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Die fast 90-jährige Eva Sternheim-Peters.

© Doris Spiekermann-Klaas

Eva Sternheim-Peters über die Nazizeit: "Ich bin nicht mitgelaufen, ich bin begeistert mitgestürmt"

Sie war begeistert mit dabei, damals in der Nazizeit. Später fragte sich Eva Sternheim-Peters: Warum? Als sie die Antwort gefunden hatte, schrieb sie ein Buch, das hoch gelobt und wenig gelesen wurde. Denn es enthält eine Erkenntnis, die viele bis heute nicht hören wollen.

Paderborn, 1945. Ein Wagen mit US-Soldaten, eine junge Frau auf dem Rad. Als sie die Amerikaner sieht, hebt sie die Hand zum Hitlergruß. Und wird die nächsten Jahre damit verbringen, zu ergründen, warum sie das getan hat.

Eva Sternheim-Peters, 90 Jahre alt, sitzt in ihrer Charlottenburger Wohnung, die mit Büchern vollgestellt ist. Sie stapeln sich in Regalen, Kästen, mitten im Zimmer und tragen Titel wie „Das Dritte Reich“, „Unterm Hakenkreuz“ und „Anmerkungen zu Hitler“.

Da gibt es all diese Bücher über die Nazizeit und immer wieder dieselbe Frage: Waren die Deutschen Mitläufer oder mehr? Doch das, was Eva Sternheim-Peters dazu zu sagen hätte, will heute kaum einer hören. „Dabei war ich doch direkt dabei und verleugne es nicht.“ 70 Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nun vergangen. 70 Jahre seit der Zeit, über die Eva Sternheim-Peters sagt: „Ich bin nicht mitgelaufen, sondern begeistert mitgestürmt.“

Als Eva Sternheim-Peters’ Leben 1925 in Paderborn beginnt, ist der Erste Weltkrieg noch allgegenwärtig. Die Brüder Günter und Erwin zeigen der kleinen Eva Kriegsbilderbücher, schon früh kennt sie Begriffe wie Schrapnell und kann die Umrisse des Deutschen Reichs nachzeichnen. Das Elternhaus ist katholisch und bürgerlich, der Vater unterrichtet Biologie am humanistischen Gymnasium. Aus dem Ersten Weltkrieg kehrt er ohne Orden heim, an der Schule, wo die Lateiner und alten Griechen den Ton angeben, hat er es nicht ganz leicht. Eines Tages erzählen die Brüder Eva empört, dass Deutschland fast bis zur Jahrtausendwende Reparationszahlungen leisten müsse, dann vereinbaren sie feierlich ein Treffen fürs Jahr 2000. Doch dazu kommt es nicht. Günter und Erwin, beide überzeugte Nazis, sterben im Krieg.

Wie konnte sie so verführt werden?

Noch bis kurz vor Kriegsende hielten die Nazis ihre Propaganda aufrecht, von der sich so viele verführen ließen. Dieses Bild ist eines der letzten, die von Adolf Hitler gemacht wurden.
Noch bis kurz vor Kriegsende hielten die Nazis ihre Propaganda aufrecht, von der sich so viele verführen ließen. Dieses Bild ist eines der letzten, die von Adolf Hitler gemacht wurden.

© dpa

„Und ich habe nicht mal versucht, sie zurückzuhalten“, sagt Eva Sternheim-Peters. Wie konnte sie so verführt werden? Um sich, wie sie sagt, selbst auf die Schliche zu kommen, studiert sie in den 50ern Psychologie. In den 70ern geht sie als Mitarbeiterin des Soziologischen Instituts der Freien Universität nach Berlin. Ihre Seminare haben Titel wie „Alltagsleben von Frauen und Mädchen im Faschismus“, die Studenten kommen scharenweise, sie sind links und kritisch, aber sagen trotzdem nur Schablonensätze: „Eigentlich waren meine Eltern gegen Hitler, sie hatten nur Angst.“ Ein Land im stillen Widerstand also. Doch hätte sie den geliebten Günter, der seinen Namen in Günther abwandelte, damit er germanischer aussähe, ziehen lassen, wenn sie nicht an die Sache geglaubt hätte?

Ihr Leben lang quält sie diese Frage. Als sie endlich weiß, dass sie sie mit Nein beantworten muss, schreibt sie ein Buch. Es sind 382 Seiten harte Lektüre, sprachlich anspruchsvoll, inhaltlich quälend. Es beschreibt schonungslos die fatale Faszination der Nazis. „Ich dachte“, sagt Eva Sternheim-Peters, „die Verlage reißen es mir aus der Hand.“ Doch es kam anders.

