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Innensicht auf die Tribünen des Wembley-Stadions.

© dpa

Champions-League-Finale in Wembley: Kathedrale und Herz des Fußballs

Wembley und die Deutschen: Das Stadion in London, in dem das Champions-League-Finale zwischen Borussia Dortmund und dem FC Bayern München ausgetragen wird hat schon häufig eine bedeutende Rolle für den Deutschen Fußball gespielt.

Ah, Wembley… So ein Spaziergang am Abend ist ein beeindruckendes Erlebnis. Wenn ein Fußballspiel ansteht im Nordwesten Londons, hinter dem pakistanischen Fleischer, der somalischen Konditorei, dem iranischen Supermarkt. Wenn der Mond aufgeht und über dem Stadion der 133 Meter hohe Bogen leuchtet.

Sir Norman Foster hat das neue englische Nationalheiligtum gebaut. Es wurde 2007 eröffnet, war 1,4 Milliarden Euro teuer und soll auf ewig Britanniens Ruhm mehren. Wie schon sein Vorgänger, den Pelé einst adelte als „Kathedrale, Hauptstadt und Herz des Fußballs“.

Aber Patina gibt es nicht im Baumarkt. Das neue Stadion, in dem am Samstag Borussia Dortmund und Bayern München um die Champions League spielen, ist ein moderner Zweckbau aus Stahl, Glas und Beton. Viermal so hoch wie die alte, vor 13 Jahren abgerissene Arena. Früher genügten 39 Stufen, um die königliche Loge zu erklimmen. Heute sind es 107. Es gibt keine Windhundrennbahn mehr, und die berühmten Zwillingstürme sind nur noch auf Fotos zu bewundern. Was bleibt, ist der Geist des Ortes und der Mythos des Namens, vor allem für den deutschen Fußball. Wembley! Schauplatz großer Siege und einer großartigen Niederlage.

30. Juli 1966. Endspiel um die Fußball- Weltmeisterschaft zwischen England und Deutschland, es läuft die achte Minute der Verlängerung. Das finale Drama beginnt mit einem verunglückten Abschlag des deutschen Torhüters Hans Tilkowski. Der Ball fliegt sofort zurück, auf den rechten Flügel, in den Lauf von Alan Ball. Dessen Flanke stoppt Geoffrey Hurst mit der Innenseite des rechten Fußes, der Ball tippt auf den Rasen, drei, vier, fünf Mal, dann wuchtet der Engländer ihn gegen die Unterkante der Latte. Tor? Kein Tor? Schiedsrichter Gottfried Dienst ist sich nicht sicher und konsultiert seinen Assistenten Tofik Bachramow. Dessen Entscheidung ist bekannt, der zu diesem Zeitpunkt schon etwas senile Bundespräsident Heinrich Lübke hat sie so kommentiert: „Jeder hat gesehen, dass der Ball im Netz gezappelt hat!“

Wembley 1966: Die Deutschen werden nicht mehr als blutrünstige Krieger betrachtet

Schiedsrichter Dienst fügt sich und entscheidet auf Tor. 3:2 für die Engländer, am Ende gewinnen sie 4:2. Es ist der erste und bislang einzige große Turniersieg der ewigen Fußballnation, und er steht für alle Zeiten im Zeichen des Wembley- Tors, das doch gar keines war, wie später ausgewertete Kameraaufnahmen ergeben haben und auch der Schütze Hurst längst zugegeben hat.

Es gibt eine Fotografie von Uwe Seeler, wie er nach dem Spiel den Platz verlässt, flankiert von einem Polizisten und einem Musikanten, der gerade in seine Tuba bläst. Der deutsche Kapitän senkt den Kopf, erschöpft und traurig, aber keineswegs wütend auf eine vermeintliche Verschwörung. Die Deutschen nehmen die Niederlage sportlich, und das imponiert auch den Engländern. Wembley 1966 markiert einen Wendepunkt. Die Deutschen werden nicht mehr nur als blutrünstige Krieger betrachtet, sie können auch aufrichtig und anständig verlieren.

Seit diesem Finale ist Wembley für die Deutschen zumeist ein höchst vergnüglicher Ort gewesen. Die erste Revanche lässt knapp sechs Jahre auf sich warten, bis zum Viertelfinale der Europameisterschaft 1972, an dem Günter Netzer zum ersten Mal aus der Tiefe des Raums kommt. Die Geschichtsschreibung verklärt dieses 3:1, den ersten deutschen Sieg auf dem heiligen Rasen zu einem Triumph der Offensive. Das war er nicht. Eher trifft Franz Beckenbauers Urteil zu, die Deutschen hätten eine Leistung geboten, „bei der fast alles stimmte: die kämpferische Einstellung, das Kombinationsspiel, die Raumaufteilung und die Spielverlagerung“.

Moderner Fußball wird nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Kopf gespielt. In der finalen Viertelstunde lassen die Deutschen ihren Gegner ins Leere laufen und zeigen die Kunst des Konterfußballs. „L’Équipe“ schwärmt von „Traumfußball aus dem Jahr 2000“. Das Spiel ist ein Versprechen für die Zukunft: Erfolgreicher Fußball kann intelligent, und intelligenter Fußball kann auch schön sein.

Wembley 1996: Der Sieg gegen England im EM-Halbfinale und Möllers Sieger-Pose

Auch 24 Jahre später kommt es im Halbfinale der Europameisterschaft zum Duell der beiden Lieblingsfeinde. Im Elfmeterschießen setzt der Dortmunder Andreas Möller den entscheidenden Treffer und feiert ihn vor dem entgeisterten Publikum in der Pose eines eitlen Toreros. Dass die Deutschen vier Jahre später auch zum letzten Spiel vor dem Abriss in London gastieren, ist dem Spielplan der WM-Qualifikation geschuldet. Dietmar Hamann, er verdient sein Geld im Alltag beim FC Liverpool, drischt einen Freistoß zum 1:0 ins Netz. Ein paar Tage nach diesem allerletzten Tor im alten Wembley rollen die Bagger an.

Zur Einweihung des Neubaus fahndet der englische Fußballverband 2007 in der Öffentlichkeit nach einem Namen für die zum Haupteingang des Stadions führende Brücke, eine Zementkonstruktion, die auch dem Märkischen Viertel zur Ehre gereichen würde. Zehntausende deutsche Fans machen mit und verschaffen der „Didi-Hamann-Bridge“ zu einer überwältigenden Mehrheit, aber das ist auch für den britischen Humor zu viel. Die Brücke heißt heute White Horse Bridge. Reminiszenz an einen berittenen Polizisten, der beim ersten Spiel im alten Stadion für Ruhe sorgte unter den geschätzt 200.000 Zuschauern. Das war 1923. Am Samstag werden zum deutschen Champions-League-Finale immerhin 90.000 erwartet. Wenn hinter dem pakistanischen Fleischer, der somalischen Konditorei und dem iranischen Supermarkt der Mond aufgeht und der riesige Bogen über dem Stadion leuchtet.

Ah, Wembley…

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