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„Ich schließ’ nicht aus, dass wir auch mal gemeinsam auftreten“, ist das Netteste, was Angela Merkel über Horst Seehofer zu sagen hat.

© imago/Sebastian Widmann

Gipfeltreffen von CDU und CSU: Der Zwangsfrieden von München

Plötzlich soll Angela Merkel wieder beste Kanzlerkandidatin aller Zeiten sein? Solche Wendemanöver kriegt nur Horst Seehofer hin. Die Versöhnung hat wenig mit Einigkeit zu tun – aber viel mit dem Herausforderer.

Von Robert Birnbaum

Wahrscheinlich glauben sie es einfach nicht. Dass ausgerechnet Martin Schulz jetzt beliebter sein soll als ihre Kanzlerin. Horst Seehofer steht vor dem neuen Franz-Josef-Strauß-Haus im Münchner Norden am Rande eines Gewerbegebietes. Und gerade ist er gefragt worden, ob er immer noch sicher sei, dass die Union die Bundestagswahl mit himmelweitem Abstand gewinnt. „Wir sind doch keine Hasen, die wild im Feld rumspringen, um den Regentropfen auszuweichen“, sagt der CSU-Chef. Soll heißen: kein Grund zur Aufregung. Schon gar nicht, wenn der Grund Schulz heißt.

In Horst Seehofers Parteizentrale kommen am Sonntagnachmittag die engeren Führungszirkel von CDU und CSU zusammen. Offiziell heißt die Veranstaltung „Zukunftstreffen“. Die Presse, unverständig wie sie nun mal ist, besteht auf „Versöhnungstreffen“, was aber auch nur halb stimmt. Eigentlich waren die zwei Tage von Seehofer als der Abschluss einer Art von Bußritual angelegt. Das begann an einem brüllheißen Sommertag 2016 auf der Insel Hermannswerder bei Potsdam, wo sich die verfeindeten Schwestern zum ersten Mal zusammensetzten, und ging weiter mit einer Reihe von Konferenzen zu den verschiedensten Themen – darunter, wenngleich verschämt unter „Integration“, auch die leidige Flüchtlingsfrage.

„Eine vorzügliche Kanzlerin“ - sagt Seehofer mit treuem Augenaufschlag

Und dann hier: der Abschluss und Höhepunkt. Was hat er das Ritual ausgekostet bis fast zuletzt! Ein Geziere und Gemunkel darum, ob es überhaupt zustande kommt, das Treffen, und ob es, wenn, dann an diesem Februarwochenende stattfindet – Seehofer wiegte noch vor Kurzem sehr bedenklich den Kopf und erklärte, erst müsse weitere Einigkeit erzielt werden. Speziell was die leidige Flüchtlingsfrage angeht. Die Sünderin, hieß das, erschien noch nicht bußfertig genug für die Absolution. Erst vor einer Woche hat er Angela Merkel höchstpersönlich den Segen gegeben als der Kanzlerkandidatin nunmehr auch von seinen christsozialen Gnaden.

Hinter dem sonderbaren Ritual steckte ein fein ziselierte Theorie. 18 Monate lang hat Horst Seehofer gegen Merkels Flüchtlingspolitik gewütet. 18 Monate lang hat er sich dafür von seinen Anhängern beklatschen und verehren lassen. Dass diese gleiche Merkel auf einmal wieder die beste Kanzlerkandidatin aller Zeiten sein soll – Politiker, sofern sie Horst heißen, kriegen solche Wendemanöver aus dem Stand hin. „Wir haben eine vorzügliche Kanzlerin, national wie international“, wird er am Montag mit treuem Augenaufschlag versichern.

Bürger kommen bei solchen Manövern schlimmstenfalls gar nicht mit. Bestenfalls brauchen sie Zeit. Seehofers Inszenierung war also fürs eigene Publikum gedacht, das glauben sollte, dass er Merkel Stück um Stück zum Entgegenkommen gezwungen habe. Nicht bis zur „Obergrenze“ leider, aber doch jedenfalls kurz davor.

So war der Plan, und so wäre es vielleicht auch gekommen, zumal sie in der CDU um des lieben Friedens willen nicht laut gesagt haben, dass von Entgegenkommen keine Rede sein kann. In der „Münchner Erklärung“, quasi dem Friedensvertrag, kommen Reizworte aus der Flüchtlingsdebatte wie „begrenzen“ oder „reduzieren“ überhaupt nicht mehr vor.

Was in dem schönen Plan auch nicht vorkam, war Schulz. Martin Schulz.

Umfragewerte wie sonst nur nach Katastrophen

Der Mann ist ja wirklich ein Phänomen. Aus dem Europapolitiker, der sich im Fernsehen immer irgendwie neben die Staats- und Regierungschefs ins Bild drängelte, ist über Nacht die Rampensau der deutschen Politik geworden. Derartige Sprünge von Umfragewerten erlebt man sonst höchstens bei Reaktorkatastrophen.

