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Die zu säubernden Bücher nennt Yong-Mi Rauch das "Herz des Altbestandes".

© Kitty Kleist-Heinrich

Berliner Hochschulen: Die Humboldt-Universität putzt ihren Bücherschatz

Yong-Mi Rauch ist die Herrin der Bücher. Und des Staubs. In der Universitätsbibliothek lässt sie jetzt den Altbestand reinigen.

Fast sechs Kilometer! Das ist die Distanz. Fast 6000 laufende Meter alter Bücher lässt die Berliner Humboldt-Universität gerade abstauben. So weit ist es vom Alexanderplatz bis zum Bahnhof Zoo, Luftlinie. Ein mäßiger Läufer braucht eine halbe Stunde für die Strecke, ein Wanderer neunzig Minuten. Kostenpunkt: 40000 Euro.

40000 Euro, einfach in den Wind geblasen, nein, in den Staubbeutel, dieses symbolische Behältnis überzähliger Materie. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Jeder Besitzer einer etwas größeren Privatbibliothek am Rande des Nervenzusammenbruchs weiß, was Staub ist: der Fluch des aufgestellten analogen Wissens schlechthin. Und gibt es etwas Traurigeres, Vorwurfsvolleres als Bücher, die niemand mehr aufschlägt und denen sich unter den Lebenden nur noch die Gemeine Bücherlaus nähert, Liposcelis simulans? Gewiss. Das müssen Bücher sein, die nach Kilometern erfasst werden.

Die Herrin des Staubs heißt Yong-Mi Rauch und ist die Leiterin der Historischen Sammlungen der Universitätsbibliothek. In unserem kulturellen Gedächtnis stehen Archivare meist auf unsicheren Holzleitern, suchen nach dickleibigen Bänden, die nur sie finden können, sind meist alt und können tendenziell zaubern wie der Archivarius Lindhorst bei E. T. A. Hoffmann. Hoffmann wohnte hier gleich um die Ecke am Gendarmenmarkt.

Es gibt drei Gruppen von Staubläusen

Die Leiterin der Historischen Sammlungen sieht kein bisschen aus wie E. T. A. Hoffmanns Archivarius Lindhorst, sie tritt auch nicht im Schlafrock auf, sondern im Kostüm, so dezent, wie es einer eher dienenden Tätigkeit angemessen ist, und dabei doch so betont, wie es ihrer tatsächlichen Macht entspricht. Fast eine Million Bücher unterstehen ihr, wenn auch nicht allein. Die sechs zu säubernden Kilometer nennt sie „das Herz des Altbestands“.

Es war bestimmt nicht falsch, zur Vorbereitung Einblick in die beiden Standardwerke „Staub: eine interdisziplinäre Perspektive“ sowie „Das Handbuch der Oberflächenreinigung“ genommen zu haben. Es ist aber schwer, sich alles zu merken. Es gibt drei Gruppen von Staubläusen, die Trogiomorpha, die Troctomorpha und die Psocomorpha.

Die Trogiomorpha besitzen Antennen mit 22 bis 50 Gliedern und verdickte Hinterschenkel. Zu dieser Gruppe gehört die „Totenuhr“, Trogium pulsatorium, so benannt aufgrund ihres typischen Klopfens in morschem Holz. Wichtiger in unserem Zusammenhang sind aber die Troctomorpha, die haben zwar nur Antennen von 15 bis 17 Gliedern, aber in diese Gruppe gehört die Bücherlaus, Liposcelis simulans. Doch nur die Arten der dritten Gruppe gelten als Echte Staubläuse, obwohl sie die allerkürzesten Antennen haben. So ist das immer.

Im Keller dieser Lichtwelt vergessen

Die bewundernden Blicke, ihr Haus betreffend, kennt die Leiterin der Historischen Sammlungen schon. Schönheit ist möglich! Es gibt Menschen, die das jedes Mal denken, wenn sie mit der S-Bahn am Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum vorbeifahren, zwischen Hackeschem Markt und Friedrichstraße.

Entworfen vom Schweizer Architekten Max Dudler, war die neue Universitätsbibliothek 2009 fertig. Und von innen hält sie alles, was sie von außen verspricht. Da sind Leseterrassen in verschiedener Höhe, alle geöffnet zum Himmel über Berlin. Seltsam zu denken, dass im Keller dieser Lichtwelt kilometerweise vergessene, melancholische Bücher die Last des Staubes von Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten tragen.