Sieben Jahre kämpft Sternheim-Peters um eine Veröffentlichung, 1987 zeigt ein alternativer Kleinverlag Interesse. Das Buch erscheint in minimaler Auflage, der Titel: „Die Zeit der großen Täuschungen“. Dann geht dem Verlag das Geld aus. Im Laufe der nächsten Jahre wird das Buch in zwei anderen Nischenverlagen erscheinen, zuletzt unter dem Titel: „Habe ich denn allein gejubelt?“, die Stückzahl bleibt gering.

Die alte Frau schüttelt den Kopf, zündet sich eine Zigarette an, die erste von vielen. Vor ihr auf dem Tisch liegen einige Briefe. Gerade ist die Berliner Verlegerin Karin Kramer gestorben, die das Buch im Jahr 2012 noch einmal veröffentlichte, Sternheim-Peters gab damals Geld dazu. Findet sich nun kein neuer Verlag, ist das wohl endgültig das Aus für das Buch. Die Briefe auf dem Tisch sind alles Absagen. Die einen finden den Text zu speziell, die anderen zu umfangreich, die einen bemängeln, dass es kein Sachbuch sei, die anderen meinen, sie solle einen Roman schreiben. Und die großen Verlage haben gar nicht geantwortet.

Gibt es da trotz des scheinbar unermüdlichen Aufklärungswillens etwas, das die Deutschen lieber nicht über sich erfahren wollen? Sternheim-Peters zuckt mit den Schultern. „Über die Nazizeit wird immer nur vom Ende her berichtet, man spricht über Krieg und Gewalt, aber nicht darüber, wie es begonnen hat.“

Wie Eva Sternheim-Peters ihre Zeit beim BDM erlebt

Inmitten ihrer Bücher. Eva Sternheim-Peters beschäftigt sich seit dem Ende der Nazizeit mit der Schuldfrage der Deutschen.
Inmitten ihrer Bücher. Eva Sternheim-Peters beschäftigt sich seit dem Ende der Nazizeit mit der Schuldfrage der Deutschen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Überhaupt ignorieren die gängigen Erklärungsversuche die emotionale Beteiligung der Deutschen: die Historikerin Hannah Arendt beschreibt Adolf Eichmann als beschränkten Apparatschik, die Psychologin Alice Miller geht davon aus, die damalige autoritäre Erziehung habe passive Befehlsempfänger hervorgebracht. Woran Sternheim-Peters sich dagegen erinnert: „tief empfundene Gemeinschaftserlebnisse“, „ein neues Frauenideal“ und „die Vision einer strahlend aufgehenden Sonne“.

31. Januar 1933. Wie jeden Morgen liest Eva ihrer Familie die Schlagzeilen vor. „Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt.“ Der hat doch nicht mal Abitur, sagt die Mutter. „Soll er mal probieren, wo er immer so einen Krach macht“, erwidert der Vater. Dann geht das Frühstück weiter. Evas Eltern wählen die katholische Zentrumspartei, ihre größte Sorge sind die Kommunisten. Auch Eva fürchtet sie. Die Brüder haben ihr erzählt, sie würden mit Kindsköpfen kegeln. Und dann die schreckliche Armut. Überall sind Bettler, auch die Familie ihrer Freundin Anneliese hat kaum Geld und die Mädchen sehen sich immer weniger. Bis sie sich auf dem Wochenmarkt begegnen. Hitler ist längst an der Macht, Annelieses Mutter trägt einen Mantel mit Pelzkragen. „Mein Mann hat wieder Arbeit“, sagt sie strahlend. Wenig später sieht Eva Annelieses Bruder in SA-Uniform.

Ab 1935 trägt sie Uniform - und ist begeistert

Viele junge Frauen waren fasziniert von der Gemeinschaft im Bund Deutscher Mädel.
Viele junge Frauen waren fasziniert von der Gemeinschaft im Bund Deutscher Mädel.

