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System ohne Mitte. Nach einem solchen Spiel ist da erst mal nur Leere. Das haben die Bayern in der DFB-Elf in diesem Jahr schon öfter erlebt.

© dapd

Unentschieden gegen Schweden: Wahn und Witz in der deutschen Nationalelf

Sie sind hoch talentiert, schießen wunderbare Tore und kombinieren sich in einen Rausch. Aber wenn sie auf Widerstand stoßen, finden die deutschen Nationalspieler keine passende Antwort. So lautet das Urteil über diese goldene Generation. Beim 4:4 von Berlin wurde es bestätigt. Über ein Remis, das mehr ist als ein verschenkter Sieg.

Mesut Özil besaß ein feines Gespür für die Bedeutung des Moments. Er und seine Mitspieler hatten zum Mittelkreis trotten müssen für einen Wiederanstoß, ein Gegentor war gefallen, ein weiteres. Özil wurde angespielt, er holte mit dem Fuß aus, weiter als eigentlich notwendig, und dann drosch er den Ball zurück in die eigene Abwehr. Herr Özil war wütend. Und sein Fuß sagte es den anderen. Zwei Gegentore in zwei Minuten. Zwei Gegenangriffe hatten die Schweden benötigt, um aus einem für sie aussichtslosen 4:0-Rückstand ein Ärgernis zu machen. Im Nachhinein war das vermutlich der Augenblick, in dem das WM- Qualifikationsspiel der deutschen Fußball- Nationalmannschaft gegen Schweden eine Wende nahm, die zwei Minuten zuvor noch undenkbar schien. Aber die Deutschen spürten die Gefahr immer noch nicht. Der von Özil etwas härter getretene Ball war so etwas wie das letzte Aufbäumen an diesem Abend, ihr letzter deutlich sichtbarer Gefühlsausbruch in diesem Spiel. Fortan ließ die Mannschaft den Untergang einfach über sich ergehen.

Großen Eifer zeigten die Nationalspieler erst wieder, als es zu spät war. Sie sprinteten von der Mittellinie zur Torlinie und gleich wieder zurück. Sie hielten das Tempo hoch und ließen nie nach. Aber da hatte sich das Olympiastadion schon weitgehend geleert. Lukas Podolski und André Schürrle spurteten unter der Anleitung eines Fitnesstrainers hin und her und her und hin. Es hatte die Anmutung eines Straftrainings, aber dafür hatten die beiden Nationalspieler definitiv zu wenig zu der Blamage von Berlin beigetragen. Der eine, Schürrle, hatte beim 4:4 gegen die Schweden gar nicht gespielt, der andere, Podolski, gerade mal fünf Minuten. Und überhaupt: Waren die Deutschen nicht schon gestraft genug?

Seit 1908 bestreitet die Fußball-Nationalmannschaft offizielle Länderspiele. Sie hat große Siege gefeiert, Titel gewonnen und auch ein paar bittere Niederlagen erlitten so wie vor elf Jahren beim 1:5 gegen England. Das Spiel hatte den deutschen Fußball damals in eine tiefe Sinnkrise gestürzt. Von seiner Wirkung her ist das Debakel gegen England mit der 4:4-Niederlage von Berlin durchaus vergleichbar. In ihrem 868. Länderspiel verspielte die Nationalmannschaft zum ersten Mal einen Viertorevorsprung – vor eigenem Publikum und gegen Schweden, einen Gegner, der zwar über eine gewisse physische Wucht verfügt, seit Jahrzehnten aber schon nicht mehr durch große Fußballkunst aufgefallen ist.

Anders als die neuen Deutschen. Eine Stunde lang verzückten sie das Publikum, sie spielten schön wie nie, und als Mesut Özil kurz nach der Pause das 4:0 erzielte, bahnte sich ein großes Fest an. Was die 73 000 Fans im Olympiastadion und 13 Millionen Fernsehzuschauer in der Folge erlebten, besaß eine historische Dimension: 1:4, 2:4, 3:4, 4:4 in 30 Minuten. „Fußball ist ein lustiger Sport“, sagte Schwedens Trainer Erik Hamrén.

Witz und Wahn lagen an diesem Abend nah beieinander. Als die deutschen Spieler eine gute Stunde nach dem Abpfiff aus dem Stadion strebten, machten sie einen eher verstörten als niedergeschlagenen Eindruck. Einige sagten gar nichts, ein paar wenige stellten sich den Fragen der Journalisten, Thomas Müller, der eigentlich immer gut gelaunte Münchner, rief nur: „Was soll man dazu sagen?“ Besser konnte man die allgemeine Stimmung eigentlich nicht wiedergeben.

