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Über Grenzen hinweg. Aktivisten haben am Mittwoch vor der türkischen Vertretung in Berlin für Peter Steudtners Freilassung und der anderen Angeklagten demonstriert.

© Christian Ditsch/Imago/epd

Update

Erster Prozesstag gegen Peter Steudtner: Die große Überraschung in Istanbul

Mehr als 100 Tage hat er im Gefängnis mit Yoga und TaiChi überbrückt. Als dann der Prozess wegen Terrorunterstützung beginnt, lenkt die Staatsanwaltschaft in einem Punkt ein.

Was mag Peter Steudtner in diesen Momenten wohl durch den Kopf gegangen sein? Da steht er nach mehr als hundert Tagen in türkischer Untersuchungshaft am Mittwoch zum ersten Mal vor dem Richter – und muss sich mit Vorwürfen über einen „Elephanten“ befassen. Die regierungstreue Presse des Landes hat den Menschenrechtler als feindlichen Agenten abgestempelt, der unter anderem mit einem deutschen Überwachungsprogramm namens „Elephant“ gearbeitet haben soll. Der „Chaos-Trainer“ Steudtner habe das alles gestanden, hatte die Zeitung „Star“ schon im Juli verkündet. Der „Elephant“ ist nicht der einzige surreal anmutende Aspekt des Prozesses, der am Mittwoch im Justizpalast im Istanbuler Stadtteil Caglayan mit einer gewaltigen Überraschung endete.

Am Vormittag, eine Stunde später als geplant, wird die Verhandlung eröffnet. Draußen, vor dem Justizpalast im Istanbuler Stadtteil Caglayan, demonstrieren Menschen für die Freilassung des Berliners Peter Steudtner und der zehn anderen Menschenrechtler, die drinnen gerade der Anklageverlesung zuhören.

Auch vor der türkischen Botschaft in Berlin demonstrieren Menschen, der Berliner Grünen-Politiker Özcan Mutlu wiederum ist in der Türkei, um aus dem Gericht zu berichten. „Großes Gedränge“, schreibt er auf Twitter, „Saal platzt aus allen Nähten“, „viele Gäste bleiben draußen“, „30Anwält*innen im Saal, ebenso viele Sicherheitskräfte“. Unter den Prozessbeobachtern ist auch der deutsche Generalkonsul in Istanbul, Georg Birgelen.

Ein Blick ins Internet hätte genügt

Vor dem Richter erläutert Steudtner, mit „Elephant“ sei wohl „Elefand“ gemeint – die Abkürzung steht für die Elektronische Erfassung von Deutschen im Ausland, ein Angebot des Auswärtigen Amtes, um bei Katastrophen wie Erdbeben betroffene Bundesbürger möglichst rasch kontaktieren oder in Sicherheit bringen zu können. Wie viele Deutsche im Ausland hatte sich auch Steudtner, der schon in verschiedenen Ländern der Welt gearbeitet hat, dort registriert. Geheim oder subversiv ist an „Elefand“ überhaupt nichts. Mit einem Blick ins Internet oder einem Gespräch mit deutschen Diplomaten hätte das auch die türkische Staatsanwaltschaft in Erfahrung bringen können. Aber das hätte nicht ins Bild gepasst.

Dieses Bild der Anklage sieht ungefähr so aus: Zusammen mit anderen Menschenrechtlern trifft sich Steudtner Anfang Juli zu einer Geheimsitzung auf der Insel Büyükada im Marmarameer, um allerhand staatsfeindliche Gruppen in der Türkei zu einem Aufstand gegen die Regierung anzustacheln. Unterstützt worden seien dabei die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, die radikale kurdische Terrororganisation PKK und die linksextreme DHKP-C – alles Organisationen, die sich spinnefeind sind.

Für Steudtner, der sich bis zu seinem Besuch auf Büyükada nicht eingehend mit der Türkei befasst hatte, sind die Namen und Abkürzungen ohnehin ein Rätsel: Bis zu seiner Festnahme habe er nur von zwei der drei Gruppen überhaupt gehört – und das auch nur in den Nachrichten, sagt er vor dem Richter, wie Prozessteilnehmer aus dem Verhandlungssaal melden. Wie er Organisationen geholfen haben soll, die er nicht einmal kannte, bleibt ein Geheimnis der Staatsanwälte. Rätselhaft bleibt auch, warum die Polizisten bei ihrer Razzia auf Büyükada seinen Namen riefen, wie Steudtner berichtet.

Das Konstrukt mit der gleichzeitigen Hilfe für Gülen, PKK und DHKP-C ist mindestens so merkwürdig wie der „Elephant“, bildet aber trotzdem einen wichtigen Bestandteil der Anklageschrift, in der für Steudtner und neun weitere Angeklagte jeweils fünf bis zehn Jahre Haft gefordert werden; für den elften Angeklagten, den Türkei-Vorsitzenden von Amnesty International, Taner Kilic, verlangt die Staatsanwaltschaft sogar 15 Jahre. Die Anklageschrift war offenbar in aller Eile geschrieben worden, nachdem Außenminister Mevlüt Cavusoglu vor wenigen Wochen angesichts deutscher Proteste gegen Steudtners Inhaftierung eine rasche Bearbeitung des Falles zugesagt hatte.

