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Nicht zu stoppen. Eliud Kipchoge gewann auch den Marathon bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro.

© AFP

Berlin-Marathon: Eliud Kipchoge - der Sieg ist ihm nicht genug

Eliud Kipchoge aus Kenia will beim Berlin-Marathon einen neuen Weltrekord laufen – und vielleicht sogar die Zwei-Stunden-Marke knacken.

Diese Frage brachte den sonst so einsilbigen weltbesten Marathonläufer dann doch in Wallung. „Halten Sie es für einen Erfolg oder nicht, einen Marathon in knapp über zwei Stunden zu laufen oder nicht?“, stellte Eliud Kipchoge am Freitag die rhetorische Gegenfrage. Die Frage, die ihn aus der Reserve gelockt hatte: Wie er mit dem Ergebnis des Monza-Experiments im Mai umgegangen sei. Ob es eine Enttäuschung war, dass er 25 Sekunden über der Schallmauer von zwei Stunden geblieben war – immerhin die schnellste jemals gelaufene Zeit über die Marathondistanz, auch wenn das Rennen auf der Formel-1-Strecke kein offiziell anerkannter Rekord ist, weil nicht mit den Regeln des Internationalen Leichtathletikverbands IAAF konform. Trotzdem unterbot Kipchoge den aktuellen Weltrekord um satte zweieinhalb Minuten. „Jetzt sind es keine Minuten mehr, die zur zwei-Stunden-Marke fehlen, sondern nur noch 25 Sekunden“, lautete deswegen sein Kommentar zum Experiment.

Was das für seinen Start beim Berlin-Marathon bedeutet? Einen neuen Weltrekord hält Kipchoge für möglich, wurden doch sämtliche Weltrekorde der vergangenen vierzehn Jahre in Berlin gelaufen. „Ich bin in der Form von Monza“, sagte er ebenso gelassen wie selbstbewusst. Wenn am Sonntag um 9:15 Uhr der Startschuss für die Eliteläufer fällt, haben der Kenianer und seine beiden Hauptkonkurrenten, der Äthiopier Kenenisa Bekele und der ehemalige Weltrekordhalter Wilson Kipsang, nicht nur das Ziel, wie vom Veranstalter eingeschätzt um 11:17 Uhr den Zielstrich am Brandenburger Tor zu überqueren. „Meine persönliche Lektion aus Monza: Ich weiß jetzt, was möglich ist“, sagt der ansonsten eher wortkarge Kipchoge und deutet damit an, dass er den Traum von der Eins vor der Endzeit nicht in Norditalien begraben hat.

Ein Jahr lang hatte sich Kipchoge auf Monza vorbereitet

Doch Berlin ist nicht Monza: Auf der Rennstrecke gab es keine 43 000 Hobbyathleten, keine wuselige Hauptstadt, keine Zuschauermassen an der Strecke – eher Ablenkungsfaktoren als Motivation für Kipchoge, der sich gerne auf sich selbst konzentriert und sein eigenes Tempo hält.

Am frühen Morgen des 6. Mai stand der 32-Jährige zusammen mit Halbmarathon-Weltrekordhalter Zersenay Tadese und Boston-Marathon-Gewinner Lelisa Desisa an der Startlinie der Formel 1-Strecke in Monza. Kipchoge stach in seinem leuchtend rot-orangen Top und den gleichfarbigen Ärmlingen in der Morgendämmerung besonders hervor. In den Tagen zuvor war nicht klar gewesen, wann genau der Versuch stattfinden würde, denn Wetterbedingungen und Temperatur mussten ideal sein für das generalstabsmäßig durchgeplante Experiment. Ob ihm diese Ungewissheit etwas ausmachen würde, wie er es mental verkraften würde, zu warten und nicht auf den einen Tag hintrainieren zu können, wurde Kipchoge damals gefragt. Er nahm es mit einem nonchalanten, fast verständnislosen Schulterzucken. „Meine Aufgabe ist, zu trainieren und mich fit zu halten. Wenn man mir sagt: Lauf!, dann laufe ich.“

