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Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus acht Nationen gehören zum Team um die renommierte Professorin Dr. Bénédicte Savoy (vorn, Bildmitte).

© Phil Dera/TU Berlin

Translocations: Erbe der Menschheit

Das Verbundprojekt „translocations“ fragt nach der Herkunft von Kunst und Kultur in den Museen.

Wem gehören eigentlich Kunst und Kultur? In den Museen der Welt lagern unzählige Gemälde, Skulpturen, naturwissenschaftliche Funde, die aus einem ganz anderen Teil der Welt stammen. Wie kamen sie dorthin? Welche Geschichten erzählen sie? Wurden sie gekauft, gestohlen, übereignet, enteignet? Ist es Kriegsbeute, Geschmuggeltes oder Geschenktes?

„Auseinandersetzungen um die territoriale Verlagerung von Kulturgütern in Kriegs- und Friedenszeiten sind so alt wie die Kulturgeschichte – und gleichzeitig hochaktuell“, sagt Bénédicte Savoy, Professorin für Kunstgeschichte der Moderne an der TU Berlin. Die Französin entdeckte ihre Leidenschaft für das Thema bereits, als sie über Napoléons Kunstraubzüge in Deutschland um 1800 promovierte. „Die Folgen solcher Verlagerungen – Translokationen – gehören für mich zu den großen Herausforderungen der kunsthistorischen Forschung des 21. Jahrhunderts. Täglich ringen Juristen, Museumsleute, Politiker, Ethnologen und Archäologen, Kunsthändler, politische Aktivisten und Journalisten und Künstler um ‚gerechte‘ kulturpolitische Entscheidungen, zum Beispiel bei Restitutionsstreitigkeiten.“

Auch in den renommierten Berliner Museen und Gemäldegalerien lagert viel „Verlagertes“. Manche Zugehörigkeiten und Rechtsgrundlagen sind noch ungeklärt. „translocations“ heißt daher das große Verbundprojekt der Kunsthistorikerin, die auch eine der renommierten internationalen Professuren am Collège de France in Paris innehat. Sie investierte in das Projekt einen erheblichen Teil der 2,5 Millionen Euro aus ihrem 2016 erhaltenen Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis.

Der Blick geht auch nach Ostasien, Afrika, Amerika und Indien

Oft müssen die Forschenden tief in die internationale Kolonialgeschichte und in die Sammlungsgeschichte von Museen in Europa einsteigen, um mehr zu erfahren. Doch Vieles wurde auch ohne Gewalt verlagert, mit und ohne das Wissen der Herkunftsregierungen. Dazu gehören Fundstücke aus wissenschaftlichen Expeditionen. „Provenienzforschung“, also die Klärung der Erwerbsbedingungen von Kunstwerken, ist der Fachbegriff für diese Forschung. Diese Erwerbsgeschichten müssen bei der musealen Darstellung unbedingt sichtbar gemacht werden, unabhängig von der Rechtmäßigkeit des Besitzes. Darauf weist Bénédicte Savoy immer wieder mit Nachdruck hin. „Nur so erzählen die Kunstwerke eine verständliche Geschichte ihrer und unserer Kultur.“

Im Projekt „translocations“ geht es dabei nicht nur darum, Verlagerungen von Kulturgut zu untersuchen, die Europas Mächte bewirkt haben, zum Beispiel in der Kolonialzeit. Der Blick geht auch über den Tellerrand: nach Ostasien, nach Afrika und Indien. Kunst aus Nord- und Südamerika wird ebenfalls Bestandteil der Forschungen sein. Auch Azteken, Inka oder Irokesen haben sich durchaus Bilder, Figuren und andere Objekte aus fremden Kulturen gewaltsam angeeignet. „Unser Team ist daher international“, erklärt Bénédicte Savoy. 16 Forscherinnen und Forscher aus acht Nationen haben sich zusammengefunden. Die PostDocs, Doktoranden, Doktorandinnen sowie drei Masterstudierende kommen aus Kunstgeschichte, Sprachwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften, aus Design und Informatik. Sie erarbeiten Basiswissen für die Geisteswissenschaften. Am Ende des Projekts sollen ein Wörterbuch stehen, ein Atlas der Kulturgutverlagerungen seit der Antike, eine Bilddatenbank sowie eine Textsammlung über Verlusterfahrungen, die mit der Verlagerung von Kultur – durch Krieg, Plünderung, Raub oder auch durch Handel – verbunden sind.

