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Im Traditionsreich. Menschen, die „Ich hasse Juden“ rufen, sollte man nicht gleich Judenhass unterstellen, sagt eine BDS-Anhängerin. Ihnen fehle vielleicht nur das richtige Vokabular für Kritik an israelischer Politik.

© Imago/Christian Ditsch

Anti-Israel-Kampagne: Wie BDS gegen Israel hetzt

Sie rufen zum Totalboykott gegen Israel auf. Setzen Künstler und Firmen unter Druck. Auch in Berlin geben sich BDS-Aktivisten friedlich – und brüllen Holocaust-Überlebende nieder.

Die meisten ziehen wortlos an Sophia Deeg vorüber, manche schimpfen. Kaum ein Konzertbesucher nimmt ihr ein Flugblatt ab. Der Einzige, der ihre Nähe sucht, ist Alfons. So heißt ihr Dackel. „Die Leute gucken, als wäre ich ein Nazi“, sagt Sophia Deeg. Bei der gleichen Aktion neulich in Paris hätten die Menschen viel offener reagiert. Dann steht plötzlich Ben Becker vor ihr. Der Schauspieler. Er trägt Schottenrock, reckt die Faust in den Abendhimmel und ruft: „Free Palestine!“. Becker versichert, er sei auf ihrer Seite. Erinnerungsfotos werden gemacht.

Seit einer Stunde protestieren sie vor der Max-Schmeling-Halle. Doris, Anja, Achmed, Eva, Sophia und ein paar andere. Mit Palästina-Flaggen und -Schals, Flugblattstapeln in den Händen. Nachher soll hier Nick Cave auftreten. Gegen den Sänger haben sie nichts. Gegen sein Konzert in Berlin ebenfalls nichts. Nur die zwei Konzerte, die Cave Mitte November in Tel Aviv geben will, die müsse er unbedingt absagen. Weil gar kein Künstler mehr nach Israel solle. Auch kein Wissenschaftler. Auch kein Unternehmen und keine Institution.

Die Buchstaben stehen für „Boykott, Desinvestition und Sanktionen“

Sophia Deeg, 65, ist Teil der weltweiten Kampagne „BDS“, die in den vergangenen Monaten viel Aufregung verursacht hat. Die Buchstaben stehen für „Boykott, Desinvestition und Sanktionen“. Mittel, die es gegen Israel einzusetzen gelte, um das Land zu massiven Zugeständnissen gegenüber den Palästinensern zu zwingen. Was zwei Intifadas und tausende Terroranschläge nicht schafften, soll nun gewaltfrei gelingen. Sophia Deeg sagt: „Das ist eine vorbildliche, intelligente Kampagne.“

In Berlin rief die Gruppe im August zum Boykott eines Musikfestivals in der Kulturbrauerei auf, nachdem sie auf dem Plakat das Wappen des Staates Israel entdeckt hatte. An der Humboldt-Universität brüllten BDS-Mitglieder eine Veranstaltung nieder, bei der eine Holocaust-Überlebende und eine israelische Parlamentarierin auftreten wollten. Am Alexanderplatz forderten sie mehrfach den Boykott israelischer Waren. Klingt für viele nach „Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!“. Inzwischen warnt auch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller: „BDS steht mit antisemitischen Schildern vor Geschäften. Das sind unerträgliche Methoden aus der Nazizeit.“ Hat Müller recht?

Sonntagabend in einer Kneipe in Prenzlauer Berg. Sophia Deeg und zwei ihrer Mitstreiterinnen sind zum Gespräch bereit. Sie sagen, ihre Kampagne sei keineswegs antisemitisch. Sie wollten bloß die israelische Apartheid abschaffen.

Äh, Apartheid?

Gegründet wurde der BDS von Palästinensern

Ja genau, die sei so schlimm wie jene damals in Südafrika. Die Berliner Sektion des BDS existiere seit acht Jahren, ihr gehörten Sozialpädagogen, Lehrer, Kommunikationswissenschaftler und Schauspieler an, Alter zwischen 30 und Mitte 60, einige Männer haben palästinensischen Migrationshintergrund. Im Gegensatz zu gemäßigten Gruppen verlangt der BDS nicht nur, dass sich Israel aus dem Westjordanland zurückzieht und so einen Staat Palästina ermöglicht. Zu seinen Kernforderungen gehört, dass alle palästinensischen Flüchtlinge nach Israel zurückkehren dürfen, dazu deren Kinder, Enkel und Urenkel. Ein solches Rückkehrrecht wäre weltweit einmalig. Israels Juden wären fortan in der Minderheit. Ob dieser Staat dann noch Israel heißen könne, müsse die neue Mehrheit entscheiden, sagt Deeg. Als Europäer solle man sich da nicht einmischen.

