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In Berlin leben rund 112 500 Menschen, die wie die Eltern von Petra Kleinod Pflege brauchen.

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Pflege von Angehörigen: Die Reifeprüfung: Wenn die Eltern alt werden

Als ihre Mutter einen Schlaganfall hatte, wollte Petra Kleinod ihren Eltern etwas zurückgeben. In Berlin zogen alle wieder zusammen. Ein Leben mit vertauschten Rollen.

Die Dielen im Flur knatschen. Ihr Vater geht zum Bad, vorbei am Wohnzimmer. Langsam, gebückt, die Hände am Rollator, die weißen Haare zerzaust. Petra Kleinod schaut ihm nach. Ihr fällt auf, wie er immer kleiner wird. Schrumpft. „Er sieht so hilflos aus. Fast wieder wie ein Baby“, sagt sie. „Man möchte sich kümmern. Das ist von der Natur schon genial eingerichtet.“

Sich kümmern. Das macht Petra Kleinod seit vielen Jahren. In der Schöneberger Altbauwohnung wohnt sie mit ihrem Mann und den Eltern. Ihre Mutter ist 97, ihr Vater wird bald 100. „Einen alten Baum verpflanzt man nicht, durfte ich mir anhören, als wir nach Berlin gezogen sind“, sagt Petra Kleinod. Ihr Mann wurde 2006 beruflich versetzt, die Eltern lebten schon damals, in Bayern, mit im Haus. Also mussten sie mit.

Ihre Idee war das nicht. Petra Kleinod hatte die Eltern zwei, drei Mal im Jahr besucht. So war es gut. 1996 hatte die Mutter einen Schlaganfall. War etwas älter als ihre Tochter heute ist. Damit fing alles an. Ihr Mann schlug vor, ein gemeinsames Haus zu suchen. Für sie, den Sohn, die Großeltern. Sonst müsste seine Frau immer von München ins Allgäu fahren, um nach der Mutter zu sehen.

Wenn die Eltern alt werden, krank, wenn sie nicht mehr allein können, was macht man dann? In Berlin leben rund 112 500 Menschen, die wie die Eltern von Petra Kleinod Pflege brauchen. Etwas mehr als die Hälfte von ihnen wird von Angehörigen umsorgt. Ein Viertel von ambulanten Pflegediensten. Ein Viertel wohnt im Heim. Wurden die Menschen in Deutschland vor 50 Jahren 67, werden sie heute 87. Die Gesellschaft altert. Und Kinder müssen sich irgendwann fragen, was kann ich für meine Eltern tun?

Es war Zeit, etwas zurückzugeben

Die Entscheidung, nach 30 Jahren wieder mit den Eltern zusammenzuziehen, darüber hatte sich Frau Kleinod wenig Gedanken gemacht. „Ich bin da, glaube ich, recht blauäugig dran gegangen.“ Wenn es keine Verbindung gegeben, wenn sie Geschwister gehabt hätte, wäre vielleicht alles anderes gekommen.

Als ihre Mutter den Schlaganfall hatte, war Petra Kleinod 53, arbeitete aber nicht mehr als Lehrerin. Ihr Sohn war elf. Sie stellte eine Rechnung auf: Ihre Eltern hatten ihr, als sie jung war, die weite Welt ermöglicht. „Wir hatten nicht viel Geld, und trotzdem konnte ich mit 16 Jahren Paris sehen.“ Ihr Mann war beruflich viel unterwegs. Ohne die Eltern wäre sie oft einsam gewesen, hätte ihren Sohn alleine aufgezogen. „Sie waren seine zweiten Eltern“, sagt sie, streicht den langen braunen Rock zurecht. „Schon dafür hätte ich sie nie in ein Heim geben können.“

Jetzt war sie dran, dachte Petra Kleinod. Es war an der Zeit, etwas zurückzugeben. Dabei hatte ihre Mutter in Berlin sehr wohl überlegt, in ein Heim zu ziehen. Gut, dachte die Tochter, soll sie sich das mal angucken. Der vorgeschriebene Rhythmus, wann sie aufstehen, essen, zu Bett gehen sollte, gefiel ihrer Mutter überhaupt nicht. Sie ging. Fragte nie wieder.