© dpa

Eva trägt ab 1935 die Uniform vom Jungmädelbund und ist begeistert. Endlich verlässt sie die Sphäre der Eltern und ihrer katholischen Schule, geprägt von der Trennung zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft, Katholiken und Protestanten. Im Jungmädelbund sind alle gleich und Eva erlebt die Nazijahre als Revolution der Jugend – und weiblichen Befreiung. Sie ist vernarrt in Bücher, liebt Schillers Ballade „Die Bürgschaft“, Karl Mays „Winnetou“, alles Geschichten über Männerbünde, endlich gibt es so etwas auch für Mädchen. Unterwegs mit dem Jungmädelbund lernt Eva, ein Rad zu flicken und ein Zelt aufzubauen und singt laut mit: „Es zittern die morschen Knochen ... Denn heute da hört uns Deutschland und morgen die ganze Welt.“

In den 80er Jahren wird Sternheim-Peters das Lied wieder singen, dieses Mal bei einer Probelesung an der FU. „Soll ich das wirklich singen, oder ist das peinlich?“, fragt sie ihre Studenten. „Nein, mach das“, antworten sie. Sternheim-Peters hat einige Lesungen und bekommt begeisterte Zuschriften von Lesern ihres Alters: Ja, genau so war es. Doch der große Erfolg bleibt aus - auch zur Überraschung Arno Klönnes. Der Paderborner Professor, der mit „Jugend im Dritten Reich“ ein Standardwerk verfasste, las Sternheim-Peters’ Manuskript schon früh. Am Telefon sagt er, er sei beeindruckt gewesen. „Die Attraktivität der Nazibewegung wird sonst verschwiegen.“ Klönne war es auch, der den Kontakt zum ersten Verlag herstellte. Dass es so unterging in der öffentlichen Wahrnehmung, liegt seiner Meinung nach daran, dass es eine Wahrheit enthält, für die Deutsche sich schämen. „Dass die Nazis Anziehungskraft besaßen, hört man nicht gern. Lieber erklärt man sich ihren Erfolg mit äußeren Zwängen. Doch das ist Unsinn, wenn man aufklären will.“

Daniel Goldhagens Buch "Hitlers willige Vollstrecker" löste 1996 eine Kontroverse über die Haltung der Deutschen gegenüber den Juden aus. Für die Sichtweise einer Zeitzeugin interessierte sich kaum jemand.
Daniel Goldhagens Buch "Hitlers willige Vollstrecker" löste 1996 eine Kontroverse über die Haltung der Deutschen gegenüber den Juden aus. Für die Sichtweise einer Zeitzeugin interessierte sich kaum jemand.

© dpa

In der „Taz“ nennt der Publizist Arno Widmann das Buch „eins der wichtigsten“ über den Nationalsozialismus. „Kaum ein anderes macht Betrug und Selbstbetrug der Deutschen so deutlich wie dieses.“ Und im „Tagesspiegel“ schreibt der damalige Feuilletonchef Heinz Ohff: „Selbst Angehöriger einer Generation, die ihre Kindheit im Dritten Reich verlebte, muss ich gestehen, dass die Authentizität dieser Darstellung mich erstaunt, bedrückt und nachdenklich gemacht hat.“ Doch das war es. Selbst als 1996 Daniel Goldhagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ eine Kontroverse über die Haltung der Deutschen gegenüber den Juden auslöst, interessiert sich niemand dafür, was eine Zeitzeugin zum Thema Antisemitismus zu sagen hat.

Sie ist eine Jüdin, tuscheln die Mädchen

Anfang der 30er Jahre. In Evas Klasse geht ein Mädchen namens Irmgard Müller. Eine Jüdin, tuscheln sich die anderen Mädchen zu. Und trotzdem: diskriminiert wird Irmgard anfangs nicht. Eher bestaunt. Weil sie nicht zum Religionsunterricht muss und als Tochter eines Getreidegroßhändlers ein beheiztes Kinderzimmer und viele Bücher besitzt. Eins davon, „Dieter und Dietlinde“ leiht sich Eva aus. Doch schon 1935 kippt die Stimmung. „Kommt Irmgard etwa auch?“, fragen die Klassenkameradinnen, als Evas Namenstag ansteht. Eva nickt, sie lädt alle Mädchen ein, doch Irmgard wird nicht erscheinen. Für Eva ein Beweis, dass sich die Juden absondern. Bald darauf verlässt Irmgard die Schule.

