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Identitätsnachweis. Daniel Molitor (vorne) ist in vierter Generation Bergmann. Er wird der letzte seiner Familie sein.

© privat

Sozialdemokratie in Nordrhein-Westfalen: Mit den Zechen verschwindet im Pott die SPD

Ein Bergmann, der ein Foodblog mit veganen Rezepten betreibt? Daniel Molitor ist sein eigener kleiner Strukturwandel. Er versucht zu finden, was die Sozialdemokraten seiner Heimat nie geben konnten: eine neue Identität.

Manchmal, wenn er seine Kollegen herausfordern will, bringt Daniel Molitor ihnen etwas zu essen mit. Neulich gab es Rote-Bete-Suppe. Molitor hört sich dann ihre Sprüche an, über ihn, den Vegetarier, der in seiner Freizeit kocht und einen Foodblog betreibt, auf dem er vegane Rezepte veröffentlicht: „Ich hab’ dich neulich auf der Weide beim Grasen gesehen.“ Dass es einigen Kollegen trotzdem schmeckt, ist eine kleine Revolution. Er sagt: „Viele nehmen sich lieber Kotelett und Sauerkraut mit in den Schacht.“

Der Schacht, das ist das Bergwerk Prosper-Haniel in Bottrop. Die letzte noch aktive Zeche im Ruhrgebiet, einer Gegend, die solcher Steinkohlestollen wegen ein Mythos ist. Der Pott, die hier geförderte Kohle und der hier geschmolzene Stahl haben Deutschlands Industrialisierung ermöglicht, es machte aus Dörfern Großstädte, hat Molitors Vater, Großvater und Urgroßvater ernährt, Einwanderer empfangen und integriert. Schimanski ist ein polnischer Name.

Und er befindet sich seit einem halben Jahrhundert schon in einer Phase, die von Bürokraten „Strukturwandel“ genannt wird. Er hat nun auch diejenigen getroffen, die ihn seit Jahrzehnten mutig betrieben, weil sie hier nahezu ununterbrochen regierten. Die nur vielleicht die einzigen waren, die ihn selbst nicht mitgemacht haben. Es traf die SPD. Sie wird das Land in nächster Zukunft nicht mehr regieren. Ausgerechnet hier, im Kernland der Arbeiterklasse, erlitt die SPD bei der zurückliegenden Landtagswahl ihre größten Verluste. Warum ist das so?

In Bottrop lagen die Sozialdemokraten 2012 noch bei satten 50 Prozent, sie verloren zwölf Prozentpunkte. In Gelsenkirchen, Dortmund, Bochum sah es nicht besser aus, in Duisburg büßte die Partei 14 Punkte ein. Weit mehr als im NRW-Schnitt, wo die Verluste mit acht Prozentpunkten fast milde ausfielen.

Die größten Verluste - ausgerechnet hier

Als Hannelore Kraft sich am Abend des Wahlsonntags vor die Kameras stellte und als Konsequenz aus der Niederlage von allen Parteiämtern zurücktrat, sprach sie ziemlich genau eine Minute lang – und endete mit den Worten „Glück auf!“, dem Bergmannsgruß.

Es war ein Gruß in die Vergangenheit, als die Ruhrkohle noch begehrt war. Seit Jahrzehnten ist das vorbei. Die Kohle wurde zu teuer, Stahlkrisen folgten. Subventionen flossen. Deutschlands Motor wurde zum Kostgänger. Am 31. Dezember 2018 wird auch Prosper-Haniel schließen, die letzte von einst mehr als 3000 Zechen. Die Phantomschmerzen im Ruhrgebiet haben längst eingesetzt. Bergarbeiterkinder zogen weg oder ergriffen andere Berufe als ihre Väter. Diejenigen Jungen, die sich wie der 29 Jahre alte Daniel Molitor dennoch dafür entschieden, in die Förderkörbe zu steigen und in die Schächte einzufahren, werden sich als letzte ihrer Art in eineinhalb Jahren eine neue Arbeit suchen müssen.

