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Der letzte Wurf. Diskurswerfer Robert Harting will nach der Europameisterschaft im August in Berlin zurücktreten. Foto: Hendrik Schmidt/dpa

© picture alliance / Hendrik Schmi

Interview mit dem neuen DLV-Präsidenten: „Leichtathletik ist ein kultureller Schatz“

Der neue Verbands-Präsident Jürgen Kessing über die schwindende Bedeutung der Sportart, Dopingprobleme und den Abtritt der großen Stars

Herr Kessing, welche Beziehung haben Sie zum Sport und vor allem zur Leichtathletik?

Leichtathletik ist eine große Leidenschaft von mir. Ich war als Jugendlicher auf dem Sprung zum Spitzensportler, habe im Stabhochsprung vier Meter übersprungen und war auch ein guter Zehnkämpfer. Zu Deutschen Meisterschaften hat es nicht gereicht, aber ambitioniert war ich schon. Später habe ich dann den A-Trainerschein Sprung gemacht. Mein Interesse für die Leichtathletik hat bis heute nicht nachgelassen.

Trotzdem gelten Sie als Neuling in der Szene. Funktionäre auf einer solchen Ebene haben im Sport fast ausschließlich Stallgeruch. Sie aber nicht, Sie sind seit 2004 Oberbürgermeister von Bietigheim- Bissingen. Wie sind Sie zu dem Amt des DLV-Präsidenten gekommen?

Nun ja, ich habe meine Kontakte in die Sportwelt, es war aber nicht so, dass ich mich aktiv darum bemüht habe. Ich bin von Verbandsseite aus gefragt worden. Ich finde, dass es durchaus ein Vorteil sein kann, eben keinen Stallgeruch zu haben. Der Blick auf die Dinge ist unvoreingenommener und im besten Fall kann ein externer Blick für Ideen sorgen, auf die langjährige Funktionsträger nicht kommen.

Bestimmende Themen der Leichtathletik waren zuletzt Doping, Korruption, Zuschauerrückgang und in Deutschland auch die eher mauen Ergebnisse bei großen internationalen Spitzensportveranstaltungen. Was reizt Sie an dem Amt?

Ich finde, dass Sie ein sehr negatives Bild von der Leichtathletik zeichnen. Nehmen wir doch einmal die Weltmeisterschaft im vergangenen Jahr in London. Das Interesse der Zuschauer an der Veranstaltung war weltweit und auch in Deutschland sehr groß. Das Speerwurf-Finale im ZDF etwa verfolgten in der Spitze 6,7 Millionen Zuschauer. Ein paar Tage zuvor hatte der Sender das Supercup-Finale zwischen Real Madrid und Manchester United übertragen, die Quote bei diesem Spiel war deutlich geringer. Was die anderen Punkte, Doping oder Korruption angeht, ist natürlich vieles im Argen. Aber ich wehre mich dagegen, die Leichtathletik nur mit negativen Begriffen zu besetzen.

Dennoch: Leichtathletikmeetings sind ökonomisch höchst riskant geworden, nicht selten wird von den Veranstaltern am Ende ein Defizit bilanziert und immer deutlicher ist zu erkennen, dass sich die Leichtathletikwettkämpfe ohne staatliche Subventionen an einem freien Sportmarkt nicht bewähren können. Was muss anders werden?

Es gibt viele Überlegungen, wie man die Leichtathletik attraktiver machen kann. Ein Kernpunkt ist sicherlich, dass das Programm gestrafft werden muss. Und das wird teilweise ja auch schon praktiziert. Ein Event von acht Stunden schaut sich kaum mehr jemand an. Wir müssen schon darüber nachdenken, wie die Leichtathletik noch präsenter und attraktiver wird. Berlin fliegt! ist zum Beispiel eine super Veranstaltung. Bei den vielen Vorschlägen, die jetzt gemacht werden, sollte aber darauf geachtet werden, den Wesenskern der Leichtathletik beizubehalten. Wir sollten das Rad nicht neu erfinden wollen.

Welche Aufgabe kommt Ihrer Meinung nach den öffentlich-rechtlichen Sendern in der Stärkung von Sportarten wie der Leichtathletik zu?

Ich weiß, dass die Öffentlich-Rechtlichen gerne für die mangelnde öffentliche Wahrnehmung vieler Sportarten verantwortlich gemacht werden. In der Leichtathletik kann man sich darüber nicht so sehr beklagen. Wir würden natürlich gerne noch mehr Sendezeiten bekommen, aber so schlecht ist es nicht. Die Leichtathletik ist neben dem Fußball eine der wenigen Sportarten, deren Live- Events regelmäßig gezeigt werden.

