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Akribischer Taktiker. Unter Christian Prokop geht es bei den deutschen Handballern ein bisschen weniger hippiesk zu als bei seinem Vorgänger Dagur Sigurdsson.

© Guido Kirchner/dpa

Handball-Europameisterschaft: Für Bundestrainer Christian Prokop zählt nur der Titel

Christian Prokop steht vor seinem ersten großen Turnier als Handball-Bundestrainer. Viel Zeit, um sich an die neue Rolle zu gewöhnen, hat er nicht.

In letzter Zeit ist es ruhig geworden um Martin Heuberger, sehr ruhig sogar. Seitdem der ehemalige Handball-Bundestrainer wieder seinem erlernten Beruf im Landratsamt des Ortenaukreises in Baden-Württemberg nachgeht, sind keine sportlich relevanten Statements von ihm überliefert. In der ersten Januarwoche, also kurz vor dem Beginn der Europameisterschaft in Kroatien (12. bis 28. Januar), hat sich Heuberger nun allerdings zu Wort gemeldet und aus seinem reichhaltigen Erfahrungsschatz als Assistent Heiner Brands und Cheftrainer berichtet. Ein Kernsatz ist dabei besonders in Erinnerung geblieben. „Als Bundestrainer kriegt man keine Zeit, sich ein, zwei Jahre zu akklimatisieren“, sagte der 53-Jährige, „am Schluss zählt schon die Platzierung.“ Genau daran ist Heuberger – bei aller Kompetenz und Wertschätzung – in seiner Zeit als Bundestrainer schließlich gescheitert.

Christian Prokops praktische Erfahrungen als oberster Handballlehrer des Landes sind nach acht Monaten im Amt noch recht überschaubar. Aus diesem Grund dürfte er die Aussagen seines Vor-Vorgängers auch mit großem Interesse zur Kenntnis genommen haben. Für Prokop beginnt in dieser Woche nämlich der erste richtige Stresstest im neuen Job. Wenn die Handball-Nationalmannschaft am Samstag in Zagreb mit ihrem Auftaktspiel gegen Montenegro in die Europameisterschaft startet, ist das zugleich der Auftakt in einen für den Deutschen Handball-Bund (DHB) wichtigen Zyklus: 2019 findet die Weltmeisterschaft in Deutschland und Dänemark statt – und für die Olympischen Spiele 2020 in Tokio hat der Verband bereits vor einigen Jahren das perspektivische Ziel ausgegeben, um die Goldmedaille mitzuspielen. Prokop, der sich beim SC DHfK Leipzig einen Namen machte und 2016 zum Bundesliga-Trainer des Jahres gewählt wurde, besitzt einen bis 2022 gültigen Vertrag. Wenn also nicht alles schiefläuft, wird er das junge und hochtalentierte Team des amtierenden Europameisters durch diese sportlichen Höhepunkte führen dürfen.

Das deutsche Team ist in guter Frühform

Prokop tritt zweifellos ein schweres Erbe an. Unter seinem Vorgänger, dem Isländer und ehemaligen Füchse-Trainer Dagur Sigurdsson, spielte sich die deutsche Mannschaft nach entbehrungsreichen Jahren zurück in die Weltspitze. Bei der letzten Europameisterschaft in Polen überrumpelten die „Bad Boys“ das internationale Handball-Establishment und krönten eine irre Erfolgsgeschichte mit dem Titelgewinn, den ihnen kaum jemand zugetraut hätte. Ex-Nationalspieler Stefan Kretzschmar sprach von einem „modernen Märchen, das ist mit das Verrückteste, was ich im Sport erlebt habe“. Umso krasser war die Fallhöhe, als sich Deutschland ein Jahr später, bei der WM 2017 in Frankreich, im Achtelfinale blamierte und wie schon 2015 gegen Katar ausschied.

Wenn Trainer fliegen. Dank Dagur Sigurdsson (oben) starten die Deutschen bei der EM in Kroatien als Titelverteidiger.
Wenn Trainer fliegen. Dank Dagur Sigurdsson (oben) starten die Deutschen bei der EM in Kroatien als Titelverteidiger.

