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40.639 Minuten – das ist die errechnete Beifallsdauer seiner Ära, Stand Mitte März. Claus Peymann sagt: Ich bin der Theaterdirektor der Herzen!

© Davids/Sven Darmer

Scheidender Intendant des Berliner Ensembles: Claus Peymann, das heilige Monster

Claus Peymann inszeniert sein Abschiedsdrama vom Berliner Ensemble als göttliche Komödie. Er spricht über Trump und Scheitern, über Kunst und Politik

Wenn Claus Peymann in diesen Wochen seinen Abschied als Intendant des Berliner Ensembles zelebriert, dann vereinen sich Wehmut und Hochmut, Triumph und Scheitern. Oder auch: Dichtung, Legende und Wahrheit.

„Manchmal komme ich mir schon so vor, als inszenierte ich mein eigenes Begräbnis“, scherzt Peymann und meint es ernst. Der Fall, bereits dieses Wort ist doppeldeutig, mischt Trauer- und Lustspiel. Weil Peymann seit irdischen Ewigkeiten, seit seinen Direktionen in Stuttgart, Bochum, am Wiener Burgtheater und die letzten 18 Jahre am BE in ganz Deutschland der berühmteste Bühnenchef der Welt ist, gerät das Abschiedsdrama auch zur theatergöttlichen Komödie. Im Unterschied zum Vorbild bei Dante erscheint nur ungewiss, ob der Weg jetzt von der Hölle in den Himmel führt oder in die umgekehrte Richtung.

Peymann selbst, der sich ein großes „Glückskind“ nennt, er gesteht in den plötzlich aufflackernden Momenten der Anfechtung ein, „in ein dunkles Loch zu schauen“. Dennoch begegnet dem Besucher bei ihm als Erstes ein himmlischer Wink. Im Intendantenzimmer im Obergeschoss des Berliner Ensembles stehen gleich beim Eingang ein paar Bilder am Boden. Bühnenskizzen – und hinter Glas eine gerahmte Titelseite der „BZ“ vom März, versehen mit einem Trauerflor und der Schlagzeile „Grüß Knut, kleiner Fritz!“. Ein rührender Eisbärendienst.

"Wo ich sitze, sitzt die Macht!"

Mit dem Eintritt in Peymanns inneres Reich beginnt auf Anhieb ein Stück Theater. Und Geschichte. Peymann fragt, „wo möchten Sie sitzen?“ Im Raum verteilt erwarten einen sechs fein abgewetzte Ledersessel neben acht verchromten, zierlichen Stehleuchten im italienischen Design und dazwischen ein Sofa. Das dient Peymanns Powernap nach der Theaterprobe. Auf die Frage, wo er denn üblicherweise sitze, wählt der Besucher den Sessel ihm gegenüber. „Da sitzen Sie auf dem Opferstuhl“, sagt der Hausherr lächelnd, „denn wo ich sitze, sitzt die Macht! Sie sind offenbar kein Machtmensch. Aber alle Politiker, die hier waren, vom Bundespräsidenten bis zu Berliner Senatoren, haben, wenn ich ihnen den Vortritt lasse, immer meinen Sessel gewählt. Instinktiv.“

So wird das Treffen auch zum Spiel. Peymann springt wieder auf und macht nun andere Regiehelden nach. Er trippelt in den Raum wie der schon sehr alte, bereits halb erblindete George Tabori, der noch Bertolt Brecht kannte und Peymanns Berliner Intendanz mit einem eigenen Stück über den Ahnherrn des BE eröffnet hatte.

Oder er tänzelt schief und eine Spur snobistisch wie Peter Zadek, der hier für kurze Zeit einer seiner Vorgänger als Direktor war. Lauter Tote, illustre Weggefährten. Sie alle, außer dem äußerlich gewaltigen, aber verletzlichen Regisseur und Dichter Einar Schleef, hätten bei Besuchen den Sessel der Macht gewählt. „Von ihm aus sehe ich sofort, wer den Raum betritt, und habe die Wand im Rücken“, sagt Peymann.