Yong-Mi Rauch unterbricht diese Meditation mit der kühlen Bemerkung, dass – Schönheit hin, Schönheit her – das Haus nicht sehr praktisch sei. Ihr Tonfall macht deutlich, dass sie jetzt nicht gesonnen ist, das zu erläutern. Seltsamerweise fährt der Lift nicht abwärts zu den sechs Kilometern, sondern nach oben. Die Erläuterungen, sagt Yong-Mi Rauch sinngemäß, gebe sie lieber über Tage.

Es ist ein wenig wie in der Mythologie: Sisyphosarbeit ist eine typische Unterweltsbeschäftigung. Und ohne Vorbereitung betrete kein Sterblicher den Orkus! Auch scheint es sich bei den dort Tätigen, delegiert von der Firma Gegenbauer, wahrhaft um Zwischenwesen zu handeln, denn man darf nicht mit ihnen sprechen, das hatte die Leiterin der Historischen Sammlungen schon zuvor am Telefon erklärt. Aristoteles hatte die Sklaven noch als „sprechende Werkzeuge“ definiert. Bleibt also nur noch das Werkzeug? Selbst Sisyphos durfte Interviews geben, beim Steineraufrollen in der Unterwelt.

Die Studenten würden die Berliner stören

Das wolle sie nicht kommentieren, antwortet die Bibliothekarin und schlägt vor, zunächst die Vorgeschichte zu betrachten. Denn natürlich hat das Sechs-Kilometer-Staubwischen eine Vorgeschichte, und zwar eine bald zweihundertjährige.

Die Idee, eine Universität in einer so großen Stadt wie Berlin zu gründen, fand 1809 niemand gut. Berlin besaß damals 151119 Einwohner, die Studenten würden die Berliner stören und die Berliner die Studenten. Da Napoleon dem Königreich Preußen die meisten seiner Provinzen weggenommen hatte, seine vorbildlichste Universität Halle plötzlich im Ausland lag, Königsberg zu weit weg war und Frankfurt an der Oder schon damals nicht recht zählte, hatte es aber keine andere Wahl. Die Königliche Bibliothek, auch „unsere Bibliothek“ genannt, würde nun auch für die Universität da sein müssen.

Aber was heißt „unsere Bibliothek“? Geöffnet hatte ihr Lesezimmer an drei Tagen in der Woche, vormittags von 10 bis 12 Uhr und nachmittags von 2 bis 4 Uhr. Also ausleihen? Nur Prinzen, Geheime Staatsminister und königliche Generale durften Bücher mit nach Hause nehmen.

Der natürliche Feind des Buches

Die königlichen Bibliothekare und die Studenten verband bald ein Verhältnis aufrichtigen gegenseitigen Argwohns. An dieser Stelle brechen Yong-Mi Rauch und ihre Assistentin Julia Maczejewski in ein anspielungsreiches Insiderlachen aus, das den Verdacht befördert, beim Studenten handele es sich um den natürlichen Feind des Buches. Die Leiterin der Historischen Sammlungen ruft sofort ihre Gesichtszüge zur Ordnung und erklärt, dass es sich ohne Zweifel um eine eigene soziale Schicht handele mit hoher Fluktuation. Studenten, tendenziell nomadische Wesen, sich untereinander Bücher weiterreichend, zudem zu sehr subjektiven Auffassungen neigend, etwa Leihfristen betreffend.

So traf Anfang Juli „Die Geschichte der Hofnarren“ von Karl Friedrich Flögel wieder in der Universitätsbibliothek ein. Yong-Mi Rauch hat sich sehr darüber gefreut, nicht nur, weil es sich um ein sehr altes, wertvolles Buch handelte, das bereits 1789 erschienen war. „Die Geschichte der Hofnarren“ stammt zudem aus dem Besitz von Jacob und Wilhelm Grimm, versehen mit ihren Anstreichungen und Kommentaren. Die persönliche Bibliothek der gelehrten Sprachforscher und Märchensammler ist das symbolische Herz der Universitätsbibliothek.

„Ich bitte um Vergebung“

Was bei der Rückgabe der „Geschichte der Hofnarren“ besonders auffiel, war das Datum der Ausleihe: November 1968. Der Benutzer hat die Leihfrist demnach um knapp 50 Jahre überschritten. Er schickte den Band vorsichtshalber ohne Absender, fügte ihm aber ein Begleitschreiben bei, dem die Leiterin der Historischen Sammlungen entnehmen konnte, was „Die Geschichte der Hofnarren“ in den letzten 50 Jahren erlebt hatte, darunter 13 Umzüge. Sein letzter Satz lautete: „Ich gebe es hiermit zurück und bitte um Vergebung.“ Das rührte das Herz der Leiterin der Historischen Sammlungen.

