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Gesundheit: Stimmungsaufheller

Regen, grauer Himmel, Kälte. Der Winter schlägt vielen Menschen aufs Gemüt - manche erkranken an einer Winterdepression. Doch dagegen gibt es eine einfache Therapie

Der Sommer ist vorbei. Und mit ihm weicht die Leichtigkeit der lauen Sommernächte dem Schwermut grauer Tage. Die Sonne hat sich verkrochen und unter den Menschen marodiert die Melancholie. Es ist Herbst. Der Winter wird kommen. Wie der Himmel sich verdunkelt, verfinstert sich das Gemüt mancher Menschen. Morgens kommen sie schwer aus dem Bett, schleppen sich so über den Tag, und abends statt Zweisamkeit Rückzug in die Einsamkeit - die Winterdepression hat sie voll erwischt. Der US-amerikanische Psychiater Norman Rosenthal beschrieb 1984 erstmals diese besondere Depressionsform, die er saisonal abhängige Depression (SAD) taufte. Denn im Unterschied zur damals bereits bekannten Depression leiden die Betroffenen nur in der dunklen Jahreszeit unter den Symptomen, während es ihnen im Frühling und Sommer bestens geht.

Ein Viertel der Bevölkerung ist von Stimmungsschwankungen in der dunklen Jahreszeit betroffen, schätzt Dieter Kunz, Chronobiologe und Chefarzt der Klinik für Schlaf- und Chronomedizin im St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin Mitte. Bei ein bis zwei Prozent sei die Depression so schwer, dass sie behandelt werden sollte. Im Gegensatz zu anderen depressiven Patienten leiden sie weder an Schlaf- noch an Appetitlosigkeit. Ganz im Gegenteil, sie schlafen länger und entwickeln sogar Heißhunger auf Schokolade oder Nudeln, auf alles, was Kohlenhydrate enthält und damit den Serotoninspiegel ankurbelt - denn dieses Hormon wirkt stimmungsaufhellend und damit der Verstimmung entgegen.

Unser Experte Dieter Kunz ist Chefarzt der Kliniken für Schlaf- und Chronomedizin im St. Hedwig-Krankenhaus und Geschäftsführer von Intellux Berlin.
Unser Experte Dieter Kunz ist Chefarzt der Kliniken für Schlaf- und Chronomedizin im St. Hedwig-Krankenhaus und Geschäftsführer von Intellux Berlin.

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Doch warum haben Licht und Dunkelheit einen so großen Einfluss auf unsere Psyche? Die Antwort liegt in unserer Evolution und den Sternen - genau genommen im Verlauf der Sonne, der seit der Entstehung des Lebens auf der Erde dessen Takt vorgibt. Auch der Mensch hat sich im Lauf seiner vier Millionen Jahre zählenden Evolution an den Rhythmus der Tages- und Jahreszeiten angepasst. »Die saisonal abhängige Depression ist ein Überbleibsel des Winterschlafs beim Menschen«, sagt Dieter Kunz. Sein Fachgebiet ist die Chronobiologie, die sich mit der zeitlichen Organisation physiologischer Prozesse beschäftigt. »Die längste Zeit seiner Evolution hat der Mensch in der afrikanischen Steppe verbracht.« In der nächtlichen Dunkelheit drohten nicht nur Raubtiere, es konnte auch sehr kalt werden. Unsere Urahnen mussten viel Energie in die Wärmeproduktion stecken, um nicht zu erfrieren. Für ausschweifende Aktivitäten fehlte ihnen die Kraft. Dieser Rhythmus ist bei vielen Menschen bis heute erhalten geblieben. »So erklärt sich das erhöhte Schlafbedürfnis, aber auch der Appetit auf kohlenhydratreiche Nahrung, den viele im Winter verspüren«, sagt Kunz.

Evolutionär gesehen ist die Wintermüdigkeit also der Normalfall, keine Krankheit. »Die Frage ist eher, warum drei Viertel der Bevölkerung nicht von saisonalen Stimmungsschwankungen betroffen sind«, sagt Kunz. Eine Frage, auf die die Chronobiologie bisher keine Antwort hat.