Rote Bete statt Kotelett. Büromenschen- und Freizeitsportlerkost, verzehrt in anderthalb Kilometern Tiefe, neben ratternden Förderbändern und Presslufthämmern. Bei Temperaturen, die bei über 30 Grad liegen und wo der Umgangston ruppig ist, schwarzer Staub, Kohle und Ruß sich in die Nasen setzen, in die Ohren, auf die Wimpern und unter die Nägel. Molitor ist ein junger Mann von heute, sein eigener kleiner Strukturwandel.

Die tätowierten Arme glänzen, als wären sie nie mit einem Stück Kohle in Berührung gekommen. Er muss erst am Abend wieder in den Schacht, noch ist er daheim, im Garten. Daniel Molitor arbeitet im Bergbau, seit er aus der Realschule raus ist. Er ist Elektriker, repariert Förderbänder. Er baut die schweren Geräte an der einen Stelle ab, wenn aus einem Stollen alle Kohle herausgeholt worden ist, um sie dann im nächsten wieder aufzubauen. Schraube für Schraube, Kabel für Kabel.

Ein Knochenjob ist das. Die größeren Gänge sind mit Kalk ausgekleidet, damit das bisschen Licht der Leuchtstoffröhren von den Wänden zurückgeworfen wird. In den kleinen Abzweigen, den Streben, gibt es diesen Luxus nicht. Da sind die Männer auf ihre Kopflampen angewiesen, im Streb können sie kaum aufrecht stehen. Viele ältere Bergleute haben Probleme mit den Knien oder dem Rücken.

Schuften unter Tage, das ist ein Job für ganze Kerle

Wer hier arbeitet, geht während der Schicht nicht einfach mal in die Pommesbude, der geht nicht an die Luft zum Rauchen. Wer hier arbeitet, der fährt zu Schichtbeginn unter Tage - rund drei Minuten dauert die Aufzugfahrt im Stahlkorb - malocht acht Stunden, gegessen wird auf der Baustelle, wenn kurz Zeit ist. Erst zum Schichtende geht es wieder nach oben. Ein Job für ganze Kerle. Für solche - so will es das Klischee -, die eimerweise Zwiebelmett in sich reinschaufeln und Zoten reißen, nichts für Jungs, die fleischlose Brühe kochen und sich um Tier- und Umweltschutz sorgen.

Vor der Wahl appellierten die Sozialdemokraten mit dem Slogan „Wir Malocher“ an die Nostalgie der Menschen. Sie galten immer als die Kümmerer im Revier. Im Wahlprogramm der Partei tauchten die Begriffe Bergbau und Ruhrgebiet jedoch bloß ein einziges Mal auf.

Der Koalitionsvertrag der neuen schwarz-gelben Landesregierung wird - trotz all seiner Vagheit - deutlicher. Sogar Molitors Zeche kommt vor. Eine „Konferenz zur Zukunft des Ruhrgebiets“ wird angekündigt, „unterstützen“ werde man es „auf seinem Weg zu einem wissensbasierten Industriestandort“, der Immissionsschutz für neuangesiedelte Firmen soll nicht strenger ausgelegt werden als bei der „Vornutzung“.

Knie und Rücken plagen Molitor bisher nicht, er ist fit. Durch seinen Job unter Tage wird es dazu, das könnte man als die gute Nachricht ansehen, wohl auch nicht mehr kommen. Molitor ist Bergarbeiter in der vierten Generation, genau wie sein jüngerer Bruder. Sie werden die letzten Kumpel in ihrer Familie sein.

Kaum jemand weiß, wofür das Ruhrgebiet steht

Identitätsnachweis. Daniel Molitor (vorne) ist in vierter Generation Bergmann. Er wird der letzte seiner Familie sein.
Identitätsnachweis. Daniel Molitor (vorne) ist in vierter Generation Bergmann. Er wird der letzte seiner Familie sein.