Sie ist die Mutter ihrer Eltern geworden

In Berlin leben rund 112 500 Menschen, die wie die Eltern von Petra Kleinod Pflege brauchen.
In Berlin leben rund 112 500 Menschen, die wie die Eltern von Petra Kleinod Pflege brauchen.

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Es ist halb sieben, der Wecker klingelt, Petra Kleinod steht auf. Ihr Vater braucht Hilfe im Bad, ihre Mutter die erste Tasse Tee. Trinkt sie den Tag über zu wenig, wird ihr schwindelig. Und der größte Feind der Alten, sagt Petra Kleinod, ist das Hinfallen. Nach dem Frühstück kauft sie ein. Ihr Vater liest die Zeitung, manchmal schafft er zwei Stunden. Ihre Mutter räumt die Küche in ihrem Tempo auf und hilft später beim Kochen. Den Schlaganfall von damals hat sie gut verkraftet.

Am Nachmittag sitzt die Mutter vor dem Sekretär und sortiert Papiere. Ihre Tochter nimmt einen der Ordner in die Hand, blättert durch die Formulare. „Kreuz und quer ist das einsortiert“, raunt sie leise. Verdreht die Augen. „Daran sieht man die leichte Demenz meiner Mutter.“ Sie schreibt ihren Eltern, die sie liebevoll „alte Zacken“ nennt, die Termine in einen Kalender. Wann sie zum Arzt müssen, wann zur Gymnastik, wann jemand kommt, der ihnen die Fußnägel macht. Wichtige Anrufe bei der Krankenkasse oder der Bank erledigt sie. Petra Kleinod ist die Mutter ihrer Eltern geworden.

Das Schusselige macht ihr das Altern bewusst

Den körperlichen Verfall - den sieht Petra Kleinod nicht so sehr. Die Eltern waren Sportlehrer. Mit über 80 Jahren ist ihr Vater noch Trampolin gesprungen und nach Nepal gereist. Nein, es sind nicht die Altersflecken und die weißen Haare, die ihr die Lebensjahre ihrer Eltern bewusst machen. Noch immer habe ihre Mutter schöne Beine. Sie bekomme Komplimente für ihr Haar, pflege sich jeden Tag eine gute Stunde im Bad.

Das Schusselige, das Vergessliche ist es, woran Frau Kleinod das Alter ihrer Eltern auffällt. „Vor ein paar Wochen hat mein Vater das erste Mal gefragt, welchen Tag wir hätten“, sagt sie. Früher erinnerte er sich an jedes Detail. Ihr Vater gehört zu den Zeitzeugen, einem Verein, der die Vergangenheit lebendig hält. Mittlerweile schätzt er den Weg von der Bushaltestelle nach Hause mal auf 200 Meter, mal auf 600 Meter. Seine Welt ist beliebig geworden.

Mehr Jahre mit den Eltern als ohne

Vor ein paar Tagen hat ihr Vater mit seiner Schwester telefoniert. Er werde zwar bald 100, aber so vier, fünf Jahre wolle er das Leben noch genießen. Petra Kleinod musste schlucken. Wie lang ihre Eltern wohl noch leben, da denkt sie manchmal, nicht oft, vor dem Schlafengehen drüber nach. Es könnte ja sein, dass es plötzlich ganz schnell geht. Kurz ist da ein Gefühl von Freiheit. Sie würde gern eine Weile in Afrika oder Südamerika leben. Ehrenamtlich in einer sozialen Einrichtung arbeiten. In fünf Jahren geht das vielleicht nicht mehr, denkt sie. Wann also, wenn nicht jetzt?

Ihre Brust zieht sich zusammen. So darf sie nicht denken, sonst wird es noch wahr. Was wäre das für ein Verlust. Für eine Leere.

Mittlerweile lebt Petra Kleinod mehr Jahre ihres Lebens mit Vater und Mutter zusammen als ohne sie. Sie ist jetzt 72. Ob sie denn nie von den Eltern loskommen wolle, hatte eine Freundin mal gefragt. Für sie aber gab es seit dem Schlaganfall keine Alternative. Klar, wäre sie berufstätig gewesen, hätte sie sich gefragt: Kann ich das, will ich das leisten?

