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Zwei für Tausende. Dana Lützkendorf und Carsten Becker auf dem Campus der Charité in Mitte.

© Kai-Uwe Heinrich

Streik an der Charité in Berlin: Von Bett zu Bett hetzen - bis einer was vergisst

Er ist eine von 4135 Pflegekräften an der Charité. Heute führt Carsten Becker Europas größte Uniklinik in einen Streik, der das Gesundheitssystem erschüttern könnte.

Lange bevor im Morgengrauen die Zeitung in seinem Briefkasten landet, ist Deutschlands wichtigster Krankenpfleger hellwach. Er beantwortet E-Mails, weckt seine Töchter, macht Frühstück mit seiner Frau, plant den Tag.

Und er ist bereit für den vielleicht entscheidenden Arbeitskampf im deutschen Gesundheitswesen.

Gern hätte man Carsten Becker – 49 Jahre alt, aschblondes Haar, randlose Brille – an seinem Schreibtisch getroffen. Auf dem Campus der landeseigenen Charité in Berlin-Wedding ist Becker als Personalrat aktiv. Man hätte Familienfotos betrachten und Kekse aus Blechdosen essen können, wie es sie nur noch in Personalratsbüros gibt. Nur eben Becker hätte man dort nicht erwischt, er ist jeden Tag in der Stadt unterwegs; trifft Kollegen auf Krankenstationen, muss Interviews geben, in Sitzungen der Tarifkommission debattieren, mit Abgeordneten sprechen.

Sie wollen mehr Kollegen, statt mehr Geld

Seit Wochen geht das so. Und so begegnet man ihm immer nur auf dem Weg zwischen Terminen. Eigentlich ist dieser Carsten Becker eine von 4135 Pflegekräften der Charité. Ab Montag aber wird er Europas größte Universitätsklinik in den ungewöhnlichsten Streik des Landes führen. Streiks in Kliniken sind selten, besonders in der Pflege. Doch noch nie wurde für mehr Kollegen gestreikt, statt für mehr Lohn. Es ist ein lokaler Streik, über den sie in der Bundesregierung schon nachdenken, bevor er begonnen hat. Der Charité-Vorstand hatte sich mit Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) getroffen. In den Universitätskliniken in Hannover und Heidelberg sagen Schwestern, sie warteten nur auf den Tarifabschluss in Berlin, um selbst loszulegen. Und ein SPD-Bundespolitiker vermutet: Da entstehe ein Flächenbrand.

Wie kommt ein Pfleger dazu, die Bundesregierung herauszufordern?

Becker sitzt in einem Lokal am Berliner Ostbahnhof und hat Strammen Max bestellt: Brot, Schinken, darüber Spiegelei. Das kann er gebrauchen. Fast drei Jahre verhandelten er und fünf weitere Delegierte der Gewerkschaft Verdi mit dem Charité-Vorstand. Als sich im Winter abzeichnete, dass die Verhandlungen scheitern, hat Becker in elf Wochen 25 Kilo abgenommen. Stress? Becker schweigt. Dann: „Ich wollte sowieso dünner werden.“

Seit Jahren klagen Pflegekräfte in Kliniken und Heimen über Stress, Überstunden, Versorgungsfehler. Für die oft ängstlichen, einsamen, manchmal dauerkranken Patienten bräuchte man etwas, das immer knapper wird, nicht nur in in der Charité: Zeit. Becker sagt: „Sonst gehen die Kollegen unter – und die Patienten mit ihnen.“

Man ahnt, was Becker antreibt, er selbst formuliert es so: „Jeder braucht mal ein Krankenhaus.“

Charité-Chef Einhäupl steht unter Druck - nicht nur von den Streikenden

Die Streikenden an der Charité werden beäugt, aufmerksam. Im Roten Rathaus lässt sich Michael Müller (SPD), der Regierende Bürgermeister, über den Streik informieren, Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU) und die Bosse der Kliniken und Krankenkassen sowieso.

Becker hatte Czaja erzählt, warum sie streiken: Pro Schicht betreut eine Schwester auf der Normalstation zehn, elf, zwölf Patienten. Hetzt von Bett zu Bett. Bis sie womöglich etwas vergisst, eine Patientenakte, vielleicht aber auch das Desinfizieren der Hände. Nachts betreut eine Schwester 25 Patienten, oft sind Schwergewichtige dabei, die sie ohne Hilfe kaum umdrehen kann. Druckgeschwüre drohen. Nachts keine Schicht allein, fordern die Streikenden, tagsüber fünf Patienten pro Pflegekraft.

