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Das eingestürzte Stadtarchiv in Köln am 3. März 2009

© dpa/Oliver Berg

Einsturz des Stadtarchivs: Kölns offene Wunde

116 Tage soll verhandelt, 93 Zeugen sollen gehört werden – neun Jahre nach der Katastrophe hat in Köln der Prozess um den Einsturz des Stadtarchivs begonnen. Das Gericht muss sich beeilen.

Die Severinstraße in Kölns Südstadt ist wieder geschlossen, ist befahrbar, begehbar, sieht aus, als sei nie etwas geschehen. Wie es innen aussieht, geht keinen etwas an? Oh doch. Am Ende der Straße, da, wo sie in den Waidmarkt mündet, klafft noch diese verfluchte Lücke. Ein Krater, ein schreiendes Maul im Boden, ein Bild des Grauens, wenn auch jetzt zugestellt mit Baucontainern und Baugerüst. „Einsturzstelle“ steht auf einem Schild am Bauzaun, als ob die Wunde der Stadt inzwischen zu einer Touristenattraktion geworden wäre.

Am Mittwoch hat vor der 10. Großen Strafkammer des Landgerichts Köln die „Strafsache bezüglich des Stadtarchivs" begonnen, wie es etwas emotionslos im Informationsblatt der juristischen Öffentlichkeitsarbeiter heißt. Aktenzeichen: 110 KLs 9/17. Anberaumt hat Michael Greve, der Vorsitzende Richter, 116 Verhandlungstage, das wird also dauern. 93 Zeugen sind geladen und zehn Sachverständige. Die Zeit eilt: Bis zum 2. März 2019 muss ein Urteil gefällt werden. Am zehnten Jahrestag der Katastrophe endet die Möglichkeit der juristischen Aufarbeitung, und die Verjährung setzt ein.

Zwei junge Männer starben

In der Vergangenheit haben sich die Gutachter heftig beharkt, sie sind zu unterschiedlichen Bewertungen gekommen, warum damals das Stadtarchiv Kölns, sein Gedächtnis und auch Stolz, über den Bau einer U-Bahn-Trasse zusammenstürzte, zwei junge Männer in den Tod riss und ein bisschen auch die kölsche Seele. Gegen 14 Uhr an jenem 3. März 2009 hören Bauarbeiter knirschende Geräusche. Mit ziemlicher Geistesgegenwart warnen sie die Mitarbeiter des Archivs, die das Haus noch rechtzeitig verlassen können. Einen 17-Jährigen und einen 24-Jährigen, die in zwei angrenzenden Häusern wohnen, erreichen die Warnungen nicht mehr.

Am ersten Verhandlungstag tritt der Halbbruder des 17-Jährigen als Nebenkläger auf, dem Vater bricht in einer Verhandlungspause die Stimme, als er von seinem neun Jahre währenden Schmerz spricht. Aber auch davon, dass „nun endlich und hoffentlich die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden“.

Ebenso wenig retten können die Bauarbeiter 25 000 Urkunden, 50 000 Plakate, 104 000 historische Karten und Pläne, 500 000 Fotos und 30 Regalkilometer Akten – sowie 780 Nachlässe, darunter der von Heinrich Böll, Literaturnobelpreisträger und schriftstellerische Ikone Kölns. Insgesamt Papiere mit einem Versicherungswert von 400 Millionen Euro. Es war nur Glück im Unglück, dass nicht noch mehr Menschen zu Schaden kamen. Gut eine Woche zuvor hatte vor dem Platz des Gebäudes noch eine Tribüne gestanden, auf der hunderte närrische Kölner den Rosenmontagszug umschunkelten.

Taucher tasteten die Wand ab

Neun Jahre nach der Katastrophe ist die Nord-Süd-U-Bahn noch nicht vollendet. Der Streckenabschnitt zwischen den Haltestellen Severinstraße und Heumarkt ist nicht befahrbar. Dort befindet sich inzwischen das Besichtigungsbauwerk, das eigentlich Beweissicherungsbauwerk heißen müsste, eine Art Schacht, der es den Experten ermöglichen soll, die vermutete Schadensstelle an der U-Bahn-Baustelle in rund 30 Metern Tiefe in Augenschein zu nehmen. Und immer noch ist da die mit Wasser gefüllte Baugrube, die 2012, drei Jahre nach dem Unglück und etlichen gutachterlichen Streitigkeiten, gegraben wurde, um zu erkunden, was nun wirklich Ursache war für den fürchterlichen Einsturz. Was tief unten im Erdreich, unter Wasser die Ursache gewesen sein soll. Klarheit hat sie bis heute nicht gebracht.

