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Gesellschaft: "Pornografie wird oft überschätzt"

Pornos haben einen schlechten Einfluss auf Jugendliche? Nein, sagen Sexualforscher.

Im Internet sind heute für jeden tausende Pornofilmchen kostenlos zugänglich - auch für Kinder und Jugendliche?
Ja, schon allein aufgrund der technologischen Möglichkeiten machen Kinder und Jugendliche heute relativ früh Bekanntschaft mit der Pornografie. Das Einstiegsalter für das Internet liegt heute zwischen neun und zehn Jahren. Anbieter wie Youporn.com, das im August 2006 online ging, haben die Zugangshürden für pornografisches Material dramatisch gesenkt - Sexfilme sind heute nur einen Mouseclick entfernt. Unsere Studie zeigt, dass die Hälfte der Jungen und ein Drittel der Mädchen bis zu ihrem 14. Geburtstag einen Pornoclip im Internet gesehen hat.

Eine These lautet, dass Pornografie zu »sexueller Verwahrlosung« führt. Stimmt das, sind Jugendliche freizügiger als frühere Generationen?
Die »Verwahrlosungs-Debatte« wurde durch den »Stern«-Artikel »Voll Porno« im Jahr 2007 losgetreten. Ein Sexualforscher behauptet darin, dass Pornografie die »Leitkultur der Unterschicht« sei. Hier blickt ein Forscher, der selbst der Mittelschicht entstammt, auf die Unterschicht herab. Unsere empirischen Studien widerlegen jedoch diese Mittelschichtperspektive. Unter den Jugendlichen konsumieren gerade Gymnasiasten Pornografie, da sie internetaffiner sind als Hauptschüler. Pornografie ist also eher ein Mittelschichtenphänomen.

Wie kommen Kinder und Jugendliche eigentlich dazu, Pornos zu gucken?
Vor allem Jungen schauen Pornos, hauptsächlich zur Masturbation. 61 Prozent von ihnen lässt sich häufig von Sexclips im Internet anregen. Bei den Mädchen sind es nur 15 Prozent. Wie es zum pornografischen Erstkontakt kommt, wurde empirisch noch nicht ausreichend erforscht. Mit einiger Sicherheit kann man aber sagen, dass es vor allem die Neugier ist. Einen Porno zu gucken, kann aber auch eine Mutprobe unter Gleichaltrigen sein - früher hat man in der Kaufhalle ein Eis geklaut, heute guckt man »krasses Zeug«. Das ist nicht sexuell motiviert, sondern da geht es um Grenzüberschreitungen.

Ein Porno folgt wie jeder Film einem Skript. Beeinflusst das den Sex der Jugendlichen?
Sex ist vielfältiger geworden. Aus dem guten alten Geschlechtsverkehr sind heute »sexuelle Praktiken« geworden. Beispielsweise hat die Erfahrung mit Analverkehr unter Jugendlichen stark zugenommen - von sieben Prozent der Frauen und drei Prozent der jungen Männer im Jahr 1990 auf heute 25 und 16 Prozent. Da lässt sich schon ein gewisser Pornoeinfluss vermuten. Die heutige Generation hat eine Art Theorievorlauf - sie kennt viele sexuelle Praktiken, bevor sie selbst Sex hatte. Jugendliche können aber sehr wohl zwischen Fiktion und realem Liebesleben unterscheiden, und real praktiziert wird ohnehin nur, was partnerschaftlich akzeptiert wird. Sie selektieren ganz bewusst und suchen sich die Inhalte raus, die ihrer eigenen Sexualität entsprechen. Sadomasochistische Streifen oder Fetischsex findet ein Großteil »krass« oder »eklig«, zumindest aber nicht erregend. Gleichzeitig reagiert die große Mehrheit der Jugendlichen gelassen und fühlt sich durch die expliziten Inhalte kaum oder gar nicht verunsichert. Online wie offline wird ganz bewusst ausgewählt.

Heute ein Softporno, morgen ein Hardcore-Streifen ist also Quatsch?
Die Suchtidee, die von einigen wenig reflektierten Pädagogen vertreten wird, geht davon aus, dass wer mit 17 einen Porno guckt, mit 30 Fetischsex braucht, dass die sexuelle Erregung immer stärkere Stimuli braucht. Das ist wissenschaftlich längst widerlegt. Unsere sexuellen Skripte entwickeln sich zwar lebenslang, aber schon im Jugendalter festigen sich Vorlieben, die relativ stabil bleiben. Pornografie kann diese Vorlieben erweitern, schreibt sie aber nicht vollkommen um.