Klar ist jedoch: Die winterliche Antriebslosigkeit ist für den modernen Menschen zum Problem geworden. War es früher sinnvoll, sich in der kalten und dunklen Jahreszeit in Höhle oder Hütte zurückzuziehen, um Energie zu sparen, hat sich der Lebensstil seit der Industrialisierung und der Erfindung des elektrischen Lichts radikal gewandelt. Die Maschinen laufen Tag und Nacht und so muss auch der Mensch malochen. Hinzu kommt: »Der Energiesparmodus dient nur dem Schutz vor dem Erfrieren und hat keine regenerative Funktion«. Die alljährliche Müdigkeit ist also kein Schönheitsschlaf.

Über Millionen Jahre hat sich der Tag-und-Nacht-Rhythmus als Taktgeber in den Genen des Menschen festgeschrieben. »Wie in einem Schweizer Uhrwerk steuert das circadiane System des Zentralen Nervensystems den Ablauf sämtlicher Körperfunktionen«, sagt Chronobiologe Kunz. Das sperrige Wort circadian setzt sich aus dem lateinischen circa (ungefähr) und dies (Tag) zusammen. Körperfunktionen wie Herzschlag oder Schmerzempfinden folgen also ungefähr einem 24-Stunden-Rhythmus: Morgens schüttet der Körper die Stresshormone Adrenalin und Cortisol aus, damit wir aus dem Bett kommen. Herzfrequenz, Puls und Blutdruck steigen. Das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, ist deshalb statistisch gesehen zwischen zehn und zwölf Uhr am größten. Und am frühen Nachmittag, gegen 15 Uhr, sinkt das Schmerzempfinden auf einen Tiefpunkt.

Obwohl Wissenschaftler seit den 1980er Jahren die Wirkung von Licht auf den Menschen erforschten, war lange unklar, wie die innere Uhr überhaupt gestellt wird. Erst im Jahr 2002 kamen britische und US-amerikanische Wissenschaftler einem lichtempfindlichen Rezeptor auf die Spur, der dem Gehirn signalisiert, dass die Sonne scheint. Auf der Netzhaut entdeckten sie spezielle Ganglienzellen, die keine visuellen Reize weiterleiten, sondern hauptsächlich auf blaues Licht von 460 Nanometern Wellenlänge reagieren. Wird das in den Ganglienzellen enthaltene lichtempfindliche Protein Melanopsin angeregt, sendet der Rezeptor einen Reiz an den sogenannten Suprachiasmatischen Nucleus (SCN). Diese zwei reiskorngroßen Gehirnkerne sind die Schaltzentrale der inneren Uhr. »Wie ein Dirigent stimmt der SCN das Orchester aus Organen, Zellen und Genen aufeinander ab und gibt ihnen den Takt vor«, sagt Kunz. Blaues Licht unterdrückt dabei die Ausschüttung des Müdigkeitshormons Melatonin, das nachts - wenn es dunkel ist - produziert wird. Fehlt das Melatonin, werden wir wach und aufmerksam. Neben unseren Genen ist Licht also der entscheidende Taktgeber für unsere innere Uhr. Werden die Tage kürzer, geht der menschliche Organismus in den Energiesparmodus über. Forscher vermuten, dass sich Menschen, die über Winterdepressionen klagen, schlechter an die kurzen Wintertage anpassen können und ihre innere Uhr aus dem Takt gerät. Zudem könnten die melanopsinhaltigen Ganglienzellen der Betroffenen weniger lichtempfindlich sein, wodurch sie stärkere und längere Lichtreize brauchen.