Taucher haben jeden Zentimeter der in 27 Metern Tiefe unter Wasser stehenden Betonwand nach Löchern abgetastet, immerhin haben ihre Funde zur Anklageerhebung gereicht. Grundsätzlich, und das wird bereits am ersten Verhandlungstag deutlich, muss das Gericht die Frage klären, ob schon die Bauplanung fehlerhaft war oder bei der Bauausführung gepfuscht wurde.

Letzteres ist Anlass für die Prozessaufnahme. Aber ob auf der Anklagebank wirklich die Richtigen sitzen? Der damalige Oberbürgermeister Fritz Schramma hatte versucht, einen Baustopp zu erreichen, nannte es unverantwortlich, eine U-Bahn unter einem dicht bewohnten Gebiet zu graben. Unverständlich und unsinnig hatten viele Kölner den Bau ohnehin gefunden. Die vier Kilometer lange Strecke soll die Innenstadt mit den Villen der gehobenen Viertel Marienburg und Bayental verbinden.

Ist der Kölsche Klüngel Schuld?

2008 hatte der Frankfurter Stadtplaner Albert Speer Oberbürgermeister Schramma im Auftrag von 37 Kölner Unternehmen und der örtlichen Industrie- und Handelskammer 150 Seiten übergeben, ein „Regiebuch für die zukünftige Entwicklung Kölns“. Wohnen im Grüngürtel, Arbeiten in der Innenstadt, „so attraktiv wie am Central Park in New York“. War also die Katastrophe Ergebnis eines hybriden Stadtplaners und selbstverliebter Kölner Oberen?

Der Historiker Martin Stankowski spöttelte damals, „Köln leidet unter einem tiefen Inferiorgefühl. Köln ist Provinz, das ist nicht weiter schlimm, blöd ist es nur, es nicht zu wissen.“ Letztendlich geht es in dem Prozess auch darum, ob hier in Kölns quirliger und gentrifizierter Südstadt ein fehlerhaft geplantes Prestigeobjekt entstehen sollte. „Weil New York eine U-Bahn hat, Paris, London und Berlin auch, glaubt Köln, auch so eine Metro haben zu müssen“, sagte Stankowski.

Er ist nicht der Einzige, der der Meinung ist, dass nicht ein paar Bauarbeiter, sondern der bis zum Überdruss zitierte Kölsche Klüngel am Ende der Verantwortungskette steht, jene „zehn Prozent Nachbarschaftshilfe und 90 Prozent Korruption“, wie ihn der Satiriker Heinrich Pachl charakterisiert.

Ein Angeklagter ist bereits verstorben

Verhandelt wird über fünf am U-Bahn-Bau Beteiligte.
Verhandelt wird über fünf am U-Bahn-Bau Beteiligte.

© Oliver Berg/dpa

Erfahrungen mit der Rigorosität dieses Klüngels hat die Stadt zu Genüge. Da war der Skandal um die überdimensionierte Müllverbrennungsanlage, bei dem sich SPD-Politiker illegal die Parteikasse füllten. Beraterverträge, die die Stadt-Sparkasse für CDU-Politiker kostenlos auslobte. Unstimmigkeiten beim Bau der Messehallen und der Lanxess-Arena, mit welcher sich die private Oppenheim-Esch-Holding die Taschen voll machte. Da war der Kahlschlag der Sürther Aue, ein Naturschutzgebiet im Süden der Stadt, das ohne Notwendigkeit und gegen massiven Bürgerprotest für den Bau eines Container-Hafens abgeholzt wurde. Die Frage, ob die fünf Angeklagten nicht nur die kleinsten Räder im sandigen Getriebe sind, steht im Saal 210 des Justizgebäudes in der Luxemburger Straße immer mit im Raum.

