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Die Angehörigen der deutschen Attentatsopfer klagen über mangelnde Anteilnahme.

© imago/Stefan Zeitz

Terroranschlag in Berlin: Ein Brandenburger Dorf trauert um Sebastian B.

Bratwurst oder Glühwein? Sebastian B. wartet in der Schlange, als am Breitscheidplatz der Truck auf ihn zurast. Heute will Brandenburg an der Havel einen Gedenkgottesdienst für ihn abhalten.

Irgendetwas klemmt. Und jetzt klemmt auch noch das eiserne Friedhofstor. Doch es verlangt bloß etwas Gefühl. Abgeschlossen ist es nicht.

Am vergangenen Samstag senkte man in dem kleinen Brandenburger Dorf Ragösen, 43 Meter über dem Meer, die Asche von Sebastian B., 32, Industriemechaniker, in die Endmoränenlandschaft des Hohen Fläming. Er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen. Er ist einfach überrollt worden, fünf Tage vor Weihnachten, kurz nach acht, von einem schwarzen Lastwagen, den ein Attentäter, der mit Vornamen Anis hieß wie ein Weihnachtsgewürz, in die Buden am Berliner Breitscheidplatz steuerte.

Mit tröstlicher Neutralität fällt der Schnee am Mittwoch in Ragösen unterschiedslos auf alles. Gegen vier am Nachmittag liegt er mit einigen Zentimetern auf den frischen Gestecken des Grabes. Schon sind die Rosen überzogen mit einer Haube. Ist es eine schützende Decke, die sich über die Geschichten breitet? Oder deckt der Schnee die Dinge zu, die ans Licht gehören? In Ragösen tanzen die Flocken, das Bild steht nie ganz still. „Dem Auge fern, dem Herzen ewig nah“, flattern die Schleifen. Hier wird der Mensch vermisst, nicht das „Terroropfer“. Der Mensch, der in Ragösen aufgewachsen ist und in Brandenburg an der Havel bei einem Getriebehersteller gearbeitet hat. Der nebenbei ein Studium begann. Der in der freiwilligen Feuerwehr war, gefühlt immer schon, zuletzt als Gruppenführer, der im Einsatz neun Leute anleitet. Bis Mitte Januar will die Feuerwehr Bad Belzig mit Trauerflor an den Antennen fahren.

Am Montag wird ein Gedenkgottesdienst stattfinden

Am Montag wird in der Katharinenkirche in Brandenburg ein öffentlicher Gedenkgottesdienst stattfinden. Ein Mann mit einer Hundeleine in der einen und einer weißen Rose in der anderen Hand grüßt in Ragösen freundlich und setzt die zweite Spur zum Grab in den frischen Schnee.

Merkwürdigerweise wusste man bislang von den internationalen Opfern des Anschlags vom Breitscheidplatz viel mehr als von den Opfern aus Deutschland. Die Italiener konnten sich von Fabrizia di Lorenzo, 31, verabschieden, der Premierminister stand am Rollfeld, wer wollte, konnte auf Fotos im Internet noch einmal in ihr lachendes Gesicht mit Nasenpiercing schauen.

Die Israelis haben sich von Dalia Elyakim, 60, verabschiedet, einer „guten Seele, die das Reisen liebte“, so schrieb es ein Freund. Und die Polen natürlich von Lukasz Urban, dem Lastwagenfahrer, kurzzeitig im Verdacht, ein Held zu sein. Zur Beerdigung kam der Präsident, der Sarg weiß wie die Unschuld.

Nur die Deutschen hatten für ihren Verlust noch keinen Namen. Nicht die einzige Erzählung eines Opfers, Fotos sowieso nicht. Zugleich beklagen Angehörige, dass es nicht genug Aufmerksamkeit gebe. Dass die Opfer vergessen würden. Aber wie sollte man ein Gefühl der Trauer entwickeln, ohne einen Menschen zu sehen? Das Attentat hatte in Deutschland kein Gesicht. Von wem hätte man sich also verabschieden sollen? Von der Zahl zwölf vielleicht?

"Waren Sie bei Sebastian?"

Das einzige Licht im Ort brennt im „Blumenkörbchen Julia“, direkt neben dem Friedhof. Wer die Ortsumfahrung mit der Bundesstraße 102 nicht findet, nach dem Weg fragt, kommt automatisch in ihrer Kurve zum Stehen. Der Laden hat in Ragösen die Funktion eines Pförtnerhäuschens. Weil es niemand anders tut, hält Karla Poggenpohl auch Briefmarken und gelbe Säcke vor. Sie schaut einem verständnisvoll entgegen.