„Wir brauchen mehr Leute“, sagt Becker. „Der Vorstand weiß das.“

Damit meint er einen Mann, der derzeit noch weniger schläft als Becker selbst: Karl Max Einhäupl – 68 Jahre, Neurologe, Wissenschaftsadel – ist Chef der Charité. Einhäupl sagt, mehr Stellen ließen sich durch die gedeckelten Mittel der dafür zuständigen Krankenkassen nicht bezahlen, die Bundespolitik müsse die Kliniken deutlich besser ausstatten: „Nicht wir, auch nicht der Senat ist der Adressat, sondern die Bundesregierung.“ Das mag stimmen, tatsächlich werden die Kliniken in Deutschland von den Kassen und den Landesregierungen knapp gehalten. Doch die Charité hat 1,5 Milliarden Euro Jahresumsatz, vielleicht wird Einhäupl umschichten müssen.

Charité verliert pro Streiktag 500 000 Euro

Und überhaupt, sagt Becker, mag ja sein, dass die Kliniken zu wenig Geld bekommen, nur dürfe das doch nicht zum Problem für eine Nachtschwester werden, die 300 Überstunden angehäuft hat. Fast wird Becker zornig, aber nur fast. Den Strammen Max hat er vertilgt, Blick auf die Uhr: Stirnrunzeln, ein bisschen Zeit ist noch.

Einhäupl wollte den Streik vom Arbeitsgericht verbieten lassen, das Patientenwohl sei gefährdet, die Forderungen seien kaum tariffähig. Selbstverständlich, erklärte der Richter, dürfe man für mehr Personal streiken. Und mit Verdi ist vereinbart worden, Notfälle auch während des Streiks zu versorgen. Einhäupl versucht es nun beim Landesarbeitsgericht.

Wer an der Charité – 16 000 Beschäftigte, 100 Stationen, drei Campusse so groß wie Städte – einen Streik organisiert, muss durch ganz Berlin fahren: Im Südwesten liegt das Benjamin-Franklin-Klinikum wie eine Raumstation zwischen Einfamilienhäusern. In Wedding der Virchow-Campus mit kilometerlangen Parkwegen. In Mitte die Zentrale, wo die Klinik 1710 als Pesthaus eröffnet wurde, mit dem Bettenturm. Becker sagt: „Dass dieser Kampf über die Charité hinausweist, ist klar. Der Vorstand wird den Druck an die Politik weitergeben, welche Signale von dort kommen, ist noch nicht abzusehen.“

Die Wut an der Basis aber sei so groß, dass die Stadt den Streik spüren werde. Selbst wenn am Montag nur 600, 700 Pflegekräfte die Arbeit niederlegen, bleiben bald 1000 der 3000 Charité-Betten leer. Hunderte OPs wurden schon verschoben. Pro Streiktag verliert die Charité mindestens 500 000 Euro.

Ein Kinderkrankenpfleger liest Trotzki

Schon als Becker geboren wird, gibt es in deutschen Kliniken zu wenig Schwestern. In den 60ern wächst die Wirtschaft, die Bevölkerung auch, Fachkräfte fehlen. Becker wird in Kassel als Sohn eines Drehers und einer Buchhalterin groß, die irgendwann aus der SPD austreten. In Berlin bricht Becker 1989 aus Geldnot ein Architektur-Studium ab, lässt sich als Kinderkrankenpfleger ausbilden und lernt an der Charité seine Frau kennen. Da liest er schon Leo Trotzki, ist der Gewerkschaft beigetreten und hört sich die Sorgen seiner Kollegen an. Becker reist bald durch das Land, besucht Pflegekongresse und Gewerkschaftstage. „Kliniken sind so wichtig“, sagt Becker, „dass ich mich immer öfter über die Passivität vieler gewundert habe.“

Kurz vor dem Streik protestieren Schwestern vor einem Treffen des Charité-Vorstandes.
Kurz vor dem Streik protestieren Schwestern vor einem Treffen des Charité-Vorstandes.

© Kai-Uwe Heinrich

Richtig los geht es, als Becker 2003 merkt, dass es am Krankenbett noch härter wird. Die Fallpauschalen werden eingeführt, wonach Kliniken pro Patient und Diagnose eine fixe Summe von den Kassen erhalten. Es wird nicht das bezahlt, was die Kliniken tatsächlich verbrauchen. Überall werden nun immer mehr Patienten immer schneller behandelt. Die Universitätskliniken bräuchten ohnehin mehr Geld, weil dort die komplexesten Krankheitsfälle landen. „Berlin will doch immer Wissenschaftshauptstadt sein“, sagt Becker. „Dann muss auch das nötige Personal bezahlt werden.“

Die Fallpauschalen tastete Gesundheitsminister Gröhe auch mit der neuesten Reform nicht an. Nun sägt Becker am Fundament des Systems. „Ganz ehrlich“, sagt er. „Wir könnten die Geschichte des Gesundheitswesens neu schreiben.“ Wenn die Charité neue Personalquoten einführt, werden die Beschäftigten anderer Kliniken auch welche fordern. Die Politik wird unter Druck geraten.