Ein Geheimtreffen - an einem öffentlichen Ort

Auch bei anderen Vorwürfen müssen sich die Behörden fragen lassen, wie sie zu ihren Schlussfolgerungen kommen. So ist zwar von einem „Geheimtreffen“ auf Büyükada die Rede – doch der Workshop fand in einem Hotel auf der Insel statt, und zwar bei offenen Türen, wie Steudtner vor Gericht sagt. Die Türen des Tagungsraums auf Büyükada standen auch offen, als die Polizei erschien, um die Teilnehmer des Seminars abzuführen – das ist im Polizeiprotokoll so vermerkt. Eine Karte aus einem Sprachenatlas des Nahen Ostens, die bei einem Seminarteilnehmer gefunden wurde, dient als Beweis für die angebliche Absicht der Menschenrechtler, die Türkei aufzuteilen.

Andere Schuldvorwürfe gründen auf Aussagen eines Übersetzers, der für den Workshop der Menschenrechtler auf Büyükada angestellt worden war. Bei dem Seminar ging es unter anderem um Datensicherheit für Menschenrechtsaktivisten – der Übersetzer vermutete staatsfeindliche Aktivitäten und ging zur Polizei. Aus dem Treffen von Aktivisten, darunter Vertretern von Amnesty International und anderer Gruppen, wurde so in den Augen des türkischen Staates eine Besprechung von Umstürzlern. Präsident Recep Tayyip Erdogan ließ das Gericht schon vor Monaten wissen, was in dem Fall zu tun ist: Erdogan beschuldigte die Menschenrechtler, sie hätten nach dem gescheiterten Putsch vom vergangenen Jahr einen neuen Staatsstreich vorbereiten wollen.

"Das tut mir sooo gut!"

Steudtner schildert, wie es ihm nach seiner Festnahme auf Büyükada erging. Er habe drei Tage lang in einer Zelle gesessen, ohne Verbindung zur Außenwelt zu haben. Da er nicht Türkisch spricht, konnte er nicht verstehen, was die Polizisten ihm sagten.

Steudtners Freunde wissen, dass er im Gefängnis Marathon gelaufen ist. Ab und zu schreibt er Briefe, die werden dann in seiner Berliner Kirchengemeinde verlesen. Im ersten steht: „Die extreme Einschränkung unserer Kommunikation ist hart: 1 Mal die Woche 1 Stunde mit unseren tollen AnwältInnen, alle 2 Wochen 10 Minuten Telefon mit unseren Familien. Dagegen komme ich nur mit viel Yoga, Tai-Chi (Dank an alle, die es mir beibrachten), Hofmarathon (900 Runden!) und mit Lesen an!“ Was ihm jedoch auch helfe, schreibt Steudtner, sei „das Wissen, dass viele Menschen an mich und uns denken. Jeden Abend 18 Uhr Berliner Zeit“ singe er „laut im Hof! Das tut mir sooo gut! Und meine Zellennachbarn kennen die Lieder auch schon!“

Jeden Abend, Punkt 18 Uhr. Seit Peter Steudtner am 5. Juli verhaftet wurde, haben die Freunde keinen Tag ausgelassen. Manchmal sind sie nur etwa zehn, montags immer etwas mehr. Am Montag dieser Woche, zwei Tage vor Prozessbeginn, sind es gut 50 Menschen, die in die Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg gekommen sind. Sie beten für Steudtner, ihren Freund, der immer nur anderen helfen wollte und dem nun sie irgendwie helfen wollen. Nur, was können sie schon tun? Sie können – metaphysisch – glauben, hoffen, beten. Und sie können ganz irdisch ein Zeichen setzen. Wir denken an dich! Wichtig ist nur, dass er es weiß.

Wer Steudtners Briefe liest, kann erahnen, was seine treuen Verbündeten in etwa 2000 Kilometern Entfernung an ihm schätzen. Wie viel Lebensmut in ihm steckt, wie ansteckend das sein kann. „Seine Berichte strahlen eine Energie aus, die beeindruckend ist. In einer Situation, in der man auch nur Ohnmacht empfinden könnte“, sagt Allmut Bellmann, die Pfarrerin der Gemeinde. Am 24. September, dem Tag der Bundestagswahl und des Berlin-Marathons, lief er 1200 Runden in seinem Hof. Auch das Wahlergebnis in der Heimat treibt ihn um. Er schreibt: „Und nach diesem Wahlergebnis brauchen wir auch für politische Solidarität und gelebte Weltoffenheit einen langen Atem!“

Die Staatsanwaltschaft folgt Steudtners Bitte

Der 45-jährige Berliner beantragt vor Gericht seine sofortige Freilassung – und findet sich einige Stunden später überraschend auf einer Seite mit der Anklagevertretung: Die Staatsanwaltschaft bittet das Gericht, alle Angeklagten bis auf den kurdischen Aktivisten Veli Acu auf freien Fuß zu setzen. Am Ende ordnet das Gericht die Freilassung an.

Inzwischen ist es Abend geworden in Istanbul. Die Anwälte der Beschuldigten hatten im Gerichtssaal noch einmal die Gründe dafür zusammengetragen, warum die Beschuldigten keinen Tag länger hinter Gittern bleiben dürften. Unter türkischen Twitter-Nutzern wird bereits Kritik an der Justiz laut, die den Menschenrechtlern über Monate eine Terrorunterstützung vorwirft, nur um dann gleich am ersten Tag des Prozesses ihre Freilassung zu fordern.

Ohne Intervention der Regierung sei das Verhalten der Staatsanwälte kaum zu erklären, meint der amerikanische Türkei-Experte Howard Eissenstat auf Twitter. Möglicherweise spielt wachsender wirtschaftlicher Druck eine Rolle. Der Kurs der türkischen Lira war im Laufe des Tages abgesackt; laut der Nachrichtenagentur Bloomberg verstärkt Deutschland seine Bemühungen, bei europäischen Entwicklungbshilfe-Banken schärfere Bedingungen für Türkei-Geschäfte durchzusetzen.

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