Eine mögliche Reform der Leichtathletik-Rekordlisten wird nach dem heftigen Widerstand einiger Athleten offenbar weniger radikal ausfallen als ursprünglich geplant. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Ich denke, es genügt, die Rekorde, die vor 1991 aufgestellt worden sind, zu streichen und nicht wie ursprünglich beabsichtigt schon jene vor 2005. Der Ost-West-Konflikt übertrug sich leider auch auf den Sport. Systemkämpfe fanden mit unlauteren Mitteln in Sportarenen statt. Das heißt natürlich nicht, dass heute nicht mit unlauteren Mitteln in der Leichtathletik gekämpft wird. Aber die Dimension zu Zeiten des Kalten Krieges waren noch einmal andere. Von daher begrüße ich es sehr, dass diese Rekorde auf Anregung des Europäischen Leichtathletik-Verbandes EAA gestrichen werden sollen.

Wo wir gerade beim Thema sind: Wie bewerten Sie den Ausschluss des russischen NOKs für die Olympischen Spiele in Pyeongchang?

Ich bin immer noch der Meinung, dass es einen Komplettausschluss für Russland hätte geben müssen. Im Gegensatz zur Leichtathletik-WM in London, wo gerade mal 19 russische Athleten am Start waren, werden in Pyeongchang sehr viele dabei sein und – was man hört – bei der Abschlussfeier auch unter eigener Flagge auflaufen. Das ist kein gutes Signal im Kampf gegen Doping. Der Umgang mit Russlands Sportverbänden nach Bekanntwerden des systematischen Dopings hat wenig abschreckende Wirkung auf andere Länder. Gleichwohl ist auch klar, das nicht nur in Russland gedopt wird.

Was läuft falsch im Kampf gegen Doping, national wie international?

Ich denke, national läuft nicht so viel falsch. Die Nationale Anti-Doping Agentur Nada arbeitet gut, auch wenn man sich mehr finanzielle und personelle Mittel für den aufwendigen Kampf gegen Doping wünscht. Das Problem ist eher, dass es international krasse Unterschiede in Bezug auf das Kontrollsystem gibt. Meine Idealvorstellung ist, dass alle einheitlich die Wada-Codes einhalten. Aber davon sind wir aus globaler Sicht weit entfernt.

Zu den Strukturen im Deutschen Leichtathletik-Verband : Ihr Vorgänger Clemens Prokop scheiterte bei der Installierung von mehr Hauptamtlichkeit im Verband. Werden Sie seine Pläne weiterverfolgen?

Ich muss mir erst noch ein genaueres Bild von der Strukturen machen. Aber klar ist: Je mehr Hauptamtlichkeit, desto mehr Professionalität. Der Haken an mehr Hauptamtlichkeit ist, dass das auch viel Geld kostet. Aber wenn es machbar ist, würde ich gerne die Pläne meines Vorgängers weiterverfolgen.

Wie steht es Ihrer Meinung nach um die deutschen Spitzenathleten? Die Bilanz bei der WM in London war bescheiden.

Jürgen Kessing (60) ist SPD-Politiker und seit 2004 Oberbürgermeister von Bietigheim-Bissingen. Im November 2017 wurde er zum Präsidenten des Deutschen Leichtathletik-Verbandes gewählt.
Jürgen Kessing (60) ist SPD-Politiker und seit 2004 Oberbürgermeister von Bietigheim-Bissingen. Im November 2017 wurde er zum Präsidenten des Deutschen Leichtathletik-Verbandes gewählt.

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Das sehen Sie so. Ich finde, dass die Bilanz mit einmal Gold, zweimal Silber und zweimal Bronze gut war. Und wichtiger als die Medaillen ist für mich, wie sich die deutschen Athleten bei der WM in London präsentiert haben: Auf der Laufbahn als faire Sportsleute und vor der Kamera als sympathische, authentische Persönlichkeiten. Die deutsche Leichtathletik hat dabei ein sehr gutes Bild abgegeben.

Sehen Sie nach dem Abgang von Usain Bolt und dem bevorstehenden von Robert Harting überhaupt noch Lichtfiguren in der Leichtathletik?

Es stimmt, beide sind prägende Figuren der Leichtathletik. Aber ich mag es nicht, wenn sich alles auf ein paar wenige Sportler fokussiert. Das reicht nicht, damit die Leichtathletik vorankommt. Die Leichtathletik ist vielfältig, was die Disziplinen betrifft, aber vor allem, was die Athleten angeht. Wir haben auch in Deutschland viele junge Talente mit Potential.

Auf der Agenda von Ihrem Vorgänger waren kritische Themen, vor allem der Kampf gegen Doping. Was sind Kernthemen, die Sie angehen wollen?

Ein Anliegen von mir wird sein, stets daran zu erinnern, dass die Leichtathletik ein kultureller Schatz ist, für den wir Tag für Tag gemeinsam kämpfen müssen. Die Leichtathletik ist eine Kernsportart, wer laufen, wer springen, wer werfen kann, schafft elementare körperliche Grundlagen. Das muss bewahrt werden.

Das Gespräch führte Martin Einsiedler

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