in Deutschland gar nichts. Doch auch wer eine Aufenthaltserlaubnis bekommt, hat es nicht leicht, seine Familie nachzuholen.
Ohne diesen Zettel geht in Deutschland gar nichts. Doch auch wer eine Aufenthaltserlaubnis bekommt, hat es nicht leicht, seine Familie nachzuholen.

© dpa

Er selbst kam nicht übers Mittelmeer, sondern über Land. Im Herbst 2011 fuhr er von Syrien aus nach Deutschland, mit dem Bus nach Istanbul, heuerte dort einen Schlepper an, der ihn für 4000 Euro auf einen Laster schmuggelte, der nach München fuhr.

Bevor er in den Lastwagen stieg, hatte er noch versucht, ein Schengen-Visum zu bekommen. Doch dafür sollte er finanzielle Mittel nachweisen, was er nicht konnte.

Im Jahr 2010, vor Ausbruch des Syrien-Kriegs, vergab die Europäische Union noch fast 35 000 Schengen-Visa an Syrer. 2013 lag die Zahl fast bei null. Kaum jemand kann noch die Anforderungen erfüllen. Die EU hat zwar schon mehrmals angekündigt, die legale Einreise in den Schengen-Raum zu erleichtern. Doch bisher blieb es beim Vorhaben. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen hat gerade erst einen Aktionsplan veröffentlicht, um Flüchtlingen sichere Einreisemöglichkeiten nach Europa zu gewähren. Doch auch dieser Plan existiert bisher nur auf dem Papier.

Fast zwei Jahre verbrachte Aldeen in bayerischen Asylbewerberheimen, wartete auf eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Nur damit, das wusste er jetzt, könnte er seinen Plan vorantreiben, in Deutschland Familiennachzug zu beantragen. Als er das Papier im Herbst 2013 endlich in den Händen hielt, zog er nach Berlin. Am Tag seiner Ankunft registrierte er sich beim Einwohnermeldeamt, am folgenden Tag beantragte er in der Ausländerbehörde, seine Eltern und seine Geschwister nach Deutschland holen zu dürfen. Ein Beamter sagte ihm, er brauche Dokumente der Familie. Und er informierte Aldeen darüber, dass er den Lebensunterhalt seiner Verwandten sichern müsste. Er müsse beweisen, dass seine Familie nicht „in die deutschen Systeme der sozialen Sicherung“ einwandern wolle.

Aldeens Familie hatte Syrien mittlerweile verlassen. Auch das Haus der Eltern und die Wohnungen der Geschwister in Damaskus waren zerstört worden, sie besaßen keine Dokumente. Gerade lebten die vier in Istanbul. Aldeen beauftragte seinen Bruder, gefälschte Dokumente zu besorgen.

Schon davor hatte Aldeen begonnen, nach einem Job zu suchen. Über seine Kontakte bei „Reporter ohne Grenzen“ erhielt er Aufträge von französischen TV-Sendern. Er begann für den syrischen Exilsender Baladna FM zu arbeiten. Was er verdiente, reichte gerade für eine kleine Wohnung in Spandau und für Lebensmittel.

Dokumente des Islamischen Staates werden nicht akzeptiert

Flüchtlinge aus Syrien, wie die Familie von Houssam Aldeen, haben meist alles Verloren. Ihr Haus, ihre Angehörigen - und wichtige Dokumente, die sie für eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland bräuchten.
Flüchtlinge aus Syrien, wie die Familie von Houssam Aldeen, haben meist alles Verloren. Ihr Haus, ihre Angehörigen - und wichtige Dokumente, die sie für eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland bräuchten.

© dpa

Ein junger Mann im Jackett kommt jetzt ins Vereinslokal von „Salam“. Aldeen lacht, als er ihn begrüßt, zum ersten Mal an diesem Vormittag. Auch der junge Mann freut sich. „Vor zwei Tagen hat er noch geweint“, sagt Aldeen.