Noch mehr Herkunftsforschung

Bunte Vernetzung

Als Stipendiatin am New Yorker Center for Data Arts wollte sie den New Yorker Kunstmarkt erforschen – und hatte ein „Erweckungserlebnis“. „Ich gehöre zur Generation der ,digital natives’ und mir fehlten Möglichkeiten, digitale Forschungsdaten für mein Fach sichtbar zu machen“, sagt die Kulturwissenschaftlerin Anne Luther. Hier fand sie offene Ohren für ihre Idee, eine Software für Geisteswissenschaften zu entwickeln, mit der man außer Zahlen und Messreihen auch komplexe Daten aus Kunst, Kultur, Psychologie und Soziologie wie Interviews, Feldnotizen, Transskripte, Bilder oder Videos analysieren kann. So entstand „The Entity Mapper“, eine interaktive Open-Access-Software, mit der Forscher ihre Daten teilen, sich weltweit interdisziplinär vernetzen und austauschen können. Die Software stellt die Daten als bunte Kugeln verschiedener Größe dar, verbunden durch bewegliche Linien. Sie machen Beziehungen sichtbar, die bei der traditionellen Textanalyse nicht sofort ins Auge springen. Welches Kunstwerk überschritt wann welche Grenze, wurde wohin verkauft, kolonial übernommen oder von wem geraubt? Dies sind zentrale Fragen im Projekt „translocations“, wo Anne Luther assoziiertes Mitglied ist. „The Entity Mapper“ wird damit Vorreiter für weitere digitale Werkzeuge, die einen innovativen Schwerpunkt in den Digital Humanities an der TU Berlin setzen (anneluther.info).

Schätze Äthiopiens

Nichts ist geblieben von Magdala, König Tewodros trutziger Festung und Kulturhauptstadt am Horn von Afrika. Im 19. Jahrhundert hatte der Äthiopier dort in seiner Nationalbibliothek Tausende kostbarer Manuskripte und sakraler Gegenstände aus Klöstern und Kirchen des damaligen Abessinien zusammengetragen. Dann kam es zum Konflikt mit der britischen Queen Victoria. Die berühmte „Schlacht von Magdala“ endete mit dem Selbstmord des als Modernisierer gefeierten Afrikaners. Die geplünderte Festung versank in Schutt und Asche, die Kunstschätze wanderten nach England und in andere europäische Länder. Viele verschwanden auch an unbekannte Orte in Afrika. Hier setzt das Projekt des äthiopischen Manuskript- forschers und Sprachexperten Gidena Mesfin Kebede an. Er lehrte an Universitäten in Äthiopien, promovierte in Hamburg und war beim Roten Kreuz als Übersetzer der afrikanischen Sprache Tigrinya tätig. Nun will er im Rahmen von „translocations“ die Bestände der ehemaligen Bibliothek rekonstruieren. Er will Manuskripte und Gegenstände identifizieren, beschreiben, deren Aufenthaltsorte und Eigentumsverhältnisse erforschen, um unter anderem Grundlagen für Debatten um Rückführungen zu schaffen.

Kebede will dafür Verzeichnisse von Klöstern und Kirchen entlang der militärischen Reiseroute in Äthiopien nutzen, ebenso wie Kataloge der Sammlungen von British Library oder British Museum.

(pp)

Patricia Pätzold

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