Gegründet wurde der BDS von Palästinensern. Die führenden Köpfe sagen ganz offen, dass sie keine zwei Staaten, also Israel neben Palästina, dulden werden. Dass der Judenstaat verschwinden muss und es dann nur noch einen Staat Palästina gibt. Sophia Deeg sagt, dazu wolle sie sich nicht äußern. Das sei „eine Sache der Leute, die da zu Hause sind“. Die Deutsche, die Israel mit einem Totalboykott in die Knie zwingen will, möchte nicht über die Konsequenzen nachdenken, denn: „Wie Menschen in anderen Teilen der Welt miteinander leben wollen, ist deren Entscheidung.“

Sie sagt, sie habe aus „Bauchgründen“ zum Thema gefunden

Deeg beteuert, ihre Kampagne würde sich selbstverständlich von Antisemiten distanzieren. Das gelte allerdings nicht für die Hamas, denn die sei nicht antisemitisch.

Mit am Tisch sitzt Doris Ghannam. Eine kleine Frau mit roten Locken. Deeg und sie sind die zentralen Akteurinnen der Berliner Ortsgruppe. Ghannam sagt, sie habe vor langer Zeit aus „Bauchgründen“ zum Thema gefunden. Als Kind erfuhr sie, dass ein Großonkel christlicher Templer gewesen und 1898 nach Palästina ausgewandert sei. Dort habe er Orangenhaine besessen. Weil Doris Ghannam Apfelsinen liebte, war ihr klar: Dieses Palästina muss toll sein.

Heute pflegt Ghannam Kontakt zu Unterstützern der „Volksfront zur Befreiung Palästinas“, kurz: PFLP. Einer Terrorgruppe, die Frieden mit Israel ablehnt, Zivilisten durch Autobomben und Selbstmordattentate tötet. Tritt Doris Ghannam bei PFLP-Gedenkveranstaltungen auf, nennt sie die Anwesenden „Genossen und Freunde“. Kein kritisches Wort darüber, dass Anhänger der Gruppe einen Monat zuvor in Jerusalem eine Synagoge stürmten und vier Rabbiner mit Äxten töteten. Stattdessen sagt Ghannam Sätze wie: „Erinnern wir uns an alle, die ihr Leben für ein freies und unabhängiges Palästina verloren haben.“ Sie fordert auch die Freilassung sämtlicher palästinensischen Häftlinge aus israelischen Gefängnissen, inklusive der Mörder und Terroristen.

Die dritte Aktivistin in der Runde heißt Eva Meier. Sie hält Gaza für ein „israelisches Konzentrationslager“, wirft Israel „Genozid“ an den Palästinensern vor. Beim Gespräch in der Kneipe erklärt Meier, man dürfe Menschen, die „Juden sind scheiße“ oder „Ich hasse Juden“ rufen, nicht gleich Antisemitismus unterstellen. Man müsse schauen, ob sie nicht eigentlich bloß die Politik Israels ablehnten und ob ihnen dafür das richtige Vokabular fehle.

Ein Kritikpunkt: die Flagge Israels

Wenn die BDS-Mitglieder Israel einen „Apartheidstaat“ nennen, meinen sie nicht etwa Menschenrechtsverletzungen im Westjordanland. Sie glauben, dass der Staat auch die 20 Prozent seiner eigenen Bürger, die arabischstämmig sind, als Menschen zweiter Klasse behandle. Im israelischen Recht gebe es „mehr als 50 Gesetze“, die nichtjüdische Staatsbürger diskriminierten. Diese seien alle gut dokumentiert, sagt Sophia Deeg. Fragt man, welche Gesetze sie meine und wo man diese nachlesen könne, muss Deeg passen. Damit habe sie sich in all den Jahren irgendwie nie beschäftigt.