Er redet sich schnell in Rage

Also hat er hier am Schiffbauerdamm den inneren Betrieb im Auge und hinter sich den Wall gegen die Außenwelt. Vom Sessel der „Opfer“ (Schauspieler, Dramaturgen, Assistenten, Kritiker) blickt man durch ein bodentiefes Fenster sehr schön hinab auf die gerade ergrünende Kastanie im Hinterhof mitsamt Probenbühne und Kantine. Oder man schaut neben dem Fenster auf Peymanns Schreibtisch, über dem zwei Schwarz-Weiß-Fotos vom Schlussbeifall der legendär umkämpften, dann triumphalen Wiener Uraufführung von Thomas Bernhards Österreich-Verwünschung „Heldenplatz“ hängen: Peymann 1988 als Regisseur und Burgherr Seit an Seit mit dem vom nahen Tod gezeichneten, wie schon ins Jenseits grüßenden Bernhard. Er war, neben Peter Handke, der wichtigste Gegenwartsautor in Peymanns langem Theaterleben.

Spielt einem der bald Achtzigjährige seine Vorgänger und Kollegen vor oder redet er sich mit seiner norddeutsch durchdringenden Stimme (gebürtiger Bremer) geschwind in Rage, dann glaubt man ihm das Alter tatsächlich nicht. Ein Temperamentsbrocken. Mit leicht dröhnendem Pathos (Kommandostimme), das er freilich ebenso schnell auch mit sarkastischem Witz und einem lausbübischen Lachen konterkariert.

Ein Wahrsager, Großmaul und Lügenmeister

Ein Täter, Tänzer und Träumer. Ein Wahrsager, Großmaul und Lügenmeister, in der freien Rede darin auch seinem Idol Thomas Bernhard nah. Bernhard hatte den Kulturbetrieb „eine Geisteskrankheit“ genannt, Peymann in Wien statt des „Guten, Wahren, Schönen“ auf der Fahne überm Burgtheater die Losung „Mord und Totschlag“ empfohlen und Schriftsteller als „Übertreibungsspezialisten“ bezeichnet. Peymann hat nun seine gerade in die zweite Auflage gehende, vornehmlich aus amüsanten Interviews und von anderer Hand verfassten Lorbeerkränzen bestehende Biografie „Mord und Totschlag“ übertitelt. Hierzu bekennt er, dass ihm das eigene Talent zum schreibenden Autor fehle. Doch in Gesprächen ist er bis heute ein fabulöser Formulierer, ein konkurrenzloses PR-Genie. Gesegnet mit der Liebe zum Theater und zu sich selbst.

In Wien hatte ihm eine furiose Rundumbeschimpfung der Szene mitsamt der Behauptung, der wegen seiner NS-Vergangenheit umstrittene damalige österreichische Bundespräsident Kurt Waldheim habe ihn in einem Hotel geradezu vergewaltigend „in den Nacken geküsst“, politisch fast selbst das Genick gebrochen. Aber der „Piefke“ Peymann überlebte und ist nach 13 Jahren und seinen umjubelten Bernhard- und Shakespeare-Inszenierungen als erfolgreichster Burgherr der Neuzeit an die Spree gewechselt.

"Frau Merkel ist kein Feind"

„Ich wollte 1999 einen Neuanfang.“ Berlin wirkte am Ende des Jahrhunderts als neue alte Hauptstadt jünger und aufregender als Wien. „Aber natürlich war es ein Fehler, dass ich zu Beginn gesagt habe, ich wolle der Reißzahn im Fleisch der Berliner Republik sein.“ Peymann gibt nun zu: „In Wien war ich als Burgtheaterdirektor am Ende der Heilige Geist, kam gleich nach Gott und dem Papst. Während man in Berlin nicht im Mittelpunkt steht. Inzwischen hat Theater bei uns sowieso nur noch eine Randbedeutung. Sie können niemanden mehr provozieren, selbst Frank Castorf wirkt da bloß rührend. Es fehlt die Reibung mit der Gesellschaft, mit der Politik. Frau Merkel ist kein Feind. Auch nicht die Regenwürmer um sie herum. Trump taugt vielleicht als neuer Bösewicht.“ Doch der ist halt außer Reichweite.

Jedenfalls spricht so noch der Altachtundsechziger, der einst vom baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger wegen einer Zahnersatzspende für Gudrun Ensslin aus Stuttgart vertrieben wurde und im Zusammenspiel mit dem investigativen Autor Rolf Hochhuth („poetisch eine Null“) beigetragen hatte zu Filbingers Sturz. Ein Altachtundsechziger? „Ja“, meint Peymann „das Theater ist für mich noch immer der Entwurf einer besseren Welt. An dieser Utopie halte ich fest. Ich habe nach Nine-eleven am BE eben Lessings Nathan der Weise als humanes Gegenbild zum Zeitgeist inszeniert. Aber mit dem dichterischen Text, ohne die Literaturvernichtungsversuche mittels dilettantischer Verhackstückungen. Deshalb ist das BE, auch wenn es die Kritiker oft nicht wahrhaben wollten, meine positive Traumfabrik geblieben. Und das mit Abstand erfolgreichste Theater Berlins!“

Er steht am Gartenzaun und schnauzt die Wildschweine an: "Respektlose Saubande!"

