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Gegen Larry Nassar laufen über 130 Anklagen. Der frühere Mannschaftsarzt der US-Turnerinnen soll sich an den Mädchen sexuell vergangenen haben.

© REUTERS

Sexueller Missbrauch im Sport: Wie Trainer und Ärzte ihre Macht ausleben können

Missbrauchsfälle im Sport gibt es auch hierzulande. Immer mehr Opfer melden sich. Das Problem sind häufig Abhängigkeitsverhältnisse.

Bettina Rulofs von der Sporthochschule Köln (DSHS) hat das, was mit den Mädchen auf der sogenannten Károlyi-Ranch in Texas geschehen ist, mit Bestürzung gelesen. Die Turnerinnen, darunter – wie jüngst bekannt wurde – die viermalige Goldmedaillengewinnerin Simone Biles, waren in dem Camp einem gnadenlosen Drill ausgesetzt. Das Training war brutal, Verletzungen wurden verharmlost, die jungen Sportlerinnen wurden unterjocht und vor allem: Viele von ihnen sollen sexuell von Teamarzt Larry Nassar missbraucht worden sein. Mehr als 130 Anklagen liegen gegen Nassar vor.

Rulofs sagt allerdings auch: „Überraschend kommt so etwas für mich nicht. Sexuelle Gewalt stellt im Sport genauso wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen ein bekanntes Problem dar.“ Die Wissenschaftlerin arbeitet an der DSHS am Institut für Soziologie und Genderforschung. Sie leitet und koordiniert zusammen mit Gitta Axmann das Projekt „Voice for truth and dignity“, das sich zum Ziel setzt, den Betroffenen von sexualisierter Gewalt im Sport eine Stimme zu geben.

Missbrauch im Spitzensport ist dabei kein exklusives US-amerikanisches Problem. „Hierzulande gibt es das auch, und es steigt auch die Zahl jener, die darüber sprechen wollen“, sagt Rulofs.

Als die Kölner Wissenschaftlerin vor zwei Jahren das Projekt startete, bekam sie zunächst kaum Rückmeldung. „Inzwischen ist das aber anders“, erzählt sie. „Aus sieben europäischen Ländern haben sich über 80 Personen, sowohl aus dem Leistungs- als auch dem Breitensport, bei uns und unseren Partnern gemeldet.“ Der Umgang mit sexualisierter Gewalt hat sich verändert. So hilft jeder bekannt gewordene Fall ist, die Sensibilisierung für das Thema zu erhöhen – umso mehr, wenn das Opfer die wohl bekannteste Turnerin auf der Welt ist.

„Auch ich bin eine von vielen Überlebenden, die von Larry Nassar missbraucht worden sind“, hatte Biles über verschiedene Kanäle mitgeteilt. „Je mehr ich versucht habe, die Stimme in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen, desto lauter hat sie geschrien.“ Irgendwann ist die Stimme in Biles Kopf offenbar so laut geworden, dass die 20-Jährige nicht mehr anders konnte, als über den Albtraum auf der Károlyi-Ranch zu reden.

Nassar droht eine Strafe von bis zu 125 Jahren Haft

„Ich finde es bemerkenswert, dass Simone Biles, die in der Öffentlichkeit eine so hohe Beachtung erfährt, den Mut gehabt hat, den Missbrauch an ihr publik zu machen“, sagt Rulofs. „Biles trägt damit zur Enttabuisierung der Thematik bei.“

Öffentlich bekannt werden Missbrauchsfälle an prominenten Sportlern in Deutschland aber immer noch selten. Größere Aufmerksamkeit hatte zuletzt das weltberühmte Fecht-Zentrum in Tauberbischofsheim erfahren. Mehrere Sportlerinnen berichteten von sexuellen Übergriffen eines Trainers. Die Staatsanwaltschaft ermittelt in dem Fall.

Stimmen im Kopf. Die viermalige Olympiasiegerin Simone Biles soll vom langjährigen US-Teamarzt Larry Nassar sexuell missbraucht worden sein.
Stimmen im Kopf. Die viermalige Olympiasiegerin Simone Biles soll vom langjährigen US-Teamarzt Larry Nassar sexuell missbraucht worden sein.

© dpa

Der Leistungssport ist unter bestimmten Voraussetzungen besonders anfällig für sexuellen Missbrauch. Vor allem dann, wenn er in einem abgeschotteten und autoritär geführten Umfeld stattfindet und die leitenden Trainer oder Ärzte als unverzichtbar gelten. Der Sportmediziner Nassar etwa galt als Koryphäe auf dem Gebiet der Rehabilitation. Auf der streng geführten und hoch isolierten Károlyi-Ranch hatte er bei den Verantwortlichen einen ausgezeichneten Ruf. Nassar war unabdingbar mit den großen Erfolgen der US-amerikanischen Turnerinnen verknüpft.

„Unsere Studien zeigen, dass bestimmte Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse Missbrauch befördern“, sagt Rulofs. „Wenn ein Trainer oder ein Teamarzt eine sehr hohe Reputation hat, wenn sein Umfeld ihm bedingungslos folgt und er als unverzichtbar gilt, kann diese Konstellation Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt begünstigen.“ Es sei im Sport wie anderswo auch: Eine Karriere könne vorbei sein, wenn man solch drastische Vorwürfe an eine vermeintlich unantastbare Instanz richte, sagt Rulofs: „Das macht es so schwierig, sexualisierte Übergriffe von Menschen in Autoritätspositionen aufzudecken.“

Vermutlich war es diese Unantastbarkeit, weshalb die mutmaßlichen Übergriffe von Nassar lange ungesühnt blieben. Inzwischen aber wurde der Mann wegen Kinderpornografie zu einer Haftstrafe von 60 Jahren verurteilt, wegen des massenhaften Missbrauchs von Turnerinnen droht ihm eine weitere Strafe von bis zu 125 Jahren Dauer.

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