Tatsächlich stammt die Zahl von der Internetseite adalah.org. Alle fraglichen Gesetze sind dort aufgelistet. Wer sich die Mühe macht und die Punkte einzeln durchgeht, wundert sich. In den allermeisten Gesetzen werden Religion oder Ethnie gar nicht erwähnt, sie gelten für jeden Staatsbürger gleichermaßen. Zum Beispiel die Sicherheitsgesetze, die Terroranschläge verhindern sollen. Israelgegner argumentieren nun, solche Anschläge würden statistisch gesehen häufiger von Nichtjuden als von Juden verübt - deshalb seien Maßnahmen dagegen rassistisch. Das ist, als würde man in Deutschland den Tatbestand Körperverletzung abschaffen wollen, weil wegen ihm mehr Männer als Frauen verurteilt werden. Angeprangert wird auch das Gesetz, wonach Muslime nicht verpflichtet sind, sich an den gesetzlichen jüdischen Ruhetag zu halten. Wenn sie möchten, können sie samstags arbeiten und sich dafür einen anderen Ruhetag aussuchen. Für den BDS ein klarer Fall von Ungleichbehandlung. Oder die Staatsflagge. Die hat schließlich einen Davidstern. Nach den Kriterien dieser Liste müsste man jeden Staat auf der Welt einen „Apartheidstaat“ schimpfen.

Berlins Kultursenator Klaus Lederer, der die Boykottaufrufe des BDS im August „widerlich“ nannte, attestiert der Gruppe eine „Israelversessenheit“. Klar dürfe man das Land kritisieren, die Regierung wie auch deren Siedlungspolitik. Was der BDS betreibe, sei aber keine Kritik konkreter Politik, sondern der Versuch, Israel zu dämonisieren und zu delegitimieren. „Selbstverständlich gibt es in Israel keine Apartheid. Es ist ein Rechtsstaat mit demokratisch gewählter Regierung, seine Bürger sind gleichberechtigt, es gibt Meinungsfreiheit und Wahlrecht.“

Israelboykott am Jahrestag der Reichspogromnacht

Das sind alles Punkte, die in den übrigen Ländern der Region größtenteils fehlen. Fragt man Sophia Deeg, warum sie ausgerechnet den Judenstaat boykottieren will, sagt sie: „Wir haben uns Israel nicht rausgepickt, weil es besonders schlimm wäre.“ Aber man könne sich halt immer nur auf eine Sache gleichzeitig konzentrieren. Ihre Mitstreiterin spricht von der „besonderen historischen Verantwortung der Deutschen“.

Seine bisher letzte Protestaktion führte der Berliner BDS am 9. November durch. Israelboykott am Jahrestag der Reichspogromnacht. Na ja, sagt Sophia Deeg, es war ja auch Tag des Mauerfalls, und es sei ihnen diesmal ganz allgemein um Mauern gegangen, die abgeschafft gehörten: die Sperranlage in Israel, aber auch jene in Indien, Saudi-Arabien, der Türkei, Westsahara, Europa. Im offiziellen Aufruf für den Protest hieß es, es gebe eine „neue weltweite Ära der Mauern“. Die Hauptschuld an dieser neuen, weltweiten Ära liege übrigens ganz klar bei Israel.

Beim Gespräch in der Kneipe sitzt eine weitere BDS-Aktivistin am Nebentisch. Sie heißt Anja und will nicht interviewt werden, was schade ist, denn Anja vertritt eine interessante Theorie. Sie glaubt, die europäischen Juden, die wegen Verfolgung in ihrer Heimat während des 20. Jahrhunderts in den Nahen Osten übersiedelten, seien gar keine echten Juden gewesen. Sie hätten sich nur so genannt, um mit dieser Tarnung in fremdes Land einzufallen.

Mit der Wahrheit nimmt es die Gruppe manchmal nicht so genau. Als sie im August zum Boykott des Festivals „Pop-Kultur“ aufrief, behauptete sie, Israel sei Mitorganisator. Das stimmte nicht, tatsächlich hatte die israelische Botschaft lediglich eine Künstlerin mit 500 Euro Reisekostenzuschuss unterstützt. Doch die Aktion zeigte Wirkung. Mehrere arabische Bands sagten ab. Der Manager einer Gruppe aus Ägypten erklärte, seine Musiker fürchteten den finanziellen Ruin. Ihren Lebensunterhalt verdienten sie zu 95 Prozent mit Auftritten in Kairo. Kämen sie dem Boykottaufruf nicht nach, wäre ihre Karriere vorbei.