„Der ist dickköpfig."

Becker, sagt ein Ex-Kommilitone, habe sich nie aufgeplustert, sei keine Rampensau. Eher jemand mit langem Atem, einer der dranbleibt, verbissen, aber vorausschauend. Weil beispielsweise nicht klar war, ob man in Deutschland eine Klinik per Streik zwingen darf, ihre Personalpolitik zu ändern, baten Becker und die Verdi-Leute einige Juristen, die Forderungen zu prüfen. Deshalb hat Becker das Arbeitsgericht nicht gefürchtet.

Man hat Mühe, jemanden zu finden, der schlecht über Becker spricht, selbst Arbeitgeberchef Einhäupl kommt gut mit ihm aus. Kann das sein, keine Feinde – bei 16 000 Charité-Mitarbeitern? Eine Schwester sagt: „Der ist dickköpfig. Vielleicht ein bisschen zu sehr.“ Sie streike trotzdem. Ein Verdi-Mann glaubt zu wissen: „Hätten wir nicht mitgemacht, hätte der wohl eine eigene Gewerkschaft gegründet.“

Traditionell sind Schwestern und Pfleger selten gewerkschaftlich organisiert, eigene Interessen stellen viele zurück. An der Charité aber sind allein seit diesem Mai 250 Beschäftigte bei Verdi eingetreten. Außerdem haben 180 Schwestern und Pfleger den Auftrag bekommen, auf den Stationen die Stimmung einzufangen. Und fast alle 600 Charité-Intensiv-Pflegekräfte haben einen Brief an Senator Czaja unterschrieben, in dem sie mehr Personal für alle Kliniken fordern.

Geschrieben hat den Brief übrigens auch nicht Becker, sondern Dana Lützkendorf. Sie sieht – große dunkelblaue Augen, sportlich, blonder Zopf – sehr jung aus, ist eigenen Angaben zufolge aber 38 Jahre alt. Lützkendorf ist Intensiv-Schwester und ab Montag so was wie die Vize-Generälin des Streiks. Noch an diesem Sonntag, wenn andere „Tatort“ schauen, wird sie Streikplakate aufhängen. „Drei Jahre gab’s nur Privatleben auf Sparflamme“, sagt sie. „Jetzt müssen wir alle das durchziehen.“

„Ein Gesetz“, sagt sie, „kommt erst, wenn wir dafür kämpfen.“

Wie Becker rotiert Lützkendorf seit Monaten durch die Stadt. Urlaub hatten beide seit letztem Sommer nicht. Wenn Lützkendorf sonst zur Frühschicht geht, steht sie um 5 Uhr auf. Ab Montag wird sie die Streikleiterin auf dem Campus Mitte sein – und deshalb spätestens 4.30 Uhr das Bett verlassen haben.

Obwohl sich an der Charité selbst einige Ärzte mit dem Streik solidarisieren, war er in Verdi umstritten: Zu ungewöhnlich erschien einigen Funktionären das Streikziel, sie hätten gern ein Gesetz, das die Personalfrage ein für alle mal regelt. Verdi-Bundeschef Frank Bsirske segnete den Streik ab. „Ein Gesetz“, sagt Lützkendorf, „kommt erst, wenn wir dafür kämpfen.“ Nun geht es um alles.

Auch wenn es Becker noch mal 25 Kilo kostet. Es gibt kein Zurück mehr.

Becker mag seine Charité. Er kann nicht nur über Fallpauschalen schimpfen, sondern auch stolz über die neueste ECMO, die extrakorporale Membranoxygenierung reden, mit der Patienten künstlich beatmet werden und die es in Berlin nur an seiner Klinik gibt. „Hoffentlich“, sagt Becker, „wird sie ihrem Ruf gerecht.“ Wenn ab Montag in der Charité nur noch Notfälle versorgt werden, steigt der Druck auf die anderen Krankenhäuser der Stadt. Im Senat werden sie überlegen, ob sie Einhäupl mehr Geld in Aussicht stellen – und im Bund auf bessere Finanzierungsregeln drängen. Becker lässt durchblicken, dass er und Einhäupl jederzeit telefonieren können, neue Verhandlungen seien immer erwünscht.

Becker muss los, keine Zeit mehr für ein Dessert. Er wirkt erschöpft. Es ist eben nicht nur schmeichelhaft, sondern auch anstrengend zu wissen, dass alle einem zuschauen. Ewig sollte der Streik nicht dauern. Lützkendorf möchte im Herbst nach Kuba. Und Becker will mit den Kindern im August nach Italien: „Sorry, aber das muss dann mal sein.“

Für Patienten, die Fragen zum Streik haben, hat die Charité Montag bis Freitag von 9 bis 17 Uhr eine Hotline eingerichtet: 030450550500

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