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Die Angeklagte Hamdi H. (2.v.r) und Marvin N. (5.v.r, halb verdeckt) stehen im Landgerichtes Berlin zwischen ihren Anwälten.

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Lebenslang für Ku'damm-Raser: Mord und Botschaft

Kopfschütteln, Aufschrei, Jubel: Mit diesem Urteil hatte beim Raser-Prozess im Berliner Landgericht kaum jemand gerechnet. Hamdi H. und Marvin N. bekommen Lebenslang. Der Richter sagt, es gehe ihm nicht um Härte.

So unterschiedlich können zwei reagieren, die soeben zu Mördern erklärt wurden. Der eine, Marvin N., lässt sich wie in Zeitlupe auf seinen Stuhl fallen. Mund offen, Blick leer. Ungläubiges Kopfschütteln. Der andere, Hamdi H., bleibt stehen, stützt die Arme auf und redet los. Monatelang hat er vor Gericht geschwiegen, jetzt bricht es aus ihm heraus: „Was wollt ihr denn? Was soll das Ganze? Wozu soll ich mir das anhören?“

Das Urteil, das an diesem Montag in Saal 700 des Moabiter Kriminalgerichts verlesen wird, ist eine Sensation. Zum ersten Mal in der deutschen Rechtsgeschichte sind Teilnehmer illegaler Autorennen wegen Mordes verurteilt worden. Der 28-jährige Hamdi H. und der 25-jährige Marvin N. erhalten Lebenslang – genau wie vom Staatsanwalt gefordert. In ähnlichen Fällen hatten Richter auf fahrlässige Tötung entschieden, die Täter kamen oft mit Bewährung davon. Deswegen war der Prozess im ganzen Land von Richtern und Anwälten, Verkehrsexperten und Politikern beobachtet worden. 

Am Tag der Urteilsverkündigung drängeln sich vor dem Saal die Fernsehteams, drinnen bleibt kein Zuschauerplatz leer. Die meisten jubeln, als Richter Ralph Ehestädt das Urteil verkündet. Hamdi H. ist so aufgebracht, dass Ehestädt ihn zurechtweisen muss: „Nun seien Sie ruhig!“ Fortan wird H. auf seiner Unterlippe herumkauen. Gespannte Stille im Publikum. Kein Wort der Urteilsbegründung soll untergehen. „Es ist eine Einzelfallentscheidung“, beginnt Ralph Ehestädt. Und ganz wichtig: „Es ging nicht um Demonstration von Härte.“

Der Richter Willi Thoms (l) und der Vorsitzende Richter Ralph Ehestädt kommen zur Urteilsverkündung.
Der Richter Willi Thoms (l) und der Vorsitzende Richter Ralph Ehestädt kommen zur Urteilsverkündung.

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In der Nacht zum 1. Februar 2016 waren die jungen Männer in ihren Sportwagen über Kurfürstendamm und Tauentzienstraße gerast. Ein spontanes Rennen unter flüchtigen Bekannten. Weil keiner nachgeben wollte, fuhren sie über mindestens elf rote Ampeln. Auf Höhe der Nürnberger Straße prallte der weiße Audi von Hamdi H. schließlich mit 160 Kilometern pro Stunde gegen einen einbiegenden Jeep. 70 Meter wurde der Wagen durch die Luft geschleudert, der Fahrer, ein 69-jähriger Rentner, starb am Unfallort. „Natürlich hatten die Angeklagten nicht die Absicht, den Jeep-Fahrer zu töten“, sagt der Richter nun. „Wir reden hier über einen bedingten Vorsatz.“

Hamdi H. wirkt uneinsichtig. Starrt in Richtung Zuhörer. Einige Verwandte sind da. Sie weinen. „Schon eine Gleichgültigkeit rechtfertigt bedingten Tötungsvorsatz“, fährt der Richter fort. Schritt für Schritt legt er seine Argumente dar. Dass es sich eben um kein Rennen auf der Landstraße, sondern durch die Innenstadt gehandelt habe. An einer Stelle, wo man auch nachts jederzeit mit anderen Verkehrsteilnehmern rechnen muss. Hamdi H. gab trotzdem Vollgas, ignorierte Ampeln. „Es lag nicht mehr in der Hand der Raser, sie hatten keine Chance zu handeln.“

Das war eine entscheidende Frage des Prozesses: Inwieweit war den Fahrern das Risiko bewusst? Es wurde schlicht ausgeblendet, hatten die Verteidiger argumentiert. Auch die Verkehrspsychologin, die ein Gutachten über Hamdi H. erstellte, hatte das gesagt. Sie hielt den Angeklagten für einen Fahrer, der seine technischen Fähigkeiten maßlos überschätze. Der glaube, er könne im Berliner Straßenverkehr „kilometerweit vorausschauen“.