© Stanislaw Rozpedzik/dpa

Was ist nun also zu erwarten von Prokop, dem mit 39 Jahren jüngsten Bundestrainer der Geschichte? „Christian hat schon eine ganz andere Herangehensweise als Dagur“, sagt der Potsdamer Alexander Haase, der bereits unter Sigurdsson als Co-Trainer gearbeitet hat und nun Prokop assistiert. „Aber das ist ja auch völlig normal, Menschen sind nun mal unterschiedlich.“ Unter Sigurdsson herrschten im Nationalteam beinahe hippieske Verhältnisse: Am Tag vor dem nächsten Spiel ließ der Isländer regelmäßig USB-Sticks mit individuellen Tipps und Hinweisen verteilen. Wenn sich die Spieler mit dem Material beschäftigt hatten, war Freizeit angesagt. Überhaupt ließ Sigurdsson seine Jungs stets an der langen Leine; es gab kaum Ausgehsperren oder strenge Regeln. „Dagur hat uns einfach machen lassen, weil er wusste, dass er sich auf alle verlassen kann“, sagt Nationaltorhüter Silvio Heinevetter. „Christian ist da ein bisschen strenger.“

Prokop gilt als extrem akribischer Taktiker mit ausgeprägtem Hang zur Videoanalyse. Wie taktisch versiert er sein kann, zeigten Leipzigs Bundesliga-Handballer unter seiner Verantwortung in verlässlicher Regelmäßigkeit. Beim SC DHfK schaffte es Prokop, eine Mannschaft zu formen, die meistens besser war als die Summe ihrer Einzelspieler – ein Grund dafür, dass sich der DHB nach Sigurdssons plötzlichem Wechsel nach Japan um die Dienste des gebürtigen Kötheners bemühte. Auch in den Testspielen vor dem EM-Start präsentierte sich das deutsche Team in sehr ordentlicher Frühform.

„Wir sind gerade dabei, die Feinheiten in den Abwehr- und Angriffssystemen einzustudieren“, berichtet Co-Trainer Haase aus dem Vorbereitungstrainingslager in Stuttgart. „Da haben wir vielleicht noch ein wenig Nachholbedarf, aber grundsätzlich gehen wir optimistisch in die EM. Ich habe ein gutes Bauchgefühl.“ In seiner Funktion als Co-Trainer muss Haase allerdings auch nicht solch komplizierte und bisweilen unpopuläre Entscheidungen treffen wie sein Vorgesetzter.

Prokop streicht vier Europameister

Neben den hohen Erwartungen hat Christian Prokop von Dagur Sigurdsson noch etwas anderes geerbt: einen außerordentlich gut besetzten Kader. Im Grunde verfügt er auf jeder Position über mindestens zwei gleichwertige Spieler, zumal vor der EM keine Kandidaten über ernsthafte Verletzungen klagen. Für das Turnier in Kroatien konnte Prokop allerdings nur 16 Spieler nominieren. Am Sonntag strich er die Europameister Finn Lemke (MT Melsungen), Rune Dahmke (THW Kiel) und Fabian Wiede von den Füchsen Berlin aus seinem Aufgebot für das Turnier in Kroatein, dazu Marian Michalczik (GWD Minden). „Wir haben uns für 16 Spieler entschieden, nicht gegen vier“, sagte Prokop. „Das waren harte Entscheidungen.“

Überdies wird es interessant zu sehen sein, wie der neue Bundestrainer mit den Drucksituationen im Laufe eines Turniers umgeht. Der größte Unterschied im Vergleich zu seiner Tätigkeit als Vereinstrainer besteht darin, alle zwei Tage einen taktisch guten Plan gegen die international starke Konkurrenz ausarbeiten zu müssen; in der Bundesliga hatte er dazu meist ein paar Tage mehr Zeit. „Vor allem müssen wir uns darauf einstellen, dass wir von den anderen Teams anders wahrgenommen werden als noch vor zwei Jahren“, sagt Haase, „aus der Underdog-Rolle sind wir jedenfalls raus.“ Tatsächlich zählen die Deutschen neben Gastgeber Kroatien, Weltmeister Frankreich, Vizeweltmeister Norwegen und den traditionell starken Spaniern und Dänen zum Favoritenkreis auf den Turniersieg. „In der absoluten Weltspitze sind die Teams allerdings so ausgeglichen, dass jeder jeden schlagen kann“, sagt Haase, „deshalb ist es auch schwer, vor dem Turnier eine Prognose abzugeben.“

So oder so wird Martin Heuberger Recht behalten. Prokop steht ab Samstag, wenn die EM-Spiele im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu sehen sein werden, unter ganz besonderer Beobachtung.

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