Viel mussten sie in der Wohnung nicht machen. Über den Leisten sind kleine Rampen angebracht, damit ihr Vater mit dem Rollator darüber fahren kann. In der Dusche gibt es einen Halter und einen Stuhl. Im Haus haben sie einen Treppenlift anbringen können.

Im Alter ändert sich der Mensch nicht mehr

In Berlin leben rund 112 500 Menschen, die wie die Eltern von Petra Kleinod Pflege brauchen.
In Berlin leben rund 112 500 Menschen, die wie die Eltern von Petra Kleinod Pflege brauchen.

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Alle zwei Wochen nimmt Petra Kleinod an einem Gesprächskreis für pflegende Angehörige teil. Hier hat sie gelernt: Man muss auch mal Verantwortung abgeben, egoistisch sein. Deshalb kommt jeden Tag für ein paar Stunden eine „Oldie-Sitterin“, die mit den Eltern kocht, mit ihnen in ein Café oder spazieren geht. Könnte sie sich etwas wünschen, wäre das ein „Oldie-Garten“. Ein Pendant zum Kindergarten.

Ihre Eltern bringt sie stattdessen zum Seniorenfrühstück, in die Kiezoase, zur Gymnastik, und alle zwei Wochen sind sie in Friedenau. Canasta spielen. Nach Berlin zu ziehen, sagt ihr Vater, sei das Beste gewesen, das ihm in späteren Jahren passiert ist. Er kann viel machen. Seine Woche hat Struktur.

Im Alter ändert sich der Mensch nicht mehr

Sind alle zu Hause, hört Petra Kleinod Hörbücher, um zu entspannen. Und ihre Eltern nebenan mal auszublenden. „Wenn ich dann das Gebimmel meines Vaters höre, bin ich erstmal genervt“, sagt sie. Seine Glocke sagt: Wir brauchen was. Beruhige dich, er macht das nicht mit Absicht, sagt sich Petra Kleinod. So wie ihre Mutter sie nicht ärgern will, wenn sie so langsam über die Straße geht.

Sie versucht, nie lange gereizt zu sein. Wenn sie es nämlich zeigt, guckt ihre Mutter ängstlich oder schrickt zusammen. Petra Kleinod bekommt sofort ein schlechtes Gewissen. Ihre Eltern haben gelernt, Konflikten aus dem Weg zu gehen statt sie zu klären. Und im Alter, da ändert sich der Mensch nicht mehr.

Eltern sind mehr das Fundament von früher

Petra Kleinod ist für ihre Eltern verantwortlich. Ihre Eltern sind auf sie angewiesen. Ein Rollenwechsel fand statt. Wann sie ihn das erste Mal bewusst wahrnahm, weiß sie nicht mehr. Sie weiß nur, es war ein Novembertag in Berlin. Ihre Mutter klappte auf der Straße zusammen, ihr Vater war in der Kiezoase. Sie musste ins Krankenhaus, regelte von dort, wie ihr Vater nach Hause kommt. Sie wusste nicht, ob ihre Mutter die Nacht überlebt. Niemand war da, um ihr zu helfen.

Sie hat ihrem Vater versucht, zu erklären, dass seine Frau langsam dement wird. Er hat nichts gesagt. Sie glaubt, er wollte das nicht hören. Wenn sie etwas erzählt, verstehen ihre Eltern sie oft nicht. Wenn sie Entscheidungen treffen muss, Sorgen hat, fragt sie ihren Mann oder Freunde um Rat. Ist sie traurig, sucht sie andere Wege, sich zu trösten. Ihre Eltern sind nicht mehr ihr Fundament. Diese starken Menschen, die sie in den Arm nehmen. Probleme lösen. Sie sind es, die jetzt ihre Tochter brauchen. Ihr Vater bedankt sich dafür jeden Tag.

„Der einzige Unterschied zu Kindern ist: Wenn ich ihnen sage, dass sie eine halbe Stunde auf das Essen warten sollen, verstehen sie das“, sagt Petra Kleinod. Ohne es böse zu meinen.

Wie wird es mir gehen, wenn ich so alt bin?

In Berlin leben rund 112 500 Menschen, die wie die Eltern von Petra Kleinod Pflege brauchen.
In Berlin leben rund 112 500 Menschen, die wie die Eltern von Petra Kleinod Pflege brauchen.