„Waren Sie bei Sebastian?“

Sebastian.

Das eigene „Ja“ hört sich seltsam an, denn man war ja nie mit ihm per Du. Ist das jetzt schon ein Zunahetreten? Aber nein. Das Mitgefühl schließt hier alle ein. Wärme in jeder Hinsicht. Die Scheiben kondensieren. Blumen stehen stramm, einige hatte Karla Poggendorf für Sebastians Grab zu Gestecken gebunden. Ragösen hat rund 600 Einwohner, einige von ihnen sind Verwandte der Familie. Man hält in diesen Dörfern zusammen. Man duzt sich. Man redet. Und jetzt wird um Sebastian getrauert.

Ein Polizist und ein Feuerwehrmann stehen nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz vor dem beschädigten Tatfahrzeug.
Ein Polizist und ein Feuerwehrmann stehen nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz vor dem beschädigten Tatfahrzeug.

© dpa

Endlich ist von der spezifischen Berliner Verdruckstheit nichts mehr zu spüren. Der Schreck, erzählt Karla Poggendorf, durchfuhr sie sogar selbst kurz und heftig, am Abend des Attentats. Schließlich hat ihre Tochter, die in Berlin studiert, auf einem Weihnachtsmarkt gejobbt. Nein Mama, doch nicht heute, sagte die am Telefon. Am Montag, dem 19. Dezember war sie zu Hause in Sicherheit. Aber dann blieb der Zweifel viel zu lang: Sebastian wurde vermisst. Er war ja auch nach Berlin gefahren, wollte auf den Weihnachtsmarkt. Bis Donnerstag musste die Familie warten, bis sie offiziell Gewissheit hatte. Niemand konnte das verstehen. Warum wussten es so viele andere vor der Familie? Als der Gedenkgottesdienst in der Gedächtniskirche am Dienstag stattfand, war die Familie noch nicht sicher, dass auch sie zu beten hätte.

Das Ergebnis des DNS-Tests dauert, unerklärlich, bis Donnerstag, dann ist sicher: Sebastian, Industriemechaniker, von Dreien das mittlere Kind, als freiwilliger Feuerwehrmann selbst ausgebildet zum Retter, ist nun nicht mehr zu retten. Sebastian, Sohn, Bruder, bester Schwager, Enkel, Neffe, Onkel, Cousin, Freund Kumpel - und „Terroropfer“.

Ganz anders als bei Charlie Hebdo, Bataclan oder Nizza

Und jetzt? In der Diskussion um Politik, Sicherheit und Schuldzuweisung kämen die Opfer nicht mehr vor, sagt Karla Poggendorf. „Immer nur der Täter, tagelang, noch nachdem er tot war!“ Im Dorf sei man deshalb nicht einfach nur traurig. Karla Poggendorf, 59 Jahre alt, vier Kinder großgezogen, seit sieben Jahren im „Blumenkörbchen“, bis um fünf Uhr die Kirchenglocke ihren Feierabend einläutet, sie redet sich in Rage: „Beinahe hätte ich gesagt, jetzt sind sie schon tot, jetzt werden sie noch totgeschweigen.“ Beinahe hätte sie das gesagt. So wütend ist sie.

Dass etwas anders war mit diesem Anschlag in Berlin, komisch, so merkwürdig verhalten, ganz anders als bei „Charlie Hebdo“, nach dem Attentat im Bataclan oder in Nizza, haben alle schnell gemerkt. Es war wie mit den Leuten, die im Kino hemmungslos weinen, aber für das eigene Leben kein Gefühl aufbringen können. In Berlin schrieb man, wie „seltsam fern“ einem dieser Anschlag blieb.

Anders als noch beim Attentat auf die Karikaturisten von „Charlie Hebdo“ hat die Attacke in Deutschland keinen Zusammenhalt, sondern im Gegenteil eine Spaltung bewirkt. Die Politiker, die Behörden, die Journalisten und die Opfer werfen sich Versagen vor. Kein Wir, kein „Ich bin Weihnachtsmarkt“, nirgends.

