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Sport als Paradedisziplin. Zum 1. Mai 1975 bedanken sich Sportlerinnen und Sportler des Berliner TSC bei ihrer Partei.

© Imago

Opfer des DDR-Sports: „Das war Sadismus der Trainer“

Es melden sich nicht nur immer mehr Opfer des DDR-Staatsdopings – ehemalige Sportlerinnen berichten auch von Gewalt und sexuellem Missbrauch.

Hurra, es gibt Apfelkuchen, warmen Apfelkuchen, mit Glasur! Zuzugreifen traut sich erst keines der Mädchen, denn seit wann gibt es hier Süßes? Die Rhythmischen Sportgymnastinnen der DDR-Nationalmannschaft müssen täglich mindestens einmal auf die Waage, haben zwischendurch Trinkverbot bei gleichzeitiger Einnahme von Entwässerungstabletten, und aus der Sauna dürfen sie in ihren Schwitzanzügen erst heraus, wenn die Trainer die Tür aufmachen. Und jetzt Apfelkuchen? Einige essen ein, zwei Stücke. Dann kommt der Nachschlag der Trainer: „Ab zum Dauerlauf!“ Beim Rennen sind die Körper überfordert. Eine nach der anderen stellt sich an den nächsten Baum, um den Apfelkuchen wieder herauszubrechen.

„Das war Sadismus der Trainer“, sagt Ines Geipel, die Vorsitzende des Vereins Doping-Opfer-Hilfe. Geschichten wie die der Sportgymnastinnen hören sie und ihre Mitarbeiterinnen im Verein in den vergangenen Monaten immer häufiger. Von jungen Turnerinnen, deren Kopf an die Wand geknallt wurde, weil sie den Anforderungen der Trainer nicht genügt hatten, von weggezogenen Beinen, sodass sie auf den Schwebebalken krachten. Und auch von sexuellem Missbrauch.

Dem Verein Doping-Opfer-Hilfe vertrauen sich die ehemaligen Sportlerinnen zunächst mit ihren gesundheitlichen Beschwerden an. Sie waren eingebunden ins staatlich angeordnete Dopingsystem der DDR, dessen medizinisch Verantwortlicher Manfred Höppner es damit rechtfertigte, dass es die hohen Trainingsbelastungen ertragen half. Unter diesen Dopinggeschichten brechen jetzt jedoch noch andere Leiden hervor.

"Jetzt kommen die richtig harten Fälle"

In einer ersten Runde sind knapp 200 Opfer des DDR-Staatsdopings finanziell entschädigt worden. Jetzt läuft die zweite Phase. Sie ist ausgelegt auf 1000 Geschädigte. Doch ins Dopingsystem waren weit mehr einbezogen. Der Verein Doping-Opfer-Hilfe drängt daher auch bei Bundesinnenminister Thomas de Maizière darauf, den Ende Juni auslaufenden Antragszeitraum zu entfristen.

Ines Geipel hatte befürchtet, dass unter den Antragsstellern einige Trittbrettfahrer sein würden. Doch sie habe sich getäuscht. „Jetzt kommen die richtig harten Fälle.“ In der Beratungsstelle des Vereins in Berlin suchen gerade Frauen Hilfe, die keine plausible Erklärung für schwere körperliche Schäden bekommen haben, für organische Leiden, starke Schmerzen, Depressionen. Susann Scheller zum Beispiel, DDR-Vizemeisterin in der Rhythmischen Sportgymnastik, glaubte ihre Vergangenheit einigermaßen aufgearbeitet zu haben. Doch dann tauchten bei ihr Symptome auf, die sich als posttraumatisch herausstellten. Bei der Suche nach einem Trauma stieß sie auf ihre sportliche Vergangenheit, vor allem im Zinnowitz, dem Trainingsort der Gymnastinnen. Inzwischen hat sie sich mit anderen Gymnastinnen von damals ausgetauscht, über Doping ( „die haben uns alles reingefeuert“) und Demütigungen. „Einige haben versucht, sich mit Glasflaschen die Gelenke auszukugeln oder sich den Arm zu brechen, um wenigstens mal ein paar Tage trainingsfrei zu haben“, erzählt Scheller.

Es geht eben nicht mehr um Doping allein. In einer Langzeitstudie hat unter anderem der Traumaforscher Harald Freyberger von der Uni Greifswald ermittelt, dass es in nahezu 20 Prozent der Fälle „zu Ereignisfolgen gekommen ist, die die Kriterien sexuellen oder gewaltbezogenen Missbrauchs durch Trainer und/oder Sportmediziner erfüllen“. Viele benötigten dringend psychotherapeutische Hilfe.

Untersucht werden auch die Folgen für die Kinder der Opfer

„Das Leben dieser jungen Menschen ist praktisch überschrieben worden“, sagt Geipel. Und die Opfer würden immer noch systematisch ignoriert. „In den Landessportbünden der neuen Bundesländer hat so gut wie keine Aufarbeitung stattgefunden. In den Ost-Medien hat es bis auf wenige Ausnahmen null Informationen über die Geschichten der Opfer gegeben“, beklagt Geipel. Das sei auch eine Erklärung, warum sich viele nicht geöffnet hätten.

Eine andere ist, dass sich manche ihre Kindheit nicht noch mehr kaputtmachen wollten. Zurückhaltend seien bisher vor allem Sportlerinnen und Sportler aus der zweiten Reihe gewesen. Diejenigen, die keine Medaille gewonnen haben. Kann ich wirklich vom Doping geschädigt sein, ich habe doch gar nichts gewonnen, lautet dann die Selbstanklage. Und wiederum andere öffnen sich erstmal den Ärzten, von denen sie die Dopingmittel bekommen haben. „Da greift das Stockholm-Syndrom“, sagt Geipel.

Wie es weiter geht? „Die Schadensbilanz wird von Tag zu Tag größer“, sagt Geipel. Wissenschaftlich untersucht werden sollen auch die Folgen für die Kinder der DDR-Dopingopfer. Da gibt es schon Fälle von schweren Erkrankungen und Missbildungen, von 130 geschädigten Kindern wisse man bislang. Doch die Robert-Havemann-Gesellschaft, die die Doping-Opfer-Hilfe bisher bei sich untergebracht hat, zieht bald aus ihren Räumen am Helmholtzplatz aus. Wenn sich nicht noch etwas tut, steht der Verein in vier Wochen ohne Beratungsstelle da.

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