Werden schon depressive Menschen von ihrem Umfeld oft als Hypochonder stigmatisiert, trifft dies erst recht auf Menschen zu, die unter einer Winterdepression leiden. Schlimmer noch: Viele Betroffene nehmen ihre Depression selbst gar nicht als Krankheit wahr, sondern halten sie für einen Teil ihrer Persönlichkeit. »Sie empfinden ihre Niedergeschlagenheit im Winter als völlig normal, da ihnen das Wissen um die biologischen Ursachen einer SAD fehlt«, sagt Kunz. Die Folge: Trotz Leidensdruck gehen die Betroffenen nicht zum Arzt, obwohl dieser ihnen leicht helfen könnte.

»Winterdepressionen müssen niemals mit Medikamenten therapiert werden«, sagt Chefarzt Kunz. Stattdessen bedient sich die Medizin eines kleinen Tricks: Sie gaukelt dem Körper vor, es wäre Sommer - mit der Lichttherapie.

Dazu setzen Mediziner besonders leistungsstarke, mit bis zu 10 000 Lux leuchtende Lampen ein. Die Therapiegeräte gibt es für den Klinik- oder Praxisgebrauch, aber auch für die Anwendung zu Hause. Geräte für den Hausgebrauch sollten eine möglichst große und gleichmäßig helle Leuchtfläche haben und mit mindestens 2500 Lux beleuchten - je heller, desto besser. Aber auch die Farbe des Lichts, die sogenannte Farbtemperatur, ist entscheidend. Um dem Sonnenlicht möglichst nahe zu kommen, werden sogenannte tageslichtweiße Lampen verwendet. Ihre Farbtemperatur beträgt etwa 6500 Kelvin - das entspricht dem Tageslicht um 12 Uhr mittags.

Am besten wirkt die Lichttherapie morgens zwischen sieben und zehn Uhr - das bringt den Körper in Schwung und signalisiert der inneren Uhr trotz trüben Wetters, dass der Tag begonnen hat. Abends hingegen könnte die Lichtdusche zu Schlafstörungen führen, da die Produktion des Schlafhormons Melatonin unterdrückt wird. Bei einer Ausleuchtung von 10 000 Lux genügt bereits eine halbe Stunde Lichttherapie am Tag. »Während der Lichttherapie kann man in Ruhe frühstücken oder Zeitung lesen«, sagt Kunz. Denn es genügt, alle paar Minuten in die Lampe zu schauen.

Ein bis zwei Wochen Lichttherapie sind meist ausreichend, um die Produktion des stimmungsaufhellenden Botenstoffs Serotonin wieder anzukurbeln. Außerdem hemmt der blaue Lichtanteil die Melatoninausschüttung, die Müdigkeit schwindet. »Wenn die Lichttherapie nicht anschlägt, dann ist es keine Winterdepression«, sagt der Chefarzt. Dann könnte es sich um eine »echte« Depression handeln, deren Ursachen ein Arzt auf den Grund gehen sollte.

Nebenwirkungen einer Lichttherapie seien bisher nicht bekannt. Trotzdem rät Chefarzt Kunz, der eigenen Intuition zu vertrauen: »Wenn Sie sich unwohl fühlen, lassen Sie es besser sein.«

Obwohl der »IGeL-Monitor« - der im Auftrag des Medizinischen Diensts der Krankenkassen sogenannte individuelle Gesundheitsleistungen prüft - den Nutzen der Behandlung als »tendenziell positiv« bewertet, übernehmen die meisten Krankenkassen die Kosten einer Lichttherapie nicht. Die Begründung des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) verweist auf die Eigenverantwortung der Versicherten: »Wer an einer Winterdepression leidet, kann den Heilungsprozess auch auf natürlichem Wege unterstützen, nämlich durch regelmäßige Aufenthalte im Freien zu den Zeiten des maximalen Tageslichts.« Dabei, heißt es in der auf dem Portal igel-monitor.de veröffentlichten Stellungsnahme weiter, profitiere »man von den Vorteilen der Bewegung an der frischen Luft«. Dumm nur, dass im Winter die arbeitende Bevölkerung das Büro im Dunkeln betritt und im Dunkeln wieder verlässt. Aber das fällt wohl auch unter »Eigenverantwortung«.

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