Ausgerechnet jetzt soll die Menge an Mitgefühl aufgebraucht sein? Kann das stimmen? Ist Mitgefühl absolut begrenzt? Oder will man gerade von den Opfern in der Nähe nichts wissen, weil einem damit alles zu nahe rückt? Ist es möglich, dass sich Gefühllosigkeit jetzt als Gelassenheit tarnt? Und ist das noch Pietät oder schon Verdrängung?

In Brandenburg haben sie diese Probleme offenbar nicht. Dietlind Tiemann, CDU, Oberbürgermeisterin von Brandenburg, wo Sebastian zuletzt gelebt und gearbeitet hat, erzählt am Telefon in erfrischender Normalität von ihren Reaktionen. Wie sie am Tag nach dem Anschlag öffentlich geschwiegen haben, da wussten sie noch gar nicht, dass auch ihre Stadt betroffen ist.

Zwei ziehen los. Einer überlebt

Sie erzählt, wie ergreifend das Weihnachtskonzert eines Gymnasiums war, mittendrin eine lautstarke Stille. So haben sie spontan empfunden. Alles in ständigem Kontakt mit der Familie. Die man übrigens, vielleicht ist alles noch zu frisch, besser noch nicht anrufen solle. Sicher fiele es anderen leichter, über Sebastian zu reden.

Und dann meldet sich Frank Martin am Telefon, der Standortleiter des Getriebewerks ZF in Brandenburg, wo Sebastian gearbeitet hat. Sebastian B. war Industriemechaniker, mit drei Kollegen, erzählt er, seien sie an diesem Montag in Berlin gewesen für eine externe Schulung. Und weil sie die Dokumente für eine bestandene Prüfung ausgehändigt bekommen hatten, wollten sie am Abend noch auf dem Weihnachtsmarkt feiern. Zwei ziehen zwischen den Ständen nochmal los. Und nur einer überlebt.

Beileidsbekundungen und Schilder liegen zwischen Blumen und Kerzen in Berlin unweit der Stelle des Anschlags auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz.
Beileidsbekundungen und Schilder liegen zwischen Blumen und Kerzen in Berlin unweit der Stelle des Anschlags auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz.

© dpa

Noch immer hängt die Traueranzeige für Sebastian B. im Werk. Der Kollege stand erst unter Schock, inzwischen kann er wieder arbeiten. Eine Frau aus dem Betrieb hat auf der Beerdigung am Sonnabend gesprochen. Etwa 300 Leute sind dort gewesen, Feuerwehren aus Bad Belzig und den Dörfern, niemand aus „der Politik“: Die Familie wünschte sich keine Journalisten in der Kirche, keine Beileidsbekundungen, bitte. Und statt Gestecken Spenden für die Freiwillige Feuerwehr.

„Und warum hört man nichts mehr von den Verletzten? Leben die überhaupt noch? Das interessiert die Leute doch!“, sagt Karla Poggendorf jetzt in ihrem „Blumenkörbchen“. Warum sind die Informationen so zäh?

Warum gilt es als Rücksicht, über traurige Dinge zu schweigen?

Vielleicht aus demselben Grund, aus dem man jetzt nicht einfach bei Sebastians Mutter klingeln kann. Weil die Familien Privatsphäre wünschen. Weil man in Deutschland stärker als in anderen Ländern davon ausgeht, dass Schweigen Schutz bedeutet. Vier Tage nach der Beerdigung ist es keine Zeit für einen Überfall auf die Mutter mit einem publizistischen Anliegen. Weil es eine Zumutung wäre.

Das Erzählen, wie man sich immer von Toten erzählt, das ist in Ragösen intakt. Es wissen alle, dass Sebastian an diesem Tag in Berlin war. Sonst hätte er an diesem Montag in Brandenburg gearbeitet. Zwei Kollegen wollen noch eine Bratwurst essen, und einen Glühwein dazu. Schließlich haben sie etwas zu feiern. Bratwurst oder Glühwein? Die Antwort auf diese Frage entscheidet über Leben oder Tod. Der Kollege steht bei der Bratwurst an. Sebastian geht zum Glühweinstand. Dann kommt der Lastwagen.

Ist es vielleicht ein deutsches Problem, dass das Reden so schwer fällt? Dass es als Rücksicht gilt, über traurige Dinge zu schweigen? Die Opfer haben jetzt von der Regierung eine Geste eingefordert. Mehr Anteilnahme. Es wirkt seltsam, dass als Antwort darauf Schweigeminuten angeboten werden. Ausgerechnet.