Der Löw-Elf bringt den Gegner selbst wieder ins Spiel.

Dieser seltsame Berliner Abend hat viele Fragen zurückgelassen. Die beiden drängendsten lauten: Wie konnte es dazu kommen? Und: Was wird dieses Spiel mit der deutschen Mannschaft anrichten? Auf beide gibt es fürs Erste keine befriedigenden Antworten. „Ganz ehrlich: Ich finde im Moment keine Erklärung dafür“, sagte Bundestrainer Joachim Löw. „Es ist relativ schwierig, das richtig einzuordnen.“

In der ersten Stunde des Spiels waren Kombinationen zu sehen, so schön und schnell, wie es sie in der Geschichte des deutschen Fußballs vielleicht noch nie gegeben hat. Dem zweiten Tor von Miroslav Klose gingen sieben Stationen voraus, an denen die deutschen Spieler nur je einmal den Ball berührten. Aber welche Rolle spielt das noch? Die Zuschauer im Olympiastadion pfiffen, als der Schiedsrichter das Spiel beendete. „Wenn man 4:0 führt und das Spiel geht 4:4 aus, dann ist irgendwas falsch gelaufen“, sagte Kapitän Philipp Lahm. Die Nationalmannschaft war aus den höchsten Höhen zu Boden gestürzt, sie hatte den Preis für ihre Kunst bezahlt, und es war ein verdammt hoher. Dieses Spiel nicht zu gewinnen, „das ist normalerweise nicht möglich“, sagte Löw.

Bevor der Bundestrainer im ARD-Studio auftauchte, war er kurz bei der Mannschaft in der Kabine. Die Spieler lagen auf dem Boden, kauerten auf ihren Bänken, niemand sprach ein Wort. Löw selbst kam sich vor wie schockgefroren. Er wirkte verhuscht wie selten, redete leise wie nie, und man sah ihm an, wie es in ihm arbeitete. „Im Moment ist es auch schwierig zu sagen, woran es liegt, dass wir so viele Fehler gemacht haben …“. Pause. Löw atmete ein. „Und äh …“ Wieder Pause. Seine Zungenspitze war kurz zu sehen, fast unmerklich bewegte er einmal den Kopf von links nach rechts. Dann schwieg er.

Eigentlich sollte das Duell mit Schweden, dem mutmaßlich stärksten Gegner der Qualifikationsgruppe, ein weiterer Schritt auf dem Weg der Rehabilitation werden. Mit dem 6:1-Sieg in Irland hatten die Deutschen am Wochenende ein Stück verlorene Leichtigkeit zurückgewonnen. Die ganzen Debatten um das überzogene Verwöhnklima, um überforderte Führungsspieler und fehlenden Teamgeist wären mit einem Erfolg gegen die Skandinavier endgültig in den Hintergrund gerückt. Am Ende aber bestätigte der Spielverlauf nur die Urteile, die über diese Mannschaft seit der Niederlage im EM-Halbfinale gegen Italien gesprochen werden. In jeder Hinsicht. Eine Stunde lang zeigten die Deutschen, dass sie über wunderbar begabte Fußballer verfügen, die sich regelrecht in einen Rausch spielen können; aber es gehört eben auch zu dieser Mannschaft, dass sie sich in diesem Rausch manchmal selbst vergisst, dass sie aufkommenden Widerständen nichts entgegenzusetzen hat und dann in Schönheit stirbt, anstatt hässlich zu überleben. „Das sind Dinge, die ich schon nach der Europameisterschaft gesagt habe“, bemerkte Manager Oliver Bierhoff. „Wir dominieren unseren Gegner und machen dann häufig den Fehler, ihn durch Nachlässigkeiten wieder ins Spiel zu bringen.“

Es war der Mannschaft anzumerken, dass sie sich gegen die allgemeine Kritik beweisen wollte – auch wenn sie in ihrem Lernprozess manchmal arg angestrengt wirkte. Nach dem 3:0 lief der Torschütze Per Mertesacker Richtung deutsche Bank. Es war kein beherzter Sprint, sondern eher ein gemütlicher Dauerlauf, was daran liegen mag, dass dem Innenverteidiger in solchen Situationen die Erfahrung fehlt. Mertesackers letztes und bis dato einziges Länderspieltor liegt mehr als sieben Jahre zurück. Als er nun am Dienstagabend die Seitenlinie erreichte, standen dort sein Londoner Teamkollege Lukas Podolski und Benedikt Höwedes und reckten ihm die Fäuste entgegen. Doch an diesem Bild stimmte etwas nicht. Torjubel? Ersatzbank? Da war doch was. Es dauerte einen Moment, bis auch die anderen Ersatzspieler sich von ihren Plätzen erhoben und Mertesacker umringten. Es dauerte genau einen Moment zu lang.