Ehestädt lässt das nicht gelten. „Auch der Raser bleibt ein Mensch, der einen Kopf hat.“ Raserei sei keine seelische Krankheit. Und dann noch: „Der Raser hat im Ruhezustand die Möglichkeit von Einsicht und Erkenntnis.“ Noch in einem anderen Punkt folgt der Richter der Staatsanwaltschaft: Die Sportwagen seien in jener Nacht zu Tatwaffen geworden – zu „gemeingefährlichen Mitteln“ und nicht mehr kontrollierbar. Marvin N., der kompakte Typ im schwarzen Hemd, lässt die Schultern tief hängen.

Für Christian Fröhlich, den Staatsanwalt ist das Urteil ein Triumph. Kollegen werden ihm später kurz auf die Schulter klopfen. Schlank und sportlich, große Brille, das blonde Haar gescheitelt. Er führt derzeit auch die Anklage im großen Rocker-Mordprozess gegen Mitglieder der Hells Angels. Vor dem Saal erwartet ihn eine Mauer aus Mikrofonen und Kameras. Ruhig sagt er, dass dies eben doch ein spezieller Fall gewesen sei. „Geschwindigkeit macht ihn so besonders.“ Und dass er auf eine abschreckende Wirkung hoffe.

Der Angeklagte Marvin N. wartet auf die Urteilsverkündung. Zusammen mit einem Mitangeklagten hat er sich der Anklage zufolge ein illegales Rennen auf dem Kurfürstendamm geliefert und einen Unfall mit einem unbeteiligten Fahrzeug verursacht.
Der Angeklagte Marvin N. wartet auf die Urteilsverkündung. Zusammen mit einem Mitangeklagten hat er sich der Anklage zufolge ein illegales Rennen auf dem Kurfürstendamm geliefert und einen Unfall mit einem unbeteiligten Fahrzeug verursacht.

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Mit dieser Hoffnung ist er nicht allein. Denn immer wieder gibt es bei illegalen Autorennen Tote. Außer in Berlin starben zuletzt Menschen in Hamburg, Bremen, Saarlouis, Ludwigshafen und Frankfurt am Main, in Köln gleich drei. Urteile gegen Raser sind in der Vergangenheit als viel zu harmlos kritisiert worden. Die Höchststrafe für fahrlässige Tötung liegt bei fünf Jahren Gefängnis. In der Praxis lag das Strafmaß häufig darunter. Im Sommer 2016 sind zwei Kölner Raser in einem ähnlichen Fall – bei der eine 19-jährige Radfahrerin totgefahren wurde – lediglich zu Bewährungsstrafen von zwei Jahren beziehungsweise einem Jahr und neun Monaten verurteilt worden. Der Richter argumentierte, man könne den Beteiligten kein Rennen nachweisen, wohl aber ein „spontanes Kräftemessen“. Sechs Monate zuvor hatten zwei andere Kölner, durch deren Rennen ebenfalls ein Unbeteiligter gestorben war, Jugendstrafen von 16 und 20 Monaten auf Bewährung bekommen.

Dass es sich im Berliner Fall um ein Rennen gehandelt hat, steht für Richter Ralph Ehestädt außer Frage. Zwar hatten Hamdi H. und Marvin N. es nicht geplant, sind sich in der Tatnacht zufällig an einer Ampel am Adenauerplatz begegnet. Haben die Fenster runtergekurbelt, Hallo gesagt. Eine Woche zuvor hatten sie in einer Charlottenburger Shisha-Bar miteinander geplaudert. Als die Ampel auf Grün sprang, gab Hamdi H. Gas, und Marvin N. stieg drauf ein. „Das ist eine Eigenart der Raserszene“, sagt der Richter. „Da gibt es keine Detailabsprachen. Man taxiert den anderen und gibt Gas.“

Am ersten Verhandlungstag weinte Hamdi H. auf der Anklagebank. Den Blickkontakt zu Maximilian W., dem Sohn des Opfers, der ihm als Nebenkläger im Prozess direkt gegenübersaß, vermied er konsequent. Die Verkehrspsychologin, die ein Gutachten über H. erstellen sollte, hat ihn während einer ihre Gespräche gefragt, warum er nie versucht habe, Kontakt zu den Hinterbliebenen aufzunehmen. Er antwortete, er habe Angst davor. Denn wenn er an ihrer Stelle wäre, hätte er den Todesfahrer mit Sicherheit verprügelt. Die Gutachterin hat das als Beleg genommen, dass Hamdi H. durchaus über Empathie verfügt.

