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Ein Jahr nach den Übergriffen feiert Köln das neue Jahr in einer Sicherheitszone.

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Ein Jahr nach den sexuellen Übergriffen: Wie Köln sich die Silvesternacht zurückeroberte

Polizisten und Zäune auf der einen Seite des Doms, Seifenblasen, Lichter und ein Chor auf der anderen: Nichts soll in Köln an das Trauma der Silvesternacht erinnern.Doch Carmen S. kann es nie vergessen.

Noch 20 Minuten bis Mitternacht. Ahmed Moussa steht vor dem Hauptbahnhof nördlich des Kölner Doms und friert. Vor und hinter ihm 30 weitere junge Männer, rechts und links Zäune, die wie ein Trichter aufeinander zulaufen. Polizisten checken jeden einzelnen. Ausweis, Papiere, Abtasten. Ahmed Moussa wundert sich, warum er hier stehen muss. Was die Männer eint, nennt die Polizei in einer Mitteilung später „augenscheinlich nordafrikanische Herkunft“. Moussa stammt aus dem Irak. Statt auf der Domplatte Silvester zu feiern, möchte er jetzt lieber wieder nach Hause.

Noch 15 Minuten bis Mitternacht. Südlich des Doms lächelt Konstantin Krell glücklich. Er ist Kontrabassist des Gürzenich Orchesters und hat erst vor drei Tagen einen Chor zusammengestellt. 150 Menschen aus Köln singen gemeinsam auf der Domplatte am Roncalliplatz. Pinke und blaue Lichter erhellen die Bühne, alle tanzen und singen: „I will love forever“. Unbedingt wollte Konstantin Krell etwas an diesem Abend beitragen, sagt er. Er möchte das Gespenst vertreiben.

Es war der Anfang vom Ende der Willkommenskultur

Ein Gespenst, das sich genau hier, genau vor einem Jahr in den Köpfen festgesetzt hat und seitdem versucht, das Land zu teilen, in Menschen wie Ahmed Moussa und Menschen wie Konstantin Krell: Misstrauen.

Die Silvesternacht von Köln im vergangenen Jahr war eine Zäsur. Rund um den Kölner Hauptbahnhof wurden hunderte Frauen drangsaliert, ausgeraubt und sexuell belästigt. Auch von Vergewaltigungen war später die Rede. 1200 Anzeigen gab es, davon etwa 500 wegen Sexualdelikten. Viele der Täter stammten aus dem Maghreb, einige waren als Flüchtlinge gekommen. Die Polizei bekam das Chaos nicht in den Griff. Und so wurde für viele der Kontrollverlust in Köln zum Symbol für den Kontrollverlust des ganzen Staates, zum Anfang vom Ende der Willkommenskultur und der Flüchtlingspolitik unter Angela Merkel.

Zwei Welten. Südlich des Doms feiern die Menschen ausgelassen, nördlich kontrolliert die Polizei vor allem Leute, die „nicht deutsch“ aussehen.
Zwei Welten. Südlich des Doms feiern die Menschen ausgelassen, nördlich kontrolliert die Polizei vor allem Leute, die „nicht deutsch“ aussehen.

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Ein Jahr später blickt das Land deshalb wieder nach Köln. Dort, wo die Polizei in jener Nacht weggesehen und später bilanziert hatte, es habe „keine besonderen Vorkommnisse gegeben“, wird nun jeder Schritt, jeder Ton live übertragen. Die Polizei hat Kamerateams auf der Tribüne und den Hausdächern rund um den Dom postiert. Sobald drei junge Männer, die nicht „deutsch“ aussehen, zusammenstehen, werden sie umringt von Polizisten und beobachtet von Reportern. Wieder gehen Bilder um die Welt, wie vor einem Jahr, als vier Tage nach Silvester allmählich deutlich wurde, was sich da abgespielt hatte. Bilder von der Domplatte, dem Bahnhofsvorplatz, von den Hundertschaften, von Polizeihubschraubern, Bilder der Oberbürgermeisterin, des Erzbischofs, Bilder von Seifenblasen und dem fröhlichen Chor. Nur fast keine Bilder von jungen Frauen.

Carmen S. will nie wieder zum Hauptbahnhof. Sie meidet ihn, wann immer es geht. Kürzlich hat sie deswegen die teuren Tickets für eine Karnevalssitzung verfallen lassen. Von der Silvesternacht ist ihr kein Frohsinn geblieben, nur schreckliche Erinnerungen: Carmen S., 40 Jahre alt, war gemeinsam mit fünf Freunden nach einer Silvesterparty um 1.30 Uhr am Hauptbahnhof angekommen, sie wollten eigentlich nur umsteigen. Sie mussten allerdings durch den ganzen Bahnhof, um zu ihrem Gleis zu kommen, wollten unterwegs zur Toilette und in den Supermarkt. Sie hatten dreißig Minuten, bis ihre U-Bahn fuhr.