Roger Waters als Vorbild

Dass sich auch schon etliche große Namen der Popbranche einschüchtern ließen und Auftritte in Israel absagten, verdankt die Kampagne vor allem Roger Waters. Der Mitbegründer von Pink Floyd ist ein eifriger Unterstützer und setzt Kollegen öffentlich unter Druck. Er liebt Vergleiche: Die Palästinenser würden behandelt wie die Juden im Holocaust, die Israelis lögen wie Joseph Goebbels. Dank Waters, sagen die BDS-Oberen, erreiche man inzwischen ein Massenpublikum, das sich sonst eher nicht für den Nahostkonflikt interessiere.

Zum Narrativ der Kampagne gehört auch die Behauptung, die große Mehrheit der Palästinenser unterstütze den BDS. Das ist fraglich. Als der israelische Sprudelhersteller Sodastream nach jahrelangem Druck des BDS seine Fabrik im Westjordanland schloss und 500 Palästinenser ihren Job verloren, kritisierten diese den BDS heftig. Auch Ministerpräsident Mahmud Abbas und viele Intellektuelle lehnen die Methoden der Gruppe ab. Gerade erst beschwerte sich der palästinensische Starschauspieler Kamel El Basha über die „kleine Gruppe von Leuten“, die ihren Landsleuten das Leben erschwere. Als tausende palästinensische Frauen vorigen Monat in Jericho an der Seite von Israelis für neue Friedensverhandlungen demonstrierten, verurteilte der BDS die Aktion. Kontakte mit Israelis bedeuteten Normalisierung. Die dürfe es nicht geben.

Das Logo der Gruppe ist ein kleines Strichmännchen namens Handala, die populäre Comicfigur eines palästinensischen Zeichners. In dessen Geschichten werden Israelis grundsätzlich mit Hakennase dargestellt. Sie begehen jüdische Ritualmorde, verführen arabische Frauen, können bloß durch Maschinengewehre gestoppt werden. Taugt so eine Figur als Logo einer angeblich gewaltfreien Kampagne? Sophia Deeg sagt, sie wisse von all dem nichts. Mit den Handala-Comics habe sie sich nie beschäftigt.

Aktivisten verfolgten Gregor Gysi bis auf die Toilette des Bundestags

In den USA, Großbritannien, Südafrika und den Niederlanden gab es bereits tätliche Übergriffen von BDS-Aktivisten gegen Juden. In Berlin verfolgten Aktivisten Gregor Gysi bis auf die Toilette des Bundestags, in Kreuzberg schlugen und spuckten BDS-Unterstützer wiederholt auf Kritiker ein, die Flugblätter verteilen wollten. Ein anderes Mal genügte als Grund für die Gewalt, dass ein Mann eine israelische Fahne bei sich hatte.

Mitgründer und internationaler Wortführer des BDS ist Omar Barghouti. Ein Elektroingenieur mit jordanischem Pass, der, Boykott hin oder her, in Tel Aviv Philosophie studiert hat. Er sagt, kein Palästinenser werde jemals einen jüdischen Staat in der Region akzeptieren. Barghouti gab auch die Parole aus, in Deutschland vorerst moderater aufzutreten und weniger zu fordern, als der BDS tatsächlich wolle. Die Holocaust-Schuldgefühle der Deutschen stünden noch im Weg.

In der linken Szene Berlins hat die Kampagne Unterstützer

Der eigentliche Charakter der Kampagne spricht sich dennoch herum. Im Mai verurteilte die Berliner SPD die Gruppe als antisemitisch, nächstes Jahr soll ein ähnlicher Beschluss auf Bundesebene folgen, bei den Grünen ebenso. Die CDU hat es bereits getan. In Frankfurt am Main und München erhalten Unterstützer des BDS keine kommunalen Räume mehr. Auch Michael Müller versichert: „Wir werden alles Mögliche tun, dem BDS Räume und Gelder für seine antiisraelische Hetze zu entziehen.“

Weniger eindeutig ist die Ablehnung in der linken Szene Berlins. Während etliche Gruppen versuchen, den BDS zu isolieren und von Demonstrationen auszuschließen, hat die Kampagne auch viele Unterstützer. Als der BDS in die Kreuzberger Kneipe „Jockel“ lud, um über seine Wirksamkeit in Deutschland zu diskutieren, kamen 200 Menschen. Im Laufe der Veranstaltung meldete sich eine arabischstämmige Jüdin und fragte, warum sich hier denn gar niemand Frieden wünsche, sondern immer nur das Ende Israels. Die Frau wurde zurechtgewiesen, sie stehe nicht auf der Redeliste.

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