Der Nebenkläger und Sohn des Opfers, Maximilian Warshitsky, wird vor einem Gerichtssaal des Landgerichtes Berlin nach der Urteilsverkündung im Prozess um ein illegales tödliches Autorennen von Pressevertretern umringt.
Der Nebenkläger und Sohn des Opfers, Maximilian Warshitsky, wird vor einem Gerichtssaal des Landgerichtes Berlin nach der Urteilsverkündung im Prozess um ein illegales tödliches Autorennen von Pressevertretern umringt.

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Maximilian W. verpasste keinen einzigen Verhandlungstag. Nach der Verkündung zieht er sich langsam seine Jacke über das weiße Hemd. Kein Jubel bei ihm. Als er auf den Flur tritt, steht auch er vor den Mikrofonen. „Ich bin erleichtert“, sagt er. „Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen.“ Auf das Signal an die Raserszene habe er gehofft. Ist Gerechtigkeit hergestellt? Der Sohn schüttelt bedächtig den Kopf. „Die kann es nicht geben. Kein Urteil bringt meinen Vater zurück.“

Noch weniger will Verteidiger Peter Zuriel an Gerechtigkeit glauben. Er gilt als Jurist der eher leisen Töne. Heute sagt er in die Fernsehkameras: „Vor Ihnen steht ein ungeheuer wütender Verteidiger!“ Das Urteil sei nicht zu akzeptieren. Und was, wenn es vor dem Bundesgerichtshof standhält? „Dann können wir unseren Rechtsstaat vergessen!“ Die Kammer habe aus einer objektiven Gefährlichkeit einen Vorsatz konstruiert.

Solange niemand verletzt wird, werden illegale Autorennen in Deutschland bislang nur als Ordnungswidrigkeit gewertet und mit 400 Euro Bußgeld sowie einem Monat Fahrverbot belegt. Eine Bundesratsinitiative will das Gesetz verschärfen: Schon die bloße Teilnahme an illegalen Rennen soll künftig eine Straftat darstellen. Es drohen dann bis zu zwei Jahre Haft. Der Bundesverkehrsminister hat inzwischen verkündet, sein Haus arbeite an einem eigenen Gesetz.

Der Prozess gegen Hamdi H. und Marvin N. hat einen tiefen, verstörenden Einblick in eine abgeschottete Szene gegeben. Die meisten Raser sind wie die Angeklagten männlich, zwischen 18 und 30, Geringverdiener oder arbeitslos, viele haben eine schlechte Ausbildung und kaum Perspektiven im Leben. Ihre Rennwagen sind oft geleast, die Fahrer zahlen dann um die 700 Euro im Monat.

Fassungslos. „Was soll das Ganze?“, ruft Hamdi H. nach dem Urteil. Sein Freund Marvin N. sackt still zusammen.
Fassungslos. „Was soll das Ganze?“, ruft Hamdi H. nach dem Urteil. Sein Freund Marvin N. sackt still zusammen.

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Der riskante Fahrstil und der Glaube in das eigene technische Können sind Mittel, das Selbstbewusstsein künstlich zu steigern, sagt die Verkehrspsychologin, die das Gutachten über Hamdi H. angefertigt hat. „Sie halten sich für diejenigen, die auf der Straße alles unter Kontrolle haben, auch gefährliche Situationen überstehen.“ Hamdi H., der den Wagen des Opfers gerammt hat, trug in seinem Bekanntenkreis den Spitznamen „Transporter“ – wie der Held aus dem gleichnamigen Actionfilm, der riskanteste Touren ohne Fahrfehler meistert. Im Prozess hatte die Staatsanwaltschaft auch einen kurzen Videofilm vorführen lassen, in dem Marvin N. zu sehen ist, wie er, lange vor dem tödlichen Rennen, durch die City-West fuhr. Dazu seine Stimme: „Ku’damm, Alda. Wir ficken die Straße!“ Auch diese Wörter liest Richter Ehestädt in seiner Urteilsbegründung noch einmal vor.

Hat das Urteil Bestand, werden Hamdi H. und Marvin N. nie wieder in ihrem Leben Autofahren dürfen. Denn auch darauf hat der Richter heute hingewiesen: Die Todesfahrt war kein spontaner Ausrutscher der beiden jungen Männer im Straßenverkehr. Marvin N. hatte bis dahin schon 21 Ordnungswidrigkeiten begangen, Hamdi H. 16. Zusätzlich war er wegen fahrlässiger Körperverletzung im Straßenverkehr und Unfallflucht vorbestraft. So einer, sagen Prozessbeobachter, hätte im Februar 2016 gar nicht hinterm Steuer sitzen dürfen.

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