Im Bahnhof herrscht Chaos, die Polizei fehlt

Dreißig Minuten, in denen sie an jungen Männern, die nebeneinander auf dem Gelände der Treppe saßen, vorbeigingen und am Hintern begrapscht wurden. Wie die Hühner auf der Stange hätten die da gesessen, sie hätten ausgesehen, als wüssten sie nicht, wo sie hingehen wollen, Deutsch hätten sie nicht gesprochen. Dreißig Minuten, in denen sie sich durch die Fußgängerunterführung kämpften, mitansahen, wie der Klomann zur Seite gedrängt wurde, junge Männer gröhlend die Toilette beschädigten. Dreißig Minuten, in denen sie im Supermarkt mit ansahen, wie Dosen aus den Regalen geöffnet und getrunken, aber nicht bezahlt wurden. Dreißig Minuten, in denen es ihnen vorkam, als würden all diese Männer testen, wie weit sie gehen dürften. Dreißig Minuten, in denen sie die Polizei vermissten.

Am 31.12.2015 kommt es in Köln zu Ausschreitungen und massenhaftem Missbrauch.
Am 31.12.2015 kommt es in Köln zu Ausschreitungen und massenhaftem Missbrauch.

© picture alliance / dpa

Zwei Stunden vor Mitternacht. 1500 Polizisten sind im Einsatz, erkennbar an gelben Jacken oder Neonwesten. 300 Bundespolizisten bewachen den Hauptbahnhof, 350 Kräfte des Ordnungsamtes und 250 Ordner privater Sicherheitsdienste unterstützen die Polizei. Mehrere hundert Meter Zaun mit wenigen Einlassschleusen umschließen den Dom. 15 Polizeibusse stehen am Bahnhofsvorplatz. Wer den Hauptbahnhof verlässt, wer die Schleusen passieren will, wird kontrolliert. Jeder muss seine Tasche, seinen Rucksack öffnen.

Immer mehr Männer mit dunklen Haaren sammeln sich am Ausgang des Hauptbahnhofes. Sie dürfen weder durch den rechten noch durch den linken Ausgang das Gebäude verlassen. Nur durch den mittleren, wo sie von Polizisten erwartet und eingekesselt werden.150 Männer stehen frierend auf dem Bahnhofsvorplatz, treten von einem Fuß auf den anderen. Wessen Papiere nach Meinung der Landespolizei in Ordnung sind, darf weitergehen, die anderen werden in Polizeibusse gebracht. Am Ende der Nacht wird es sechs Festnahmen gegeben haben und 190 Platzverweise. Bei 650 Menschen hat die Polizei die Identität überprüft, 92 Personen nahm sie in Gewahrsam. Zwei sexuelle Übergriffe wurden angezeigt.

Acht Kameras filmen die Domplatte

Günter Rohland versucht, alles im Blick zu behalten. Er betrachtet den Bahnhofsvorplatz und die Treppe zum Dom auf vier Bildschirmen. Zusammen mit einem anderen Kollegen sitzt er in Kalk auf der anderen Rheinseite. Acht Kameras, die im 180-Grad-Winkel aufzeichnen, hat die Polizei installiert. Rohland kann so einzelne Leute oder Gruppen beobachten. Gehen zwei Männer hinter einer Frau her oder versammeln sich mehrere Leute, meldet er das den Polizisten vor Ort.

Eine Stunde vor Mitternacht. Zabi Mullah darf vom Hauptbahnhof aus weitergehen. Der Afghane bewegt sich mit seinen Freunden auf ein Transparent zu und liest ihnen vor: „No to sexism and racism. Freedom to Afghanistan.“ Acht Mitglieder des Kölner Netzwerks „Kein Mensch ist illegal“ halten das Transparent. Eine der Aktivistinnen lässt los und geht zu Zabi. Ob er mehr wissen wolle?

Die Polizei überprüft 650 Personen, spricht 92 Platzverweise aus.
Die Polizei überprüft 650 Personen, spricht 92 Platzverweise aus.

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Zabi möchte gerade antworten, da kommen vier Polizisten. „Hier darf man sich nicht aufhalten“, sagen sie. Platzverweis. „Was muss er denn machen?“ fragt die Aktivistin. „Einfach nicht hier stehen. Gehen.“ Also gehen sie zusammen und reden dabei weiter. „Das ist Köln!“, sagt Zabi Mullah begeistert auf Englisch, als er den Dom sieht. Deshalb seien sie hier: „Nur um Spaß zu haben“. Was im letzten Jahr losgewesen sei, wüssten sie gar nicht, sagt einer der Afghanen.