© privat

Tausend Jahre Steinkohle sind dann Geschichte. Schon in den späten 70ern schlossen die ersten Industriebetriebe und Bergwerke, weil Kohle und Stahl aus China und Südamerika billiger waren. Ambitionierte industrielle Neuansiedlungen konnten den Kohleverlust auch nicht vollständig kompensieren, und auch nicht die Kurswechsel, wie ihn zum Beispiel der einstige Kohle- und Stahlkonzern Mannesmann vorgenommen hatte und 1990 zur Telefongesellschaft wurde.

„Wenn ich mich mit meinem Vatter oder Oppa über früher unterhalte, wird schnell klar: Das war eine ganz andere Welt“, sagt Molitor. Der Großvater wohnte in einem dieser alten Zechenhäuser, von wo aus die Bergmänner zu Fuß zur Arbeit gehen konnten. Im Garten hielt er Brieftauben. Die Ehefrauen fingen ihre Männer damals am Werktor ab, wenn die nach der Schicht ihre Lohntüten bekamen, damit die nicht gleich alles in der nächsten Kneipe ausgaben. Manchmal sei der Oppa drei Tage nicht nach Hause gekommen, weil die Kolonne nach der Schicht in der Kaue - dem Umzieh- und Waschbereich - blieb und sich besoff, ihren Rausch ausschlief und direkt zur nächsten Schicht antrat.

„Gut, dass die Zeiten längst vorbei sind“, sagt Molitor. Alkohol im Schacht ist tabu, das Gehalt wird überwiesen, und viele der Zechenhäuser sind modernen Doppelhaushälften gewichen. Alles unter Tage ist strukturiert. Die DIN 23307 regelt die Gestaltung der „Gesäßleder für den Bergbau (Arschleder)“.

Doch nicht nur mit dem Saufen ist es aus. Mit den Zechen und Stahlwerken verschwanden auch Jobs und Wohlstand. Wichtige Säulen der Industrie brachen in den vergangenen Jahren ein, Opel schloss 2016 sein Bochumer Werk, bei Nokia stehen die Maschinen schon länger still. Die Kommunen sind hoch verschuldet, jeder Fünfte gilt als arm. Von dem, was die Menschen hier erschuftet haben, ist nicht viel geblieben. Als Molitors Großvater in Rente ging, litt er an Staublunge. So wie er haben über die Jahre zehntausende Menschen im Ruhrgebiet sich dem Bergbau verschrieben.

Es geht nicht ums Reichwerden, sondern darum, die Miete zahlen zu können

Sie nahmen die Arbeit hin, die einen Körper so kaputtmacht, dass Bergleute standardmäßig mit 50 verrentet werden. Sie nahmen den Schmutz hin, den Smog überm Revier, Dreck in einem Ausmaß, dass Willy Brandt mit seiner Forderung „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden“ Umweltpolitik auf die Agenda hob. Sie nahmen die Bergschäden hin, die ganze Ortsteile meterweit absacken ließen. Sie nahmen es hin, dass die Bundesregierung entschied, die Subventionierung der Steinkohle Ende 2018 zu streichen.

Das Ruhrgebiet der Malocher ist eine sentimentale Erinnerung. Etwas, für das man Respekt und Dankbarkeit zeigt, aber nichts, was noch zur Identifikation taugt. Fast eine halbe Million Bergarbeiter malochten Anfang der 50er Jahre in den Zechen, 1970 waren es noch 200 000, bis 1990 hatte sich die Zahl noch einmal halbiert. Heute arbeiten im Revier keine 5000 Kumpel mehr. Jörg Bogumil, Soziologe an der Ruhr-Universität Bochum, sagt: „Am ehesten wird sich die Region wohl zu einem Wissenschaftszentrum entwickeln. In den 60ern hatten wir gar keine Studenten, mittlerweile sind es 260 000.“

Vom Schacht in den Hörsaal, das ist zum Beispiel für Daniel Molitors jüngeren Bruder Alltag. Der arbeitet in der Frühschicht bei Prosper-Haniel, ebenfalls als Elektriker. Danach fährt er kurz nach Hause, eine Kleinigkeit essen, dann weiter nach Bochum an die Uni.

