zum Hauptinhalt
Charakterkopf. Es sah lange im Leben von Kevin-Prince Boateng nicht so aus, als könnte er ein Vorbild für andere sein.

© dpa

Kevin-Prince Boateng: Alles richtig gemacht

Als Kevin-Prince Boateng bei einem Fußballspiel in Mailand rassistisch beleidigt wurde, ging er einfach vom Platz, und seine Mannschaftskollegen folgten ihm. Das hat gewirkt und wirkt nach. Am Donnerstag sprach der Spieler vor der UN in Genf.

Er ist ein bisschen spät dran. Mit der Rede. Die ersten Gedanken hat er sich nach dem Frühstück gemacht, und dann ist auch der Genfer Verkehr dichter als erwartet, so dass sich das Publikum ein wenig gedulden muss in Saal XIX des Palais des Nations. Die Vereinten Nationen warten auf Kevin-Prince Boateng.

Es kommt nicht so oft vor, dass ein Fußballprofi auf der Rednerliste des Hohen Hauses steht. Jeder will sein Foto, jeder bekommt sein Foto. Boateng setzt sich in die Mitte des Podiums, gleich neben die Hohe Kommissarin für Menschenrechte, Navanethem Pillay, eine südafrikanische Juristin, die im Menschenbild der Apartheid ihren Platz in der Schublade „Mischlinge“ hatte. Während Frau Pillay ihre Begrüßungsworte abliest, taxiert Kevin-Prince Boateng die Menge, er richtet den Krawattenknoten, schaut auf die Uhr. Noch zwei Minuten.

Seit 1966, immer am 21. März, begehen die Vereinten Nationen einen internationalen Tag für die Beseitigung von Rassendiskriminierung. Das ist ein sperriger Begriff und ansonsten noch niemandem so richtig aufgefallen. Im letzten Jahr hieß der Stargast Jesse Jackson, er wollte mal der erste schwarze Präsident der USA werden, aber das findet sich auch nur noch in älteren Geschichtsbüchern. Der internationale Tag für die Beseitigung von Rassendiskriminierung war ein protokollarischer Pflichttermin. Bis nun ein Berliner dem Kampf ein Gesicht gegeben hat. Es ist ein dunkel pigmentiertes Gesicht mit einer tätowierten Krone, die sich vom Hals Richtung Hipster-Bärtchen schlängelt. Es ist das Gesicht von Kevin-Prince Boateng. Noch eine Minute.

Boateng ist am Tag zuvor aus Mailand eingeflogen, am Vormittag hat er den ghanaischen Botschafter besucht, das ist wichtig, denn er hat ja mal für Ghana Fußball gespielt, als die Deutschen ihn, den Jugendnationalspieler, nicht mehr wollten. Er trägt einen dunkelgrauen Anzug, weißes Hemd und Krawatte, das Haar ist an den Schläfen ausrasiert und in der Mitte ordentlich zurückgekämmt. Noch ein Griff zur Wasserflasche und zum Manuskript. Ladies and Gentlemen, Mr. Kevin-Prince Boateng!

Das Mikrofon streikt. Kurzes Rütteln. „Good Afternoon“, sagt Boateng. Die nächsten fünf Minuten gehören ihm. Er spricht über Malaria und Moskitos und Barack Obama und Muhammad Ali. Alles fügt sich wunderbar ineinander, und am Ende dieser fünf Minuten, so viel sei vorweggenommen, am Ende also wird sich jeder im Publikum fragen: Ist das wirklich Kevin-Prince Boateng? Das Ghetto-Kid aus dem Berliner Problembezirk Wedding, Deutschlands Staatsfeind Nummer eins für ein paar Wochen nach einem Tritt gegen den deutschen Fußballhelden Michael Ballack?

Am Sonntag hat er in Mailand noch Fußball gespielt. 2:0 gegen Palermo, beide Tore schoss Milans Afro-Italiener Mario Balotelli, der von sich sagt: „Wenn mich jemand auf der Straße mit einer Banane bewirft, würde ich ins Gefängnis gehen, weil ich denjenigen umbringen würde.“ Kevin-Prince Boateng hat ein ähnliches Problem ganz anders gelöst. Deswegen ist er am Donnerstag nach Genf gereist.