Schweinsteiger weist als erster Spieler auf Verwerfungen innerhalb der Mannschaft hin.

Bastian Schweinsteiger, seinem Selbstverständnis nach so etwas wie der natürliche Anführer dieses Teams, hatte sich kurz vor dem Doppelspieltag der Nationalmannschaft über seine Beobachtungen während der EM ausgelassen. Bei deutschen Toren sei nicht die gesamte Ersatzbank aufgesprungen, hatte er geklagt – und damit als erster Spieler auf Verwerfungen innerhalb der Mannschaft hingewiesen. Gegen Schweden zeigte sich, dass das Team auch fußballerisch längst nicht so ein stabiles Gefüge ist, wie es die erste Stunde suggerierte. Als es nach dem Doppelschlag der Schweden zum 2:4 ernst wurde, schien die Mannschaft einfach zu zerbröseln. Das Spiel bewegte sich fast zwangsläufig auf das 4:4 zu. Dass der Treffer mit dem letzten Angriff fiel, war dann fast schon logisch.

„Beim 1:4 denkt man: Okay, noch ist nichts passiert“, sagte Philipp Lahm, mit dem zweiten Tor begann das große Zittern. Joachim Löw stand nach dem 2:4 von seinem Platz auf, er bewegte sich zur Seitenlinie und fuhr sich kurz mit der Zunge über die Oberlippe; nach dem dritten Gegentor, eine Viertelstunde vor Schluss, versuchte er beschwichtigend auf seine Mannschaft einzuwirken. Er ließ seine flache Hand auf und ab schwingen. Ruhig, ruhig, sollte das heißen. Aber von Ruhe war nichts mehr zu spüren. „Wir haben irgendwie die Ordnung nicht mehr herstellen können“, sagte Löw. „Wenn das Spiel in eine solche Phase gerät, ist es schwierig, von außen den richtigen Einfluss auszuüben. Das Spiel ist in den letzten Minuten irgendwie aus den Ufern gelaufen und war nicht mehr zu korrigieren.“

Der Impuls hätte aus der Mannschaft kommen müssen – aber er kam nicht, obwohl eine Menge Erfahrung auf dem Feld stand. Lahm bestritt sein 94. Länderspiel, Schweinsteiger sein 97., Mertesacker sein 84. und Klose sogar sein 126. Doch keiner durchbrach die üblichen Verhaltensmuster, die geradewegs ins Verderben führten. Anders als bei den Schweden, die sich an Zlatan Ibrahimovic aufrichteten. In der Pause hielt der Kapitän eine flammende Rede, und „auf dem Platz hat er die anderen Spieler gecoacht, wie es ein Kapitän tun muss, wenn es nicht läuft“, berichtete Trainer Hamrén. Bei den Deutschen bestand zur Pause kein Bedarf an aufmunternden Worten, doch als ihnen in der zweiten Hälfte das Spiel entglitt, gab es auf dem Feld niemanden, der auf die neue Herausforderung eine passende Antwort fand. Und neben dem Feld auch nicht.

Den Deutschen und ihrem Trainer Joachim Löw fehlt in solchen Situationen ein fußballerischer Plan B. Nicht einmal effizientes Zeitspiel beherrschen die Spieler. Zweimal versuchten es Lahm und Schweinesteiger, beide Male sahen sie Gelb wegen Spielverzögerung. Und als es unmittelbar vor dem 4:4 einen Freistoß schräg vor dem schwedischen Strafraum gab, flüchteten sich die Deutschen nicht etwa an die Eckfahne, um dort wertvolle Sekunden verstreichen zu lassen. Es dauerte zwei Ballberührungen, bis Manuel Neuer wieder im Spiel war. Der deutsche Torhüter drosch den Ball wie eigentlich immer in der zweiten Hälfte nach vorne – und weg war er.

Die Schweden erhielten eine letzte Chance, und es kam, wie es sich nicht einmal Erik Hamrén zur Pause erhofft hatte. Er wollte eigentlich nur, dass sich seine Mannschaft in der zweiten Hälfte mit Anstand und Moral den Deutschen entgegenstellt. „Du kannst ein Sieger sein, auch wenn du ein Spiel verlierst“, hatte Schwedens Trainer seinen Spielern gesagt. Die Deutschen machten am Ende die gegenteilige Erfahrung: Du kannst der Verlierer sein, auch wenn du eigentlich unentschieden gespielt hast.

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