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Hin und wieder ist das Naive, das Unwissende, ihrer Eltern amüsant. Ihre Mutter war vor ein paar Tagen traurig. Immer, wenn sie ihren Enkel anrufe, würde seine Freundin dran gehen. Nie könnte sie ihn sprechen. „Ich hab sie erst überhaupt nicht verstanden“, sagt Petra Kleinod. „Irgendwann hab ich kapiert, dass sie seinen Anrufbeantworter meint.“ Nur wer, fragt sie sich, hätte das jemandem erklärt, der alleine lebt.

Es sei ein Glück, dass ihre Eltern sich hätten. „Sonst hätte ich einen von ihnen immer an der Backe.“ Wenn ihre Mutter duscht und ihr Vater das nicht mitbekommen hat, fragt er nach ihr. Wenn ihr schwindelig wird, stützt er sie. Die beiden sind seit 74 Jahren verheiratet. Abends gehen sie im Bett noch einmal den Tag gemeinsam durch.

Sie gibt so wenig Ratschläge wie möglich

Petra Kleinod möchte nicht, dass sich ihre Eltern bevormundet fühlen. Darum gibt sie so wenig Ratschläge wie möglich, und räumt das Chaos auf dem Sekretär nicht auf. Sie fragt: Was glaubt ihr, wie wird das Wetter? Was möchtet ihr essen? Wie spät ist? Die Uhr ihres Vaters geht manchmal vor, manchmal nach, aber er freut sich, ihr antworten zu können. Pünktlichkeit war ihm immer wichtig.

Es soll ihnen nicht unangenehm sein, was ihre Tochter für sie tut: Das Hemd kann ihr Vater morgens anziehen, bei Unterhose, Hose, Strümpfen und Hausschuhen braucht er Hilfe. Im Bad schiebt sie ihn vor das Waschbecken, legt ihm ein Handtuch und die Zahnbürste hin. Die Feinmotorik seiner rechten Hand ist nicht mehr so gut. Muss er auf die Toilette gehen, nimmt sie seine Einlage raus und verlässt das Bad bis er ruft. Sie weiß: Wenn die beiden könnten, würden sie das alles alleine tun.

„Schau, wie weit ich gekommen bin“, sagte ihr Vater neulich. „ Ich hätte mir nie vorstellen können, dass du das mal für mich machst.“ Er könne froh sein, antwortete Petra Kleinod. Ihr Sohn würde das später nicht tun. Sie würde es auch nicht wollen. Nur dachte ihr Vater früher genauso. Er wollte immer unabhängig sein.

Noch fühlt sich Petra Kleinod wie Anfang 20

Wie wird es mir in 20, 30 Jahren gehen? Wenn ich so alt bin wie meine Eltern jetzt? Um fit zu bleiben, steigt Petra Kleinod hin und wieder die Treppen, hoch in den vierten Stock. Obwohl es Fahrstuhl und Treppenlift gibt. Sie isst gesund. Fährt Fahrrad. „Wenn ich das nicht mehr kann, bin ich alt.“ Noch fühlt sich Petra Kleinod wie eine Frau Anfang 20. Deswegen wunderte sie sich, als ihr jemand vor Kurzem in der U-Bahn einen Sitzplan anbot. Sie setzte sich, sah in die Scheibe, sah die Falten im Gesicht, die grauen Strähnen in den dunklen, kinnlangen Haaren. „Das war dann die Stunde der Wahrheit.“

Grund, eitel zu sein, habe sie nicht mehr. Sie überlegt, ihre alten Liebesbriefe wegzuschmeißen. 50 Jahre hat sie die Briefe aufgehoben. „Meinen Sohn wird das später nicht interessieren“, sagt sie. „Und bevor er sie wegschmeißt, mache ich das lieber.“ Am Wochenende liest sie die Todesanzeigen in der Zeitung und sieht, wie viele in ihrem Alter sterben. Oder jünger.

Vielleicht, sagt sie, sind es noch 20 Frühlinge, die sie erleben wird. 20 Sommer. Vielleicht wird sie auf ihrem Balkon noch 20 Mal die Rosen schneiden.

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