Ganz so einfach war die Sache dann doch nicht: Ein Jahr lang hatte sich der dreifache Familienvater auf das Event vorbereitet. Normalerweise führt er ein mönchisches Leben im westkenianischen Dorf Kaptagat, wo er gemeinsam mit jungen kenianischen Athleten trainiert. „Meine Trainingsgruppe ist sehr wichtig“, sagt er. „Ohne sie wäre ich nichts.“ Von Montag bis Samstag ist er dort, läuft durch den Wald und kilometerweit über staubige Pisten oder misst die 400-Meter-Bahn beim Intervalltraining mit seinen langen Schritten aus. Crossläufe oder 10-Kilometer-Wettkämpfe, wie sie viele Langstreckenathleten als Leistungstests und Einnahmequelle bestreiten, mied er in den vergangenen Jahren.

Der Fokus sollte ganz auf der Marathondistanz liegen. Wegen des Projekts musste er aus dieser Routine ausbrechen, in Testzentren fahren, im Entwicklungslabor gemeinsam mit Designern und Wissenschaftlern an der richtigen Ausrüstung tüfteln, mit Sauerstoffmessmaske über die Tartanbahn sprinten. Neben zahlreichen Leistungstests, Kraftmessungen und Beratung durch Trainingswissenschaftler ließ Kipchoge auch seine Ernährung komplett umstellen. Nichts sollte in Monza dem Zufall überlassen werden.

In Berlin peilt Kipchoge 60:45 Minuten für die erste Hälfte an

Für Sponsor Nike war das Projekt ein wohlgeplanter Marketingcoup. Am Morgen des 6. Mai lief ihr Rennpferd in Monza los, am Mittag prangte Kipchoge schon auf der Webseite des amerikanischen Sportartikelherstellers. Der neue Superschuh mit dem nach Schnelligkeit schreienden Namen „Zoom Vaporfly Elite“ kam in abgewandelter Form auf den Markt. All die aufwendige und kostspielige Vorbereitung sollte ein vermeintliches Win-Win ergeben: Kipchoge würde als Legende in die Sportgeschichtsbücher eingehen und Nike könnte sich rühmen, die Schuhe entwickelt zu haben, die die zwei-Stunden-Schallmauer geknackt hätten.

Geschützt von seinen Tempomachern, die jede Runde wechselten, versuchte der Kenianer also in Monza, das mörderische Tempo von 2:50 Minuten pro Kilometer zu halten. Normalerweise lautet die Strategie für Elitemarathonläufer, in negativen Splits zu laufen. Das heißt, sie laufen die erste Hälfte langsamer als die zweite, um sich nicht komplett für das Finish zu verausgaben. Nicht so Kipchoge: Er lief von Anfang an auf voller Leistung. Ab Kilometer dreißig aber wurde die Lücke zu den Tempomachern manchmal etwas zu groß, er verlor Zeit, erst eine Sekunde, dann drei, bei Kilometer dreißig waren es dann fünf. Es sollte nicht reichen. Stoisch beantwortete er im Ziel die Fragen, beteuerte, er fahre trotzdem als glücklicher Mann wieder nach Hause.

„Ich bin jetzt in Berlin und konzentriere mich auf das Rennen hier“, sagt er jetzt, wenn man ihn auf Monza anspricht. Er scheint noch mehr Selbstbewusstsein gewonnen zu haben. Kipchoge gibt eine Zeit von 60:45 Minuten für die erste Hälfte des Marathon als realistisch an, was auf eine Endzeit knapp über zwei Stunden hinauslaufen würde – dieses Mal unter alles andere als laborhaften Bedingungen. Seine Konkurrenten spiegeln ihm diese Favoritenposition, Kenenisa Bekele etwa stapelt lieber tief: „Ich werde versuchen, Kipchoge zu folgen, wenn ich kann.“ Kipchoge dagegen weiß, was er in Berlin will: „Gewinnen ist keine Option“, sagt er. „Es ist eine Notwendigkeit.“

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