Der scheidende Intendant des Berliner Ensemble Claus Peymann
Der scheidende Intendant des Berliner Ensemble, Claus Peymann, sagt über sich selbst: "Ich bin ein schreckliches Monster!"

© Jörg Carstensen/dpa

Eben noch grassierten in ihm die Zweifel. Doch im Redefluss schwingt sich Peymann sogleich wieder auf zu alter Form. „Der Castorf“, dessen Sieben-Stunden-Aufführungen mehr Leute einschläfern als irgendwen aufregen würden, „ist auf seine Weise sympathisch, aber völlig überschätzt. Er kann als Regisseur seine Pubertät nicht überwinden, darin steckt er fest und merkt nicht, dass er ein bisschen blöd ist.“ Worauf Peymann ausruft, laut und im lachenden Ernst: „Castorf ist der Theaterdirektor des Feuilletons, aber ich bin der Theaterdirektor der Herzen!“

"Das bin ich wirklich. Ein schreckliches Monster!"

Ihn tröstet der Zuspruch des Publikums, so spricht er von 90 Prozent Platzausnutzung, und gerade sei das BE mit Robert Wilsons „Peter Pan“-Aufführung von einer Triumphreise aus Asien zurückgekehrt. Er selbst könne sich jetzt vor Interview-Wünschen, Filmporträts im Fernsehen und Liebeserklärungen von Zuschauern kaum retten. Wie schon in seinen früheren Häusern lässt er Abend für Abend auch die Länge des Schlussbeifalls messen. Und so steht auf einer Doppelseite des Dummys eines demnächst erscheinenden Theaterbuchs über Peymanns BE-Theaterjahre 1999 bis 2017: „1 Monat Applaus! = 28 Tage 5 Stunden 19 Minuten = 677 Stunden 19 Minuten = 40 639 Minuten in 18 Jahren.“ Das ist die errechnete Beifallsmenge der BE-CP- Ära, Stand Mitte März, also noch weiter anschwellend. Und das werdende Buch auf Peymanns Schreibtisch ist ein zweibändiger, tausendseitiger, tausendfach bebilderter Hymnus. „Das tollste Theaterbuch, das Sie je gesehen haben!“ Also auch Feier und Selbstfeier eines „Heiligen Monsters“, denn: „Das bin ich wirklich. Und dazu ein schreckliches Monster! Wenn ich mich jetzt in früheren Fernseh-Interviews sehe, denke ich: was für ein narzisstischer Populist!“

So ist er, ein Mensch in seinem Widerspruch. Wobei das schöne Buch im Nachhinein vieles beglänzt. Trotz einzelner Inszenierungen von Alt- und Allstars wie Peter Stein, Zadek und Wilson herrschte im BE-Alltag statt strahlender Kunst oft mattes Gewerbe. Selbst die Inszenierungen des Chefs blieben da nicht verschont.

Peymann weiß, was es gekostet hat, dass ihm nach den Jahren aufreibender und kaum zu toppender Zusammenarbeit gerade seine besten Schauspieler, Gert Voss, Kirsten Dene und Co., nicht oder bloß für Gastrollen nach Berlin gefolgt sind. Und leise beklagt er den Zerfall der großen gewachsenen Ensembles in allen deutschen Theatern. Die reisenden Stars seien kaum noch fest zu verpflichten, und die „dämonischen Alten“, die er einst in Akteuren wie Bernhard Minetti, Hans Mahnke oder Traugott Buhre hatte, sie sterben aus. Einer der Letzten ist am BE noch der wunderbare Jürgen Holtz.

3000 Quadratmeter Garten, die Miete "viel zu teuer"

Ein Sprung. Vom Schiffbauerdamm, Adresse Bertolt-Brecht-Platz 1, nach Köpenick. Dort, im Ostberliner Grüngürtel weit hinter Scherbenvierteln und neuer Zersiedlung, bewohnt Peymann zur Miete („viel zu teuer“) ein Nachgründerzeithaus mit barbusiger Karyatide, die das Vordach stützt. Das ist noch ein eher städtisches Symbol, der Rest atmet Landluft. In seinem über 3000 Quadratmeter großen Garten erntet Peymann pro Saison 300 Kilo eigene Kartoffeln, und aus den in üppigen Büschen wachsenden Brombeeren macht er „fürs ganze Theater Gelee“. Gleich angrenzend beginnt hinterm Haus der Wald, mit einer Senke und schlammigen Suhle für die einbrechenden Wildschweine, die er nachts über den verstärkten Zaun schon angebrüllt hat: „Ich bin der Peymann vom BE, und ihr seid eine respektlose Saubande!“