Und doch geht die größte Gefahr für eine Bibliothek nicht zwangsläufig von ihren Nutzern aus, sondern nicht selten von den Bibliothekaren selbst. Auf Empfehlung Voltaires hatte Friedrich der Große die königliche Bibliothek dem Franzosen Jacques Milvaux anvertraut. Dienern fiel auf, dass der arrogante Bibliothekar fast wöchentlich schwere Pakete nach Paris schickte, worauf der Potsdamer Oberpostmeister eine Sendung öffnen ließ und wertvolle Handschriften darin fand. Der Bibliothekar wurde in Unehren entlassen, der französische König schickte das Raubgut – eine Wagenladung voller Bücher – an Friedrich zurück.

Bücher in der Obhut eines Kalibergwerks

Das machen aber nicht alle so. Im vergangenen Jahr wollte ein Münchner Auktionshaus Grimmelshausens „Simplicius Simplicissimus“ von 1685 und Johann Christoph Ettners „Die unvorsichtige Hebamme“ von 1715 versteigern. Beide Bücher trugen den Stempel ihres rechtmäßigen Eigentümers: „Ex Biblioth. Universalitatis Frider. Guil. Berlin.“, Universitätsbibliothek Berlin also. Uns doch egal, sagte sinngemäß das Auktionshaus: Nach über 70 Jahren außerhäusigem Aufenthalt der beiden sei der Rechtsanspruch verjährt. 1943 waren wertvolle Bücher der Universitätsbibliothek vor den Bomben auf Berlin weitläufig versteckt worden, Tausende davon fand sie niemals wieder.

Das Hauptwerk der deutschen Barockliteratur und den medizinischen Lehrroman aus der Privatsammlung der Brüder Grimm übergab man der Obhut eines Kalibergwerks in Sachsen-Anhalt. Bücherfreunde müssen dieses ungewöhnliche, preiswerte Antiquariat bald entdeckt haben, denn in das Auktionshaus gelangten die Bände nach einer Haushaltsauflösung. Das Auktionshaus zeigte schließlich monetär untermauerte Einsicht.

Das Dach war nicht ganz dicht

Aber was nützen all diese Rückkehrer, solange viele ihrer betagten Mitbücher selbst in Bibliotheken nicht sicher sind? Vielleicht hätte es dieses Sechs-Kilometer-Staubwischen nie gegeben ohne die Skandalmeldung von 2014: Fast in Sichtweite des Grimm-Zentrums schimmelte das Römische Recht, aber nicht nur das, sondern die Rechtsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, bis zu 50000 Bände, ebenfalls zur Universitätsbibliothek gehörig. Das Dach darüber war nicht ganz dicht. Vorschläge wurden laut, die gesundheitsgefährdenden Bücher umgehend zu vernichten, denn um sie zu retten, fehlte das Geld, worauf sich ein professoraler Widerstand formierte für den Fortbestand der schimmelnden Rechtsgeschichte.

Und plötzlich versteht man Yong-Mi Rauchs Reserve. Es ist nicht einfach der Hochmut der Oberbibliothekarin, die einem strukturellen Laien des Bibliothekswesens gegenübersteht. Das Sechs-Kilometer-Staubwischen ist alles andere als komisch, und es wäre unfinanzierbar gewesen ohne das Sonderprogramm der Kulturstaatsministerin zur Rettung des schriftlichen Kulturerbes 2017, das die Hälfte der Kosten trägt.

Sie hat ein Neonauge für Schimmel

Die Universitätsbibliothek war seit ihrer Gründung 1830 zur Schonung der Königlichen Bücherei eine benachteiligte, strukturell unterfinanzierte Gebrauchsbibliothek, erklärt Yong-Mi Rauch und findet dafür die ebenso schicksalsergebenen wie schicksalsrenitenten Worte: „Die Material- und Mittelknappheit gehört zu uns, immer schon, gewissermaßen.“ Die Vorarbeiten haben sie und ihre acht Mitarbeiter geleistet, gemeinsam mit allen Kollegen aus dem ganzen Haus, die zu drei großen Arbeitseinsätzen verpflichtet wurden. Sie nahmen die Parade der Bücher ab und haben Verdächtige sofort „gezogen“, sagt die Bibliotheksassistentin Julia Maczejewski. „Ziehen“ steht bibliothekssondersprachlich für „entnehmen“.

Es gibt zwei Hauptdiagnosen für diese Maßnahme: Auseinanderfallen und schimmeln. Die Auseinanderfallenden werden mit einem Gewebestreifen aus reiner Baumwolle gesichert, dessen beide Enden wie bei einem Bügelbrettbezug durch eine Öse gezogen werden. Zurück im Regal hängen an ihrem Rücken fortan zwei Bänder, fast wie eine Schleife, das sieht sehr schön und festlich aus. Wer die Diagnose „Schimmel“ erhält, den trifft es schwerer.