Möglicherweise sind die Deutschen ihrem nationalen Reflex zum Opfer gefallen: Dinge, die ihnen zu nahe gehen, erst einmal verdrängen. Und das dann „Haltung“ nennen. Weitermachen. War da was? Verdrängung ist ein Schutzmechanismus.

Die Menschen, die für Sebastian B. auf Facebook, bei der Feuerwehr, in Online-Foren ihr Mitgefühl ausdrücken, wissen dagegen und schreiben auch, dass die Leute so lange lebendig sind, wie man über sie redet.

Manchmal tut man vor lauter Anstand genau das Falsche

Die Deutschen könnten das wissen. Sie haben Übung darin, an Tote zu erinnern. Sechs Millionen ermordete Juden! Und aus der nichtssagenden Zahl lösen sich bis heute einzelne Geschichten. Man erzählt sie sich nun beinahe atemlos, bevor die letzten Zeugen sterben. Das Interesse ist enorm und von Voyeurismus weit entfernt.

Zugegeben, bis die Deutschen so weit waren, hat es mehr als 60 Jahre gedauert. Aus dem gleichen Grund sind die Stolpersteine in Berlin so erfolgreich: Jeder einzelne gibt der Erinnerung in erschütternder Schlichtheit einen Ort, einen Namen, ein Geburtsdatum und eines für den Weg in den Tod.

Im schweren Duft des Ragösener Lädchens, wo die Blumen noch einmal aufblühen, bevor sie endgültig welken, ist es möglich, dass man vor lauter Anstand genau das Falsche tut. Nur ein paar Meter von Sebastians Elternhaus entfernt, scheint es plötzlich falsch, ausgerechnet die Familie nicht zu fragen. Ist das überhaupt in ihrem Sinne? Wird sie es nicht hier, wo ohnehin alle miteinander reden, im Gegenteil seltsam finden, wenn man mit allen anderen redet, außer mit ihr? Schont man die Familie damit wirklich oder grenzt man sie in Wahrheit aus? Mitten in Ragösen scheint es genau anders herum: unmöglich, sie nicht zu fragen!

Manchmal können Pfarrer helfen. Jens Meiburg aus Brandenburg sitzt an der Vorbereitung seines Gedenkgottesdienstes, der am Montag in seiner Katharinenkirche stattfinden wird. Ans Telefon geht er trotzdem. Meiburg betreut die Familie von Sebastian B., er hat in Ragösen den Gottesdienst zur Beerdigung geleitet, er denkt ohnehin die ganze Zeit darüber nach, was richtig ist, und was falsch.

Nicht einmal der Pfarrer kennt alle Opfer

Seiner Erfahrung sagt: Die Trauerfälle nach diesem Anschlag sind mit anderen nicht vergleichbar. Vielleicht liege es daran, dass das Thema immer noch die Nachrichten beherrscht, immer präsent ist. Da brauchen die Trauernden mehr Zeit. Auch die Familie von Sebastian. Für das Erzählen sei es möglicherweise noch zu früh.

Meiburg steht deshalb vor dem gleichen Dilemma wie alle in Deutschland: Wie kann er am Montag ein menschliches Gefühl erzeugen - ohne den Beteiligten zu nahe zu treten? Denn die Familie möchte ausdrücklich nicht im Fokus stehen, nicht um Bilder gebeten und nicht angesprochen werden.

Der Gottesdienst gilt allen Opfern des Anschlags und ihren Angehörigen. Pfarrer Meiburg und Oberbürgermeisterin Tiemann hatten ihn schon lange geplant. Vier Wochen nach der Tat, das schien Meiburg ein guter Bezug. Bis dahin, so hoffte er, hätte sich einiges gesetzt. Und mit 19 Uhr 30 „kommt es auch von der Uhrzeit ungefähr hin.“

Ja, mit Informationen sei bei diesem Anschlag „vorsichtig“ umgegangen worden, sagt Meiburg elegant. Der Pfarrer weiß nicht, ob die Gründe dafür „ermittlungstechnische oder ermittlungstaktische“ sind. Nicht einmal er, der den Gottesdienst hält, kennt alle Opfer.

Alle haben immer Angst vor Instrumentalisierung. Und vielleicht ist deshalb die Stimmung jetzt so gelähmt, wirken die Erzählungen nicht frei. Das Trauern hat seine Unschuld verloren. Es gibt so viel falsch zu machen, dass viele lieber gar nichts mehr tun. Meiburg wird sich von dieser Angst nicht lähmen lassen.

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