Im Inneren des Hauses Holzdielen, im Hochparterre auch Steinböden, schöne sparsame Möblierung, bäuerlich, die an den Wänden stehende (bei ihm nie hängende) Kunst weltläufig: vom Symbolisten Odilon Redon, einer Ensor-Zeichnung bis zu Skizzen von Beuys oder Bildern von naiven Malern der bei Wien residierenden Künstlerkolonie Gugging. „Dafür gebe ich gerne mein Geld aus, nicht für sonstigen Besitz.“ Peymann bekommt als höchstbezahlter Theaterdirektor Berlins „gut 250 000 Euro“ im Jahr, nimmt aber keine ihm vertraglich zustehenden Urlaube, macht keine „in meiner Kategorie mit 100 000 Euro dotierten“ Gastregien an anderen Häusern („wie die Kollegen Castorf oder Thomas Ostermeier von der Schaubühne“). Er sagt: „Ich habe auch keine Datsche und keine Villa in Italien. Aber ich esse gerne gut, wohne bei Dienstreisen auf eigene Rechnung in Hotels weit jenseits des Spesensatzes von 134 Euro und lade meine Mitarbeiter auch mal in ein Sterne-Restaurant ein. Ich bin da ein großzügiger Mensch.“

Khuon? Reese? "Nette, harmlose Leute"

Gerade hat seine Lebensgefährtin Jutta Ferbers, die Chefdramaturgin des BE, einen Berg Zeitungen weggeräumt. Was er so liest? „Zu Hause immer zuerst das Neue Deutschland, aber dort nur das Feuilleton. Dann die BZ, den Tagesspiegel und die Berliner Zeitung. Immer in dieser Reihenfolge.“ Im Büro folgen noch „FAZ“ und „Süddeutsche“, meist nur die Kulturteile. Morgens dazu auch immer ein neues Theaterstück sowie Bücher, die sich am Boden neben seiner Wohnzimmercouch stapeln. Darunter Jean Zieglers globalisierungskritischer „Schmaler Grat der Hoffung“, über den er mit dem Autor im BE diskutiert hat. Ende April ist Peymann zudem Gastkritiker im „Literarischen Quartett“.

Und das erwähnte „schwarze Loch“, vor dem ihm, der im Juni 80 Jahre alt wird, nach dem Ende der BE-Zeit graust? Er sehe sich selbst als „schwierigen Menschen, ich bin nicht harmonisch“. Aber, schreit Peymann, ballt seine Fäuste und läuft rot an: „Die Welt ist nicht harmonisch! Auch ein Theater können Sie als nicht harmonisch leiten. Kunst entsteht nicht durch Demokratie und Toleranz, auch wenn wir beide nach außen predigen. Aber ein Theater wie das BE muss von einem Künstler geleitet werden! Nicht von Managern, von netten, harmlosen Leuten.“ Zu denen zählt er seinen Berliner Kollegen Ulrich Khuon, den Intendanten des Deutschen Theaters, oder Oliver Reese, seinen vom Schauspiel Frankfurt kommenden Nachfolger am BE.

Reese übrigens sagt, auf das Abschiedsdrama angesprochen: „Das ist gar keines. Ein Intendantenwechsel an einem öffentlich subventionierten Theater ist nach so langer Zeit etwas völlig Normales.“ Derart spricht ein Demokrat. Peymann, der im Februar 2018 in Stuttgart, seiner ehemaligen Heimstatt, Shakespeares Tragödie vom alten, autokratisch abgedankten „König Lear“ inszenieren wird, sieht alldem mit Euphorie und Melancholie entgegen. „Eben bin ich noch selber der Theaterkönig, und morgen nurmehr ein Gastregisseur, der sich freuen soll, wenn ihm als Dinosaurier die Tür geöffnet wird.“ Aber doch, er freue sich. Das auch. Außerdem gebe es, wir sind vor Ostern, die Wiederauferstehung, sogar bei der SPD. Obwohl er an den heiligen Martin noch nicht recht glaubt: „Vielleicht wähle ich im Herbst ja zum ersten Mal die Merkel. Der Schulz soll erst mal noch mehr Gesicht zeigen.“ Und Peymann lacht, zitiert Udo Walz: „Der Bart muss ab!“

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