Das könnte ihnen Carmen S. erzählen. Von dieser Menge an jungen Männern, die kein Ziel zu haben schienen in jener Nacht, die – so glaubt sie – nur da sein wollten, um Randale zu machen. Das könnte ihnen auch Kardinal Rainer Maria Woelki, der Erzbischof von Köln, erzählen. Als er am Ende des Gottesdienstes sagt, „Köln steht dafür, dass hier jeder leben kann“, erinnert er sich an das Feuerwerk, das vor einem Jahr zu dieser Uhrzeit gegen den Dom geschossen wurde. Heute bedecken den Dom stattdessen projizierte bunte Wörter aus Licht.

Wie ein Meer aus lieben Worten

Es ist eine Installation von Philipp Geist, einem Künstler aus Berlin. Buchstaben in allen Farben bedecken den Boden, die Fassaden, die Menschen, die dadurch ein wenig so wirken, als hätten sie alle die gleiche Kleidung an. Der Boden wirkt wie ein Meer aus lieben Worten.

Günter Wieneke hat sich das so gewünscht. Er ist Leiter der Stabstelle Veranstaltungen der Stadt Köln. Nach dem Chaos im vergangenen Jahr war klar, dass diesmal nichts schiefgehen durfte. Aber er wollte nicht, dass die Domplatte zwar sicher, aber menschenleer sein würde.

Also hat er die Lichtinstallation und die Auftritte der beiden Chöre, „Grenzenlos“ und „Gospel Cologne“ ins Programm genommen. Künstler Philipp Geist hat überall Kreide ausgelegt, viele benutzen sie, schreiben: „Sehnsucht“, „Solidarität“, „Menschenrechte“, „ Kölle“, „Gemütlichkeit“, „Sorge“. Günter Wieneke hat das Wort „Birlikte“ projizieren lassen. Das ist türkisch und bedeutet „zusammen“ oder „aneinander“. Eine Frau stellt sich auf der Domplatte so hin, dass möglichst viele Wörter auf ihr zu sehen sind und lässt sich von ihrem Mann fotografieren. Einige Kinder greifen zur Kreide und malen. Aus Lautsprechern rauscht sanfte Musik. Hier, am Roncalliplatz,Es ist der Platz des friedlichen, kunstvollen Beisammenseins. Der Platz von Kardinal Woelki, Polizeipräsident Jürgen Mathies, von Oberbürgermeisterin Henriette Reeker. Ein Ort, an dem das Gespenst der vergangenen Silvesternacht vertrieben scheint. Nur einige Meter weiter am Bahnhofsvorplatz ist es noch zu spüren.

Silvester 2016 in Köln: der Lichtkünstler Philipp Geist schuf auf der Domplatte vor dem Kölner Dom eine Lichtinstallation mit 1000 auf die Platten projizierten bunten Worten.
Silvester 2016 in Köln: der Lichtkünstler Philipp Geist schuf auf der Domplatte vor dem Kölner Dom eine Lichtinstallation mit 1000 auf die Platten projizierten bunten Worten.

© imago/Ralph Peters

Eine Dreiviertelstunde vor Mitternacht: Über dem Breslauer Platz fliegt dröhnend ein Hubschrauber. Die ersten Böller sind zu hören. Azz-Eddine El Montaser steht vor der Polizeikontrolle und muss warten. Schon eine ganze Weil. Eigentlich wollte mit einem Freund in das Fastfood-Restaurant in der Nähe gehen. Darf er aber nicht. El Montaser ist Marokkaner und studiert Informatik im vierten Semester an der Uni Dortmund.

Er sei zur falschen Zeit am falschen Ort, sagt ihm ein Polizist.

So wie Carmen S. damals. Sie hat sich dieses Jahr einen anderen Ort für ihre Party ausgesucht. Sie muss nur die Treppe hinuntergehen zur Nachbarin. Es ist eine ruhige Feier, berichtet sie am Telefon. Sie habe den anderen Gästen erzählt, wie es war in jener Nacht, und dass sie seitdem nie mehr ohne Pfefferspray das Haus verlassen habe. Wie sie am Neujahrstag ihre Facebook-Timeline anstarrte und da erst das ganze Ausmaß der Geschehnisse erahnte.

Sie können fast selbst nicht glauben, was sie da tun

Zur gleichen Zeit singt auf dem Roncalliplatz der Chor, im Publikum tanzen drei junge Männer aus Afghanistan ausgelassen mit und lachen einander dabei so an, als könnten sie nicht glauben, was sie da gerade machen.

Mitternacht. Der Chor verstummt. Die Glocke des Doms ertönt. Das Feuerwerk beginnt und die Menschen jubeln, als hätte Köln endlich einen Sieg errungen.

500 Meter entfernt steht um 1 Uhr ein grauer Transporter einsam auf dem Alter Markt. Ein paar Frauen sitzen darin, eine draußen. „Beratungsmobil – Anlaufstelle für Frauen und Mädchen“ steht auf einem Schild. Keine einzige Frau, kein Mädchen hat sich in dieser Nacht dort gemeldet.

Olga Havenetidis

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