Angeklagt sind Rolf K., inzwischen 65, der damalige Polier. Lars L., 49, der Bauleiter für den Spezialtiefbau während der Herstellung der Schlitzwände, die schließlich, laut einiger Gutachten, zum Einsturz geführt haben. Da ist Manfred A., 1961 geboren und damals zuständig für die örtliche Bauüberwachung am Unfallort Waidmarkt. Und seine Vorgesetzte, die 50-jährige Petra A.. Schließlich Joachim Manfred G., 55, Bauleiter Ingenieurbau während der Aushubarbeiten am Waidmarkt im Jahr 2007, wo schon lange vor dem Unglück Schäden hätten entdeckt werden können. Es hätte noch zwei weitere Angeklagte gegeben, aber der eine ist inzwischen verstorben, der andere mit einer lebensgefährlichen Herzerkrankung nicht prozessfähig.

Der Oberstaatsanwalt Torsten Elschenbroich ist so etwas wie ein Staroberstaatsanwalt, nachdem er im Oppenheim-Prozess vor vier Jahren den Pleitier Thomas Middelhoff letztendlich erfolgreich angeschnauzt hat: „Was Sie hier machen, lässt jeden Respekt gegenüber dem Gericht vermissen!“

Ein Gesteinsblock lag im Weg

Mehr als 60 Minuten lang verliest Elschenbroich seine Anklageschrift. Ungemein detailliert, sehr kenntnisreich, als habe er nie etwas anderes gemacht als Tiefbau. Es geht um beschädigte Lamellenbleche – laienhaft ausgedrückt: Stützwände –, die schon 2005 entdeckt worden waren. Bauarbeiter hatten vergeblich versucht, sie zu entfernen, die Zähne zweier schwerer Baggerschaufeln brachen. Also bauten die Arbeiter unter Zeitdruck weiter. Ähnliches soll sich als Folge davon drei Tage später bei einem Gesteinsblock ereignet haben.

Laut einiger Gutachten und Staatsanwalt Elschenbroich waren es diese Hindernisse, die das Leck in der Betonwand verursachten, durch welches dann das Erdreich unter dem Archivgebäude, 5000 Kubikmeter Erde, Kies und Wasser geflossen sind, was dem Archiv den Boden wegzog. „Mit Ihrer Erfahrung und Ihrem Wissen hätten Sie die Fehler erkennen und tätig werden müssen“, wirft Elschenbroich den Beschuldigten vor. Die Anklage lautet auf Baugefährdung und fahrlässige Tötung in zwei Fällen. So klar, so stimmig, kann man leicht zur Ansicht gelangen: Ja, da sitzen die Verantwortlichen vor Gericht.

War schon die Planung fehlerhaft?

Aber das ist ja nur eine Version. Die der beteiligten Baufirmen, Bilfinger-Berger, Züblin und Wayss & Freytag, die damals die Arbeiten an diesem Abschnitt durchführten, weisen den Vorwurf des Pfuschs am Bau von sich und erklären, dass sich das Grundwasser unter den Stützwänden hindurchgedrückt habe. Womit die Bauunternehmen und die Kölner Verkehrsbetriebe als Auftraggeber nicht die Hauptschuld träfe, sondern der grundlegende Fehler in der Planung lag. Spannend wird es bei der Frage, warum die Firmen, offensichtlich in Kenntnis der Gefahr, einen solchen Auftrag annahmen.

Rechtsanwalt Peter Krieger eröffnet am Mittwoch noch einen weiteren Schauplatz, als er erklärt, dass die Bauunternehmen Erkenntnisse vertuscht und Sachlagen gar manipuliert hätten.

Ein schwacher Trost: 95 Prozent des damals verschütteten Materials konnten geborgen werden, werden mit Hilfe etlicher hinzugezogener Archivare aus dem ganzen Land aufwendig restauriert. Im vergangenen März wurde der Grundstein für das neue Stadtarchiv gelegt. Wenn es 2020 fertig ist, soll in dem dreistöckigen Gebäude laut Oberbürgermeisterin Henriette Reker das modernste kommunale Archiv Europas untergebracht sein.

Die Kosten, Stand heute: 80,5 Millionen Euro, Bauherr ist die städtische Gebäudewirtschaft. Das neue Gedächtnis der Stadt Köln wird am Eifelwall/Ecke Luxemburger Straße stehen. In unmittelbarer Nähe des Gebäudes, in dem seit Mittwoch die Katastrophe verhandelt wird.

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