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Wo die wilden Kerle jubeln: Im Stadion der Seattle Seahawks.

© Imago

Big Four – die US-Sport-Kolumne: Willkommen in der Dezibel-Hölle

In Seattle sind Begriffe wie "zwölfter Mann" oder "Heimvorteil" keine Plattitüden. Bei Heimspielen der Seahawks ist die direkte Einflussnahme der Zuschauer auf das Spielgeschehen offensichtlich – und vor allem hörbar.

Spätestens kurz vor dem Kickoff wissen die Gegner der Seattle Seahawks, was sie erwartet. Wenn über der markanten Nordtribüne im Century Link Field die große blaue Fahne mit der Zahl 12 gehisst wird, tritt er erstmals in Erscheinung: Der „Zwölfte Mann“.

Er besteht aus 67.000 fanatischen Fans, von denen so gut wie jeder beim Anblick des Banners brüllt so laut er kann, dazu auf den Boden stampft oder gegen die Begrenzungsbanden hämmert. Schon der Anblick dieser ausrastenden Masse, viele von ihnen bunt verkleidet in den Farben ihres Teams, als „Hulk“ oder mit Vogelkostüm, ist bedrohlich. Und unten auf dem Feld entsteht ein Lärmpegel, wie er sonst in keinem Stadion der National Football League (NFL) zu spüren ist. Dazu ist es meistens regnerisch und windig. Willkommen in Seattle.

Anders als in den meisten Fällen sind Begriffe wie „Zwölfter Mann“ oder „Heimvorteil“ in Seattle keine Plattitüden. Bei Heimspielen der Seahawks ist die direkte Einflussnahme der Zuschauer auf das Spielgeschehen offensichtlich. Denn die verbale Kommunikation zwischen dem Quarterback und seinen Spielern ist im American Football enorm wichtig. Jeder Spielzug wird einzeln abgesprochen und noch in den letzten Sekunden vor jeder Spieleröffnung werden wichtige Signale und letzte Änderungen an der Formation per Rufsignal ausgetauscht.

Der Dezibel-Rekord liegt in Seattle bei 137.6 – lauter als eine Kettensäge

Das Problem im Century Link Field von Seattle aber ist: Man versteht sein eigenes Wort nicht. Zumindest wenn die Gastmannschaft in der Offensive ist. 137.6 Dezibel ist die jüngst aufgestellte Rekordmarke dort. Das ist lauter als wenn man beispielsweise neben einem Waldarbeiter steht, der gerade mit einer Kettensäge einen Baum zerlegt.

Die Resultate sind konkret messbar, in Form von Strafen für die Gegner. In keinem anderen Stadion wird die Gastmannschaft derart häufig wegen Spielverzögerung oder Fehlstarts belangt. Immer wieder sieht man Quarterbacks in Hektik verfallen, während die letzten der 40 Sekunden, die man für die Vorbereitung eines Spielzugs hat, herunterticken.

Das Stadion wird so sehr gefürchtet, dass gegnerische Mannschaften spezielle Vorbereitungen treffen. Die New Orleans Saints ließen vor dem Playoff-Viertelfinale am vergangenen Wochenende das Logo der Seahawks auf ihren Trainingsplatz malen und Lautsprecher mit Stadionlärm am Spielfeldrand aufstellen, um die Bedingungen so gut wie möglich zu imitieren. Gebracht hat es nichts, auch sie hatten während der 15:23-Niederlage immer wieder Probleme, den Spielzug rechtzeitig zu eröffnen. In der zweiten Halbzeit zum Beispiel musste Quarterback Drew Brees mehrmals in letzter Sekunde eine Auszeit nehmen, um eine Strafe für Spielverzögerung zu vermeiden. Die Fans waren einfach zu laut.

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Als Brees dann in den Schlusssekunden seine Mannschaft doch noch einmal in aussichtsreiche Position gebracht hatte, konnte er keine Auszeiten mehr nehmen um die Uhr anzuhalten. Ein entscheidender Nachteil. Im Jahr 2005 kassierten die New York Giants einmal elf Fehlstart-Penalties in einem Spiel, Ligarekord. Die Giants beschwerten sich bei der NFL, die schickte beim nächsten Seahawks-Heimspiel eine Untersuchungskommission ins Century Link Field um zu überprüfen, ob möglicherweise künstlicher Lärm per Lautsprecher eingespielt wird. Das Ergebnis: negativ. Der Lärm war hundertprozentig natürlich.

Außer den Fans spielt auch die Stadion-Architektur eine wichtige Rolle

Die Liste an Beispielen ließe sich beliebig fortsetzen, auch San Franciscos Quarterback Collin Kaepernick, der in der Nacht zu Montag mit seinen 49ers zum Conference-Finale nach Seattle muss (Beginn 00.30 MEZ), hatte in seinen beiden bisherigen Auftritten im Century Link Field große Probleme, jeweils mehrere Spielverzögerungs-Strafen erhalten und offensiv nicht viel zu Stande gebracht. Die Spiele gingen klar an Seattle, 29:3 und 42:13.

Neben den Fans spielt auch die Architektur des 2002 eröffneten Century Link Fields eine entscheidende Rolle – und das ganz bewusst. Seahawks-Besitzer Paul Allen wollte damals ein lautes Stadion und das Team um Architekt David Murphy leistete ganze Arbeit. Die Grundfläche des Stadions ist kleiner als bei jeder anderen NFL-Arena, dadurch überlappt der Oberring den Unterring fast vollständig. Der steile Winkel der Tribünen sowie die beiden leicht geschwungenen Dachkonstruktionen sorgen dafür, dass der Lärm direkt aufs Spielfeld reflektiert wird. „Ich war vor Jahren mal dort bei einem NFC-Endspiel, und meine Ohren haben noch drei Tage danach gedröhnt“, erzählte Architekt Murphy der New Yorker Boulevardzeitung Daily News.

Das Century Link Field ist im wahrsten Sinne des Wortes bedrohlich. Als Seahawks-Running-Back Marshawn Lynch (Spitzname „Beast-Mode“) in den Playoffs 2009 gegen die New Orleans Saints in Dampfwalzen-Manier über die gesamte Saints-Defensive hinwegrollte und den spielentscheidenden Touchdown erzielte, brachte er damit das Stadion zum beben - und zwar buchstäblich: In der Nähe des Stadions schlug ein Seismometer aus, die schreienden und springenden Fans hatten ein kleines Erdbeben ausgelöst. Lynch’s legendärer 67-Yard-Lauf ging als "Beast-Quake" in die Football-Historie ein.

Ein weiterer Baustein für den Mythos des „12th Man“ von Seattle, wo die permanenten Lärmlawinen von den Rängen fester Bestandteil der Stadionrituals sind. Wer in Seattle zum Football geht, der hat bitteschön laut zu sein. Das Trikot mit der Nummer Zwölf, sonst eine der begehrtesten Rückennummern, die unter anderem von NFL-Topstars wie Tom Brady oder Aaron Rodgers getragen wird, wird in Seattle nicht mehr vergeben. Sie gehört den Fans.

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