Die Geschichte des globalen Politpopstars Kevin-Prince Boateng begann am 3. Januar dieses Jahres in Busto Arsizio, einem Städtchen an der Mailänder Peripherie. Ein belangloses Testspiel gegen einen belanglosen Gegner mit einem nicht ganz so belanglosen Namen. Die Mannschaft Pro Patria hatte ein paar Fans mitgebracht mit sehr eigenwilligen Vorstellungen von der Liebe zum Vaterland. Junge Männer mit dunklen Jacken, Mützen und Schals. Immer wieder grunzten sie und johlten und stießen dumpfe Laute aus, wenn Boateng den Ball am Fuß hatte, und Boateng hatte den Ball sehr oft am Fuß. Irgendwann war es genug.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Noch ein Dribbling am linken Flügel, Haken nach rechts, einmal mit der Sohle über den Ball und dann – blieb er plötzlich stehen. Nahm den Ball in die Hand, drehte sich um und drosch ihn Richtung Publikum, er brüllte noch ein paar Worte hinterher, zog sich das Trikot über den Kopf und ging. Der Schiedsrichter versuchte ihn noch aufzuhalten, aber auf dem Fußballplatz hat sich Boateng noch von keinem aufhalten lassen. Seine Kollegen marschierten geschlossen hinterher. Das Spiel war aus. „Incredibile! Veramente incredibile“, japste der Fernsehreporter in sein Mikrofon. Einfach unglaublich!

In Genf läuft Boatengs Heldenstück noch mal als Video über die Leinwand. Der ganze Saal applaudiert, mal abgesehen von Kevin-Prince Boateng, denn der kann sich ja schlecht selbst feiern. „Das Größte war, dass alle meine Mitspieler mit mir zusammen den Platz verlassen haben“, sagt Boateng. „Das war eine gemeinsame Front gegen den Rassismus!“

Das spektakulärste Signal gegen alltäglichen Rassismus seit Tommie Smiths Olympiasieg

Olympische Spiele 1968: Bei der Siegerehrung für den 200m-Lauf der Männer demonstrierten Tommie Smith und John Carlos mit hoch gestreckten Fäusten für die Black-Power-Bewegung.
Olympische Spiele 1968: Bei der Siegerehrung für den 200m-Lauf der Männer demonstrierten Tommie Smith und John Carlos mit hoch gestreckten Fäusten für die Black-Power-Bewegung.

© dpa

Der spontane Spielabbruch von Busto Arsizio war das spektakulärste Signal gegen den alltäglichen Rassismus seit bald einem halben Jahrhundert. Seit der schwarzen Faust von Tommie Smith, aber wer kann sich daran noch erinnern? Der US-Amerikaner Smith hatte 1968 bei den Olympischen Spielen in Mexiko Gold im 200-Meter-Sprint gewonnen und die Siegerehrung mit seinem Landsmann John Carlos zu einer politischen Demonstration genutzt. Während die amerikanische Hymne lief, reckten Smith und Carlos die Fäuste in den Himmel, sie steckten in schwarzen Handschuhen, dem Symbol der Black-Power-Bewegung.

Doch die Welt von 1968 war eine andere. Die Zuschauer im Stadion pfiffen, Smith und Carlos mussten aus dem Olympischen Dorf ausziehen und Mexiko binnen 48 Stunden verlassen. Zu Hause erhielten sie Morddrohungen.

Auch Boatengs Manager Roger Wittmann befürchtete im ersten Augenblick: „Um Gottes Willen, jetzt geht der ganze Ärger wieder los!“ Wittmann wusste um Boatengs früher nicht immer vorbildlichen Ruf und trommelte sofort eine Task Force zur Schadensbegrenzung zusammen. Es ging dann wirklich los. Mit überwältigender Zustimmung, aus Italien, Europa und der ganzen Welt. „Wir sind alle Boateng. Wir sind schwarz wie er, schwarz im Gesicht, in der Seele, schwarz vor Wut“, hieß es in der „Gazetta dello Sport“, und Milans Patron, der frühere Ministerpräsident Silvio Berlusconi, ließ ausrichten: „Gute Arbeit!“

Das ist so selbstverständlich nicht in Mailand. Die Stadt ist kein einfaches Pflaster für Menschen mit stärker pigmentierter Haut. Für die Lombarden beginnt in Neapel schon Afrika. Umberto Bossi, ehemaliger Chef der Lega Nord, hat einige Irritationen provoziert mit dem Satz: „In Mailand gibt es Leute, die ein Leben lang gearbeitet haben, und keine Wohnung haben und dann geben wir sie dem ersten Bingo Bongo.“

In Bossis Weltbild wäre auch Kevin-Prince Boateng ein beliebiger Bingo Bongo, wenn er sich nicht so vorzüglich auf die Kunst des Fußballspielens verstehen würde. Vor den Vereinten Nationen steht einer, der als Kind seine Tricks in Gummistiefeln vorführen musste und jetzt von der Mailänder Gesellschaft umgarnt wird. Der die Schule mit dem Hauptschulabschluss beendete und jetzt neben Deutsch auch Englisch, Italienisch, Türkisch, Arabisch und Französisch spricht. Der den Stempel des nicht sozialisierbaren Weddinger Ghetto-Kids trug und jetzt weltweit als Vorbild für Charakter und Zivilcourage gilt.