Am Gehalt von Schulz’ Reden und Interviews liegt es nicht. Die bestehen aus Sätzen für das sozialdemokratische Poesiealbum: „Millionen von Menschen fühlen, dass es in diesem Staat nicht gerecht zugeht.“ So was hat Sigmar Gabriel auch gesagt, notfalls dreimal täglich. Nur sind ihm nicht gleich Parteimitglieder jubelnd zu Füßen gefallen. Der Unterschied liegt im Ton, genauer: im Unterton. Schulz klingt so, als könne es gar keinen Zweifel geben, dass er a) diese beklagenswerten Zustände abschaffen und b) allein schon deshalb selbstverständlich Kanzler wird.

Dieses überbordende Selbstbewusstsein hat übrigens womöglich eine simple Erklärung. Der Mann leidet nicht am Morbus Albig. Torsten Albig ist Ministerpräsident in Schleswig-Holstein und hat sich in seiner Partei einmal sehr unbeliebt gemacht mit der Feststellung, solange die Kanzlerin Merkel heiße, könne sich die SPD einen Kanzlerkandidaten sparen. Die anderen waren vor allem deshalb sauer, weil er recht hatte. Dieses lähmende Gefühl hat sich in alle Genossen hineingefressen, die jahrelang vergeblich gegen Merkel angerannt sind. In Schulz im fernen Brüssel nicht. Er muss keine Resignation überspielen wie die anderen. In ihm steckt gar keine.

Am Sonntag ist Mitternacht vorbei, als die Parteigranden vom amtlichen Teil zum Grillabend übergehen und, in dessen späteren Verlauf, zu einem Gin aus Niederbayern. Im amtlichen Teil haben sie vorher, wie es amtlich heißt, über die wichtigen Themen und Fragen des Wahljahrs gesprochen. Bis vor Kurzem hätte ein SPD-Kanzlerkandidat zu diesen Fragen nicht gehört. Eine 20-Prozent-Partei war keine Konkurrenz. Eine 30-Prozent-SPD ist es.

Trotzdem versuchen alle, jetzt nicht hasenartig zu erscheinen. Ja, doch, auch über Schulz habe man drinnen gesprochen. Aber nicht lange. „Das war übersichtlich“, versichert der Hesse Volker Bouffier. Draußen vor den Kameras und Mikrofonen ist Schulz dafür praktisch das einzige Thema. Alle üben sich im Abwehrzauber. „Wir haben ja nicht vor, das Wahlsystem zu ändern“, sagt CDU-Vize Julia Klöckner, darauf angesprochen, dass bei Kanzler-Direktwahl der Mann aus Würselen die Frau aus dem Kanzleramt mit 50 zu 34 schlagen würde. Ansonsten tröstet sich die Rheinland-Pfälzerin wie viele andere mit der Soufflee-Theorie: Wenn der Herausforderer erst konkret werden müsse, werde rasch die Luft raus sein.

Nur – warum sollte Schulz konkret werden müssen? Gut, er ist der Kandidat und bald der Chef einer SPD, die sich als Programmpartei versteht. Ihre Wahlprogramme bestehen traditionell aus Spiegelstrich-Listen, in die jeder Parteiflügel seine Lieblingsprojekte reinschreibt. Die konnte die Union dann immer sehr bequem attackieren.

"Rot-Rot-Grün" spielt eine Rolle wie "Obergrenze"

Aber was, wenn Schulz auf Tradition pfeift? Bisher läuft es für ihn gut mit Wohlfühlsätzen, sehr gut. Es läuft auch gut mit scharfen Sätzen gegen die Donald Trumps dieser Welt, Sätze, die eine Kanzlerin nie sagen kann. Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt greift deshalb lieber zum sportlichen Vergleich, als er im dünnen Anzug leise frierend vor der CSU-Zentrale ein paar Mikrofone hingestreckt bekommt. „Ein Wahlkampf wird im Marathon entschieden“, sagt der frühere CSU-Generalsekretär, „nicht auf der Kurzstrecke.“

Das Bild wirkt tröstlich; man glaubt sofort, den Kandidaten vor sich zu sehen, wie er nach Luft japsend zurückbleibt. Leider ist das Bild aber nur ein Vergleich, und obendrein ein reichlich hinkender. Im echten Wahlrennen könnte Schulz’ Blitzstart bis zum Schluss als Fanal dafür durchtragen, dass erstaunlich vieles möglich werden könnte – auch wenn zwischendurch die Werte wieder sinken. Dobrindt gibt ja im nächsten Satz selber zu, dass die SPD mit Schulz zum ersten Mal seit Langem eine eigene Machtperspektive in Reichweite hat.

„Rot-Rot-Grün“, sagt Dobrindt noch, für den Fall, dass jemand ihn nicht klar genug verstanden hat. Das Linksgespenst spielt in Horst Seehofers Bußinszenierung eine ähnliche Rolle wie die ominöse „Obergrenze“. Das O-Wort soll den Wählern, die bei der neuen Einigkeit in der Union nicht so schnell mitkommen, die Gewissheit suggerieren, dass die CSU auf die Merkel aufpasst. Für die, denen das immer noch nicht reicht für ein Kreuz bei den Unionsparteien, ist das Gespenst. Wollt ihr Sarah Wagenknecht und Anton Hofreiter – oder dann doch noch mal, zähneknirschend, die Merkel?