Daniel Molitor, 29 Jahre alt, kann sich einen Wechsel an die Universität nicht vorstellen. Aber: „Ich will nicht irgendwo Steckdosen verlegen oder Kabelschlitze in Wohnungen kloppen.“ Ein bisschen spektakulärer soll es schon sein. Irgendetwas mit Solaranlagen vielleicht. „Oder Hochspannungsmasten bauen“, sagt er. Wenn er nicht mehr tief unter der Erde arbeitet, dann eben möglichst weit oben.

Die Unsicherheit wächst. Bei ihm, der nicht weiß, was er nach 2018 machen wird. Und der Unmut darüber, dass die Region über die Jahrhunderte so viel gegeben hat und so wenig zurückzubekommen scheint.

„Hier, wo das Herz noch zählt, nicht das große Geld“, singt Herbert Grönemeyer in der Ruhrpott-Hymne „Bochum“. Ums Reichwerden geht es den Leuten nicht, aber aus eigener Kraft die Miete bezahlen und was Warmes auf den Tisch bringen können, das sollte schon drin sein.

Das Ruhrgebiet braucht nicht nur neue Jobs, es braucht eine neue Identität. Eine, auf die die Menschen wieder stolz sein können. „Wir müssen ein Selbstbewusstsein entwickeln, so wie die Bayern ihr ,Mia san mia“, sagt der Filmemacher Adolf Winkelmann im Interview mit dem WDR-Radio. Bisher sei da nicht viel mehr als „Woanders is auch scheiße“, der berühmte Spruch des Ruhrpott-Autors Frank Goosen über seine Heimat.

Wenn es mit dem Stahlkorb wieder nach oben geht - ein besonderer Moment

Das Berliner Unternehmen „Empirica“ hat Ende 2015 eine „Schwarmstädte“-Studie veröffentlicht. Darin ging es darum, was Metropolen und Ballungszentren in Deutschland besonders für junge Menschen attraktiv macht, und wo es sie hinzieht. Das Ruhrgebiet war unter 30 beliebten Städten mit keiner einzigen vertreten. Nur lag das laut der Studie nicht daran, dass junge Menschen aus anderen Regionen ein schlechtes Bild vom Revier haben. Sie hatten schlicht keine Vorstellung vom größten Ballungszentrum Deutschlands. Sie wissen nicht, wofür es steht.

Molitor öffnet das hölzerne Gartentor. Er sieht so entspannt aus, als käme er gerade aus dem Urlaub. Wache Augen, gesunde Gesichtsfarbe. Nachdem er Lenny im Garten eingefangen hat, die kleine schwarze Mischung aus Tigerdackel und Französischer Bulldogge, lässt sich Molitor aufs Sofa fallen. Nichts in der Wohnung sieht nach Ruhrpottromantik aus. Verkehrsberuhigter Bereich, Erdgeschoss, weiße Haustür, die Terracotta-Fliesen blitzblank. Im Wohnzimmer mischen sich Urlaubsfotos in Ikea-Bilderrahmen in Ikea-Regalen mit Obstkisten, die auf dem Langflorteppich zum Couchtisch arrangiert stehen.

Seit einem Jahr macht Molitor die Nachtschicht. Um 22 Uhr wird er wieder runterfahren, um sechs in der Früh geht es dann wieder rauf. „Ich liebe das“, sagt er. Besonders den Moment, wenn er mit dem Korb nach oben gefahren wird, nach getaner Arbeit, wenn an lauen Sommertagen die Morgenluft besonders frisch riecht, und die ersten Sonnenstrahlen das schummrige Licht im Stollen vergessen machen, das Ruhrgebiet noch still ist, keine Maschinen rumpeln und Kumpel brüllen, das sei doch unvergleichlich. Er will jeden einzelnen dieser Momente auskosten. Er weiß, sie sind endlich.

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