Einmal begegnen sich die Mädchen noch. Eva trägt ihre Uniform, ist etwas verlegen: Sie habe noch dieses Buch von ihr. Ob Irmgard es zurück haben wolle. Irmgard reagiert ausweichend. Das werde sie wohl nicht mehr brauchen. Zu dieser Zeit singen die SA-Männer schon: „Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt, dann geht's nochmal so gut.“

Was hat man gewusst? Die Deutschen und der Holocaust

Inmitten ihrer Bücher. Eva Sternheim-Peters beschäftigt sich seit dem Ende der Nazizeit mit der Schuldfrage der Deutschen.
Inmitten ihrer Bücher. Eva Sternheim-Peters beschäftigt sich seit dem Ende der Nazizeit mit der Schuldfrage der Deutschen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Was hat man damals gewusst? Die große deutsche Frage. Eva Sternheim-Peters versucht sie zu beantworten. Erzählt, wie ihr Vater, so lieb er auch war, die so genannte Judenfrage erörterte und überlegte, ob die Juden besser in Uganda oder Palästina aufgehoben seien. Dass da auch Ressentiments eines Beamten gegenüber vermögenden Kaufleuten mitgeschwungen hätten. Und wie das Vorurteil, dass die Juden ein nicht ehrbares Händlervolk seien, kultiviert worden sei.

Den Text der Reichstagsrede Hitlers vom 20. Januar 1939 kann Eva Sternheim-Peters immer noch auswendig: „Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in- und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann würde das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.“

Wenn – dann. Hätte sie das verstehen müssen? „Wir dachten, die Juden seien alle ausgewandert.“ Ein paar Mal sieht sie in Paderborn noch einen mit Judenstern, wundert sich kurz, wendet sich aber rasch anderen Dingen zu. Der Sorge um die Brüder zum Beispiel.

Was aus Irmgard Müller wurde – die Geschichte ihrer Emigration, der Tod von Onkel, Tante, Cousin – hat Sternheim-Peters später recherchiert. Fürs Buch und für sich selbst. Es scheint, als sei ihr Leben nach 1945 der Versuch, die Jahre bis dahin zu erklären und gegen sie anzuleben. Kurz nach Kriegsende sieht sie in einem behelfsmäßig eingerichteten Kino Aufnahmen aus Bergen-Belsen. Einige Zuschauer verlassen den Saal, Sternheim-Peters bleibt. Fährt auch nach Polen zu einem Vortrag über deutsche Kriegsverbrechen und bringt dort kaum ein Wort Deutsch heraus.

Ihre letzte Postkarte hat er noch

In den 50ern lernt sie in Hamburg den Juden Walter Sternheim kennen. Er floh nach Palästina, seine Mutter wurde nach Riga deportiert. Ihre letzte Postkarte hat Sternheim noch, 25 Wörter zum Abschied. Eva Sternheim-Peters liest sie. Darf sie angesichts solchen Leids um einen trauern, der auf eigenen Wunsch von Günter zu Günther wurde? Andererseits: Wie eine Beziehung führen, wenn sie so ungleich ist? 15 Jahre suchen die Nazianhängerin und der Verfolgte eine Antwort auf diese Frage, dann trennen sie sich.

Eine schwarz-weiße Katze kommt in die Küche. Lange wusste Sternheim-Peters nicht, wie sie das Tier nennen sollte, und sagte einfach: „Na, du“ zu ihr. Bis das ihr Name wurde. Nadu. Fremdländisch klingt das, genau wie die Namen in dem kleinen roten Buch, das die alte Frau nun holt und auf den Tisch legt, direkt neben die höflich formulierten Verlagsabsagen. Nachdem Sternheim-Peters jahrelang um ihr Buch gekämpft hat und darum, dass die Menschen erfahren, warum Deutschland mal so ein schlechter Ort war, begann sie darum zu kämpfen, dass das heutige Deutschland ein besserer Ort wird. Half Zacharia aus Dschibuti bei der Wohnungssuche, unterstützte Jose aus der Dominikanischen Republik beim Deutschlernen und setzte sich für zwei bosnische Brüder bei den Behörden ein.

An den blauen Wänden ihrer Wohnung hängen Bilder dieser Flüchtlinge und ihrer Familien Ihre Nummern stehen in dem kleinen roten Buch. Jose wohnt nur drei Häuser weiter, er arbeitet als Telekommunikationstechniker, die Bosnier leben inzwischen in Amerika. Zu jedem Namen im roten Telefonbuch kann Sternheim-Peters eine Geschichte erzählen, sein Einband ist geklebt, so oft hat sie es zur Hand genommen. Das andere wichtige Buch ihres Lebens ist außer Sichtweite. Unter ihrem Bett hat Eva Sternheim-Peters noch hundert Exemplare von „Habe ich denn allein gejubelt?“, ganz neu und ohne jede Gebrauchsspur.

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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