Was unzählige und verkopfte Kampagnen mit Plakaten, Fernsehspots und salbungsvolle Botschaften ablesenden Fußballprofis nicht geschafft haben – Kevin-Prince Boateng ist es eher nebenbei geglückt. Weil er Mensch war und wütend und weil er einfach das gemacht hat, was er schon immer am besten konnte. Er hat den Ball im richtigen Augenblick in die richtige Richtung geschossen.

Das Palais des Nations liegt direkt am Genfer See und bietet eine grandiose Aussicht auf die französischen Alpen, bei wolkenlosem Himmel ist er noch ein bisschen grandioser. Saal XIX hat leider keine Fenster, aber mit jedem Wort da vorn auf dem Podium scheint ein bisschen mehr Sonne herein. Boateng beginnt langsam und nervös, er deklamiert auf Englisch, Allgemeinplätze: „Es ist 2013, und der Rassismus ist immer noch hier und real. Er kann auf der Straße gefunden werden, bei der Arbeit oder im Fußballstadion.“

"Es ist ein Fehler, wenn wir denken, dass Rassismus von allein weggeht"

Kevin-Prince Boateng ist nie ein Diplomat gewesen. Keiner, der den einfachen Weg wählt, wenn ihm der komplizierte besser gefällt. Auch sein Weg aus dem Wedding zum Weltklub AC Mailand war kein einfacher, kein geradliniger. Wenn er mit der Jugendmannschaft von Hertha BSC zu Spielen in den deutschen Osten fuhr, ist er oft genug beleidigt worden. Draußen haben ihn die Eltern seiner Gegenspieler bespuckt, und wenn ihm auf dem Platz einer dumm kam, hat Boateng ihm den Ball so oft durch die Beine gespielt, bis der andere irgendwann die Nerven verlor und zutrat.

In Genf ist es ist wie auf dem Rasen: Wenn die ersten Pässe ankommen, die ersten Dribblings gelingen, läuft alles wie von selbst. Schon nach einer Minute legt Boateng das nach dem Frühstück erstellte Manuskript zur Seite und redet so improvisiert, wie es seinem Spiel entspricht. Er erzählt von seiner Zeit in Ghana, es ist die Heimat seines Vaters, und Boateng hat für die Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft 2010 gespielt. Von der Malaria, „dagegen impfen sie sich in Ghana, aber ein Antibiotikum gegen die Krankheit Rassismus gibt es bis heute nicht“.

Die Kollegen haben ihm erzählt, dass es bei der Bekämpfung der Malaria nicht reicht, die Moskitos zu töten, „du musst den Sumpf austrocknen“. Boateng macht eine kurze Pause. Er fixiert die Kinder in den vorderen Reihen und betont jedes einzelne Wort: „Den Sumpf austrocknen – ich glaube, Malaria und Rassismus haben sehr viel gemeinsam.“

Erster, noch zaghafter Applaus regt sich in Saal XIX. Der Rest läuft wie von selbst.

Wahrscheinlich hätte Boateng noch lange weiterreden können, wie er früher den ganzen Tag Fußball gespielt hat mit den Kumpels in einem Drahtkäfig an der Panke. „Ich habe früher gedacht, dass ich es ignorieren kann, wenn ich rassistisch beleidigt werde. Heute weiß ich, dass wir einen Fehler machen, wenn wir denken, dass der Rassismus von allein weggeht.“ Und, ja, es habe Vorbilder für ihn gegeben. Nelson Mandela etwa, „ich habe ihn bei der Weltmeisterschaft in Südafrika kennengelernt und weiß jetzt, dass das Aufstehen gegen Rassismus nicht so gefährlich ist wie Passivität“. Und: „Ich glaube, die Tatsache, dass Barack Obama und ich dieselbe Hautfarbe haben und dass wir das tun, was wir tun, liegt vor allem an Muhammad Ali.“ Er schließt mit dem Satz: „Ladies und Gentlemen, helfen Sie mir, den Sumpf auszutrocknen.“

Jetzt trauen sie sich in Saal XIX, auch richtig laut zu applaudieren, vor allem die Kinder in den vorderen Reihen.

Boateng nimmt sich noch Zeit für ein Plauderstündchen. Geduldig beantwortet er alle Fragen, besonders gern die eines kleinen Jungen, dessen Haut ist so dunkel wie die von Kevin-Prince Boateng. Der Junge will wissen, was er denn machen solle, wenn ihn einer auf dem Platz als Neger oder Affe oder Bastard beschimpft: „Ganz einfach: Erst gehst du zu den Mannschaftskameraden, dann zum Schiedsrichter, und wenn alles nichts hilft, dann gehst du vom Platz.“ Kurze Pause. „Und später setzt du dich dann hier vorne aufs Podium.“

Erschienen auf der Reportage-Seite.

Zur Startseite