Pornos sind also auch eine Ressource, um die eigene Sexualität zu entdecken?
Ja, und das gilt für das Internet ganz allgemein. Chatforen bieten zum Beispiel einen gut geschützten Raum, um an der eigenen sexuellen Identität zu basteln. Da können sich Mädchen anonym im Schwulen-Chat umschauen und in eine Welt eintauchen, die für sie sonst nur schwer zugänglich ist. Klar ist aber auch, dass es keine Chancen ohne Risiken gibt. Sexuelle Belästigungen passieren am häufigsten im Netz. In der Regel sind solche Grenzüberschreitungen jedoch nicht traumatisierend, sondern bieten sogar oft Erfahrungen, um später mit Übergriffen im realen Leben angemessen umzugehen.

Beeinflussen die in Hochglanzoptik daherkommenden Pornos und die »perfekt« geformten Kopulierenden das Körperbild eines Jugendlichen?
Der Trend zur Intimrasur lässt sich durchaus auch auf die Vorbildwirkung pornografischer Darstellungen zurückführen. Und generell hat sich das Körperbewusstsein Jugendlicher beiderlei Geschlechts in den letzten Jahrzehnten entwickelt. Sexyness ist in und wird performt, online wie offline. Der Medieneinfluss wird aber zumeist überschätzt. Auch wenn die vorgebliche Wirkmächtigkeit von Castingshows wie »Gemanys Next Top Model« gern skandalisiert wird: Die Mädchen in unserem Land verfallen keineswegs der Magersucht.

Alice Schwarzer behauptet mit ihrer Kampagne »PorNO« in den 1980er Jahren, dass Pornografie per se frauenverachtend sei ...
Auch diese Debatte wurde seinerzeit durch einen medientechnologischen Fortschritt ausgelöst - die VHS-Kassette und den Video-Recorder. Der Pornofilm kam so aus den Bahnhofskinos in die Wohnzimmer, das löste letztlich eine Diskussion über das Frauenbild in diesen Sexfilmen aus und über Gewalt in der Sexualität generell. Aus heutiger Sicht jedoch, mit Blick auf die vielgestaltige Pornografie, läuft die Pauschalkritik der damaligen PorNO-Kampagne aber ins Leere. Pornografie ist heute sehr differenziert und nicht per se frauenverachtend - denken Sie an Schwulen- und Lesben-Pornos. In dem einen Genre gibt es gar keine Frauen, in dem anderen handeln allein Frauen ...

Aber können Sexfilme das Geschlechterverhältnis oder die Genderrollen beeinflussen?
»Pornografie ist die Theorie, Vergewaltigung die Praxis«, lautete in den 80ern ein Slogan der amerikanischen Feministin Susan Brownmiller. Sie sah Pornografie als direkte Ursache für Gewalt gegen Frauen. Das ist eine wirklich krude Wirkvermutung, die heute auch unter radikalen Feministinnen kaum noch beachtet wird. Sicher gibt es pornografische Plots, in denen die Frau in eine passive und duldende Rolle gedrängt wird. Empirische Studien zeigen aber, dass besonders junge Männer es viel erregender finden, wenn die Frau aktiv und verführerisch agiert. Wissenschaftliche Befunde zur Jugendsexualität zeigen, dass das Geschlechterverhältnis - also die Machtbeziehung zwischen Frau und Mann - noch nie so ausgeglichen war wie heute. Sexualwissenschaftler nennen das Verhandlungs- oder Konsensmoral: Gab früher eine oft religiös geprägte Sexualmoral vor, was im Bett sein darf und was nicht, ist heute alles in Ordnung, solange es zwischen beiden Partnern einvernehmlich ausgehandelt wurde. Auch die Sensibilität gegenüber sexuellen Übergriffen ist deutlich angewachsen. All das spricht gegen eine systematische sexualkulturelle Negativwirkung von pornografischem Material.

Warum wird die Debatte so alarmistisch geführt?
In der Medienbranche gilt leider: »Only bad news are good news« - nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten, weil sie sich besser verkaufen. »Verhütung besser denn je« ist keine Schlagzeile, obwohl heute 85 Prozent der Jugendlichen beim ersten Mal Kondome oder die Pille nehmen - 1980 waren es nur 62 Prozent. Aber auch einige, sagen wir, medienaffine Wissenschaftler arbeiten mit quotenträchtigen Schlagwörtern wie »Tatort Internet« oder »digitale Demenz«. Das verkauft sich gut, weil es mit den Ängsten besorgter Eltern spielt, ist aber aus medien- und sexualpädagogischer Perspektive kontraproduktiv. Wir brauchen Kompetenzentwicklung, keine neuen Verbote.

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