Der junge Mann, der seinen Namen nicht nennen will, ist wie Aldeen alleine nach Deutschland gezogen, mit dem Plan, seine Frau nachzuholen. Auch er bekam Probleme. Die Behörden erkannten seine Heiratsurkunde nicht an. Das Dokument trägt den Stempel des Islamischen Staats. Vor zwei Tagen hat der junge Mann einen Mann aufgetrieben, der für 1500 Euro eine gefälschte Heiratsurkunde aus Syrien beschaffte. „Gefälschte Dokumente für Syrer sind gerade ein riesiges Geschäft“, sagt Aldeen.

Nachdem seine Familie in Istanbul Dokumente bekommen hatte, wollte sie nach Jordanien. Dort hofften Aldeens Geschwister einfacher Arbeit zu finden, Geld zu sparen für das Leben in Deutschland. Doch als sie am Flughafen von Istanbul eincheckten, sagte man ihnen, dass Syrer nicht mehr in das Land einreisen dürften.

Etwa zu dieser Zeit starb Houssam Aldeens Großvater in Syrien. Aldeens Vater machte sich auf den Weg nach Damaskus, um die Beerdigung zu organisieren. Seitdem ist er eingeschlossen. Bis heute konnte er das Land nicht verlassen.

„Nach einem halben Jahr in Istanbul beschloss mein Bruder, doch den Weg übers Mittelmeer zu gehen“, sagt Aldeen. Er schlägt sich die Hände vors Gesicht. „Meine Familie hatte nach mehr als zwei Jahren im Exil fast alle Ersparnisse aufgebraucht.“

Aldeens Familie besaß im August 2014 noch etwas mehr als 10 000 Euro. Sie organisierten Flugtickets für Algerien, das einzige Land der Region, in das Syrer zurzeit unkompliziert einreisen können.

1500 Euro zahlten sie dem Schlepper. Pro Person

Wer es nach Deutschland schafft, wird (wie hier in Dortmund) in einer Erstaufnahmeeinrichtung untergebracht. Doch die Bundesländer sind vom Zustrom der Asylbewerber oft überfordert.
Wer es nach Deutschland schafft, wird (wie hier in Dortmund) in einer Erstaufnahmeeinrichtung untergebracht. Doch die Bundesländer sind vom Zustrom der Asylbewerber oft überfordert.

© dpa

In Algerien kontaktierten die drei den Schlepper, die Telefonnummer hatten sie von Bekannten. Jeder zahlte 1500 Euro. Ein Mann brachte sie im Auto nach Tunesien, weiter nach Libyen, dort in eine kleine Wohnung in der Küstenstadt. „Meine Familie hat erzählt, dass schon so viele Leute warteten, dass sie sich gar nicht hinsetzen konnten, dass um jeden Zentimeter gekämpft wurde.“ Schon diese Zeit, ist er heute sicher, hat seine Familie verstört. „Einen Monat blieben sie in dieser Wohnung, sie durften nicht raus. Schließlich konnte es jeden Moment losgehen.“

Die Schmuggler, so erzählten es später seine Geschwister, brachten Aldeens Familie als eine der letzten mit einem Schlauchboot auf einen Stahlkutter, mit dem sie nach Sizilien übersetzen sollten. Überall saßen und standen da schon Menschen. Bevor es losging, erklärte einer der Schlepper an Deck, dass sie, die oben waren, notfalls mit Gewalt, verhindern sollten, dass die Menschen, die im Maschinenraum und in den unteren Etagen untergebracht waren, nach oben kommen. Das Schiff könnte sonst kentern. Houssam Aldeen schüttelt den Kopf, als er davon erzählt. „Diese Überfahrten sind ein Überlebenskampf.“

Als Houssam Aldeen seiner Mutter im September endlich gegenüberstand, erkannte er sie fast nicht wieder. „Sie war so mager, so gealtert“, sagt er heute und atmet schwer.

Bei ihrem Sohn bleiben durfte sie erst mal trotzdem nicht. Nachdem seine Familie in Berlin Asyl beantragt hatte, musste sie in eine Gemeinschaftsunterkunft in Hamburg ziehen. Erst im Januar durften sie zu Houssam Aldeen nach Spandau.

Flüchtlinge haben ein Gesicht. In unserem großen Dossier "Nahaufnahmen" stellen wir sieben von ihnen vor

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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