Am Montagmittag findet die Ausrufung der Kanzlerkandidatin im Geschäftsgang statt. Merkel und Seehofer sitzen auf dem Podium hinter einem Tisch und erstatten Bericht. Seehofer berichtet, dass die beiden Präsidien „mit erkennbarer anhaltender Zustimmung“ zugestimmt hätten, mit Merkel in den Wahlkampf zu ziehen. Seehofer baut auch sonst recht umständliche Sätze, mit sehr viel „äh“ dazwischen, ganz ungewöhnlich. Normalerweise ist Merkel für eigenwillige Grammatik zuständig. Aber die CDU-Chefin muss hier nicht so viel erklären. Sie kann sich darauf beschränken, Seehofer ein bisschen aus der Verlegenheit zu helfen. Der „Weg von Hermannswerder bis hierher“ – wichtig. Die beiden Tage im Strauß-Haus – wichtig.

Merkel: Bayern gehört immer noch zur Bundesrepublik

Immerhin weichen sie dem Streitthema nicht aus. Seehofer bleibt bei der „Obergrenze“, Merkel bleibt dabei, dass sie davon nichts hält. Der beiderseitige Abrüstungsvertrag sieht vor, dass man gegenseitig diese abweichende Position „respektiert“, ansonsten aber jetzt lieber erst mal die Wahl gewinnt, bevor man über Koalitionsverträge räsoniert und darüber, dass Seehofer keinen solchen unterschreiben will ohne Obergrenze. Er werde, verspricht der CSU-Chef, das Wort jetzt auch nicht täglich wiederholen. Außerdem habe er gerade in der Sitzung darauf hingewiesen, dass bei den 12 000 Asylbewerbern im Monat, die im Moment verzeichnet würden, die „Obergrenze“ ja gar nicht erreicht würde. Merkel schweigt zu der Rechnung. Sie belässt es bei einem allgemeinen Satz: „Ich meine, Gemeinsamkeit ist schon ein hohes Gut in der Wahrnehmung der Menschen.“

Gemeinsamkeit? Dieser Zwangsfrieden? Irgendwann fragt ein Journalist nach der Überprüfungspraxis des Bundesflüchtlingsamts in Bayern im Unterschied zur Bundesrepublik. So ein Spezialthema gehört hier eigentlich nicht hin. Aber Merkel antwortet gewohnheitsmäßig auf Fragen. „Bayern gehört ja immer noch zur Bundesrepublik Deutschland“, sagt sie und erläutert dann die Details. Seehofer will etwas ergänzen: „Nachdem Bayern zu Deutschland gehört, was ich bestätigen kann … für den Augenblick ...“ Er grinst sein Bubengrinsen. Merkel zieht ein Gesicht wie Regenwetter. Nicht schon wieder blöde Witze, bitte! Ob man die beiden gemeinsam auf Wahlkampfbühnen sehen werde, will ein anderer Frager wissen. Merkel stutzt, man sieht sie innerlich den Reiseplan fürs Jahr durchgehen: „Ich schließ’ nicht aus, dass wir auch mal gemeinsam auftreten.“ Sie meint das nicht einmal politisch. Im höheren Sinne ist es aber ehrlich. Da vorne sitzt kein Traumpaar, sondern eine Zwangsgemeinschaft, die die Scheidung bloß nicht eingereicht hat wegen der Kinder und des komfortablen Hauses in Berlin.

An der Gemeinsamkeit müssen sie aber doch arbeiten. Schon allein wegen Martin Schulz. Bei den „Bild“-Demoskopen hat die SPD gerade die CDU überholt. Merkel bleibt unbewegt: „Ich hab’ bei jeder Bundestagswahl meine Herausforderer ernst genommen.“ Seehofer erzählt, dass er in seine erste Landtagswahl mit einem kräftigen Rückstand gegen den SPD-Herausforderer Christian Ude gegangen sei. Er meint das offenbar als Trost. Aber Merkel geht nicht in die erste Wahl, sondern in die vierte, und den Vorsprung hatte bisher sie.

Am Morgen hat Manfred Weber draußen in der Kälte vor der Parteizentrale gestanden und sich so seine Gedanken gemacht. Der Chef der Konservativen-Fraktion im Europaparlament kennt den Sozialdemokraten Schulz gut, zuletzt als Parlamentspräsidenten. Er hat aus der Nähe erlebt, wie der Mann einen drögen Europawahlkampf praktisch im Alleingang zum Medienereignis gemacht hat. Er kennt seinen Machtwillen, seine Disziplin, seine Schlagfertigkeit und seine Fähigkeit zur Leidenschaft. Weber, mit anderen Worten, weiß um die Gefährlichkeit dieses Herausforderers. „Die Frage ist“, sinniert er, „wie wir auf die Emotionalisierung reagieren.“

Wenn das die richtige Frage ist, dann wird Angela Merkel die Antwort darauf finden müssen. Auf Emotionalisierung, ausgerechnet.

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