Julia Maczejewski steht kurz vor dem totalen Kellerverbot, denn sie hat ein Neonauge für Schimmel und „zieht“ die meisten Bücher. Die kommen dann auf den Dekontaminierungswagen – gegen Buchschimmel hilft Aufbacken oder Einfrieren – , aber wenn die halbe Bibliothek auf diesem Wagen postiert würde, gäbe es fast nichts mehr zum Abstauben. Natürlich hätten Yong-Mi Rauch und ihre acht Mitarbeiter das auch allein machen können, doch hätte man sie dann wohl vor Ende ihres Berufslebens nicht mehr an der Erdoberfläche gesehen.

In der ersten Woche schafften sie 350 Meter

Dies ist der Augenblick, die Unterwelt der vielleicht schönsten modernen Bibliothek Deutschlands zu betreten. Sechs große Magazine hat das Haus, dazu fünfzehn kleinere. Dicht an dicht stehen auf Schienen rollbare deckenhohe Metallregale. Wo zwischen ihnen ein kleiner Spalt bleibt, deutet das auf die Anwesenheit der Unansprechbaren dazwischen, der Mitarbeiter des großen Dienstleistungsunternehmens Gegenbauer.

Die beiden Standardwerke „Staub: eine interdisziplinäre Perspektive“ und „Das Handbuch der Oberflächenreinigung“ kennen sie bestimmt nicht, dafür kennen sie die Alternative: Entweder man studiert oder man arbeitet. So ist das. Zu zweit stehen sie jeweils zwischen den endlosen Reihen der Regale. In der ersten Woche schafften sie 350 Meter. Sisyphos kann auch nicht zuversichtlicher ausgesehen haben.

Klagen durfte auch Hermann Hesse. Hesse entstaubte seine mehrere tausend Bände umfassende Bibliothek grundsätzlich selbst. Er konstatierte eine vieletagelange „große, mühsame Arbeit“, mit einem leeren Kopf und „zerbrochenen Rücken“ als Folge. Doch wie genau ging der gelernte Buchhändler, Antiquar und Erfolgsautor vor? Er trug einen Arm voller Bücher hinaus auf die Terrasse, „sie sorgfältig auf der steinernen Brüstung aufstapelnd und dann die Bücher zu dreien oder vieren ausklopfend“, „zärtlich gegeneinander“. Dann sah er dem davon wehenden Staub hinterher. Um Himmels willen! Klopfen. Wehender Staub. Fassungslosigkeit breitet sich aus im Gesicht der Leiterin der Historischen Sammlungen: Niemals klopfen! Niemals wischen!

Es gibt keinen Staub, es gibt nur „die Stäube“

Die behandschuhten Finger der Gegenbauer-Verstummten greifen eine Ordnung Bücher von „Die Welt im Querschnitt des Verkehrs“ bis zu „The Law of Merchant Shipping“. Insbesondere der Band „Germanischer Lloyd. Total verlorene oder als beschädigt gemeldete Seeschiffe 1927–1938“ sollte doch auf vermehrtes Interesse stoßen, doch unmöglich: Wenn es ein Motiv gibt, aus dem Gegenbauers schweigende Minderheit ein Buch keinesfalls zur Hand nehmen darf, dann ist es, um darin zu lesen.

Die maritimen Schicksalsbände werden auf einen Metallwagen gestellt, worauf sich ihnen die Düse eines Spezialstaubsaugers nähert, nicht „zärtlich“ wie bei Hesse, wohl aber sanft und rücksichtsvoll. Dann wischt Gegenbauers Brigade Vor- und Rückseite jedes Buches mit einem maximal staubbindenden Mikrofasertuch ab. Die Staubbeauftragten tragen die Honeywell-Atemschutzmasken FFP2, hauptsächlich zum Schutz vor dem Gemeinen Gießkannenschimmel Aspergillus und seinen 350 Unterarten. Es gibt keinen Staub, es gibt nur „die Stäube“, lernen wir in „Der Staub: eine interdisziplinäre Perspektive“. Wo aber die Stäube enden und die Schimmel beginnen, das ist dem ungeübten Auge nicht ohne Weiteres erkennbar. Julia Maczejewski schon, sie „zieht“ wieder ein kontaminiertes Exemplar.

Die Gemeine Bücherlaus, Liposcelis simulans, wurde im Magazin der Universitätsbibliothek noch nicht beobachtet, dabei frisst sie alle 350 Unterarten des Aspergillus.

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