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Die Erde ist eine Scheibe: Das will Mike Hughes beweisen.

© Waldo Stakes/AP/dpa

Woraus entspringt die Wahrheit?: Nur Narren verachten Narren

Seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten heißt die Parole: Rettet die Vernunft! Es wäre schade, wenn dabei der Wahnwitz auf der Strecke bliebe. Von Gaga zu Geist - ein Essay.

Ein Essay von Malte Lehming

Ist die Erde flach? Mike Hughes ist überzeugt davon. Die Theorie von der Kugelgestalt hält der 61-jährige Amerikaner für falsch, sie widerspreche der Intuition, Bildern aus dem All glaubt er ohnehin nicht. Astronauten würden von der Regierung gezwungen, die Unwahrheit zu sagen. Deshalb hat Hughes eine Rakete gebaut, mit der er hoch über der Erde fliegen möchte, um von dort aus Fotos zu machen, die Wissenschaftsgeschichte schreiben sollen. Er will beweisen, dass die Erde eine Scheibe ist. Rückschläge nimmt er in Kauf. Bei einem Testflug in Arizona erlitt Hughes so schwere Verletzungen, dass er anschließend monatelang an Krücken gehen musste.

Die Meldungen zu dieser Geschichte werden in Deutschland unter der Schlagzeile „Irrer Raketenmann“ veröffentlicht. Der Leser schüttelt halb irritiert, halb amüsiert den Kopf, denkt „die spinnen, die Amis“ und ist froh, in einem aufgeklärten, rationalen und säkularen Europa zu leben.

Drei Viertel der Amerikaner glauben, dass ein Gott die Menschen erschaffen hat; zwei Drittel glauben an Geister und Telepathie; ein Drittel glaubt, dass die globale Erderwärmung eine Erfindung von Wissenschaftlern, der Regierung und Journalisten ist; ein Viertel glaubt, dass Impfungen zu Autismus führen können; zwei Drittel sind überzeugt davon, dass es Engel und Dämonen gibt; 15 Prozent glauben, dass Medien oder die Regierung über das Fernsehen geheime Strahlen aussenden, um das Bewusstsein der Menschen zu beeinflussen. Wie sagte Friedrich Nietzsche: „Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.“

Das Erlösungsversprechen ist eine uramerikanische Tradition

Die Zahlen stammen aus einem Buch, das vor einigen Wochen in den USA erschien. Es heißt „Fantasyland: How America Went Haywire“ (Wie Amerika verrückt wurde). Der Autor, Kurt Andersen, lebt als Kulturjournalist in New York. Seit Jahren recherchiert er für seine Ideengeschichte der USA, um nachzuweisen, wie die irrationalen und esoterischen Elemente nach und nach die der Rationalität und Realitätsbezogenheit verdrängten. Die Zeitschrift „The Atlantic“ druckte in ihrer September-Ausgabe einen langen, zusammenfassenden Essay des voluminösen Werkes.

Seit der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten kursiert die Frage nach dem Warum. Wie kommt es, dass ein solcher Mann, der es mit der Wahrheit nachweislich nicht sehr genau nimmt, der mächtigste Mann der Welt geworden ist?

Andersen gibt darauf drei Antworten. Erstens knüpft Trump mit seinem Erlösungsversprechen („Make America Great Again“) an eine uramerikanische Tradition an. Puritaner, Siedler, Goldgräber, religiös Verfolgte: Sie alle waren Fantasten, hatten einen Traum, glaubten daran, das Unwahrscheinliche wahr machen zu können. Von Hollywood bis Scientology, von Walt Disney bis zum Prediger Billy Graham, von Ronald Reagan bis zu Oprah Winfrey: Man mische starken Individualismus mit extremer Religiosität und Showbusiness – das Ergebnis ist jenes „Fantasyland“, das sich seine eigenen Regeln gibt.

Zweitens profitiert Trump von der Kulturrevolution der 68er, denn in dieser Zeit bekam der Irrationalismus seinen intellektuellen Überbau. Der Philosoph Michel Foucault dekonstruierte Geisteskrankheiten als eine Form der Unterdrückung durch ein „Regime der Wahrheit“. Sein Rivale, Jean Baudrillard, wetterte gegen den Rationalismus als bloßes Herrschaftsinstrument. Paul Feyerabend kritisierte den Rationalismus als eine „säkularisierte Form des Glaubens an die Macht des göttlichen Worts“. Die „soziale Konstruktion der Realität“ wurde entlarvt. Plötzlich gab es mehrere Wahrheiten und mehrere Realitäten, die postmodernen Intellektuellen entpuppten sich als kognitive Relativisten. Zur selben Zeit kursierten Berichte über Ufos und Nahtoderfahrungen, Bücher über das „geheime Leben der Pflanzen“ wurden zu Bestsellern.

Es begann mit dem rechten Radiomoderator Rush Limbaugh

Drittens konnte sich Trump im Verbund mit einer starken, polarisierenden Gegenöffentlichkeit präsentieren. Die Entwicklung begann mit dem rechten Radiomoderator Rush Limbaugh, zog sich über den Aufstieg des TV-Senders „Fox News“ und kulminierte im Internet-Nachrichtenportal „Breitbart“. „Im Internet hängt die Durchsetzungskraft einer Behauptung nicht mehr von ihrem Wahrheitsgehalt ab, sondern davon, wie oft sie geklickt und geteilt wird“, schreibt Andersen. Das Umfrageinstitut „Public Policy Polling“ hat Amerikanern folgende Frage gestellt: „Glauben Sie, dass eine geheime elitäre Macht mit einer globalen Agenda sich verschworen hat, um eine autoritäre Weltherrschaft zu errichten?“ Ein Drittel der republikanischen Wähler bejaht das.

Trump hat die Zeichen der Zeit erkannt. Er schimpft auf das Establishment, auf Experten, Intellektuelle und Wissenschaftler, weil die ihm das Recht bestreiten, die Wahrheit zu fühlen. Bauch schlägt Kopf. Die Kopfmenschen gehören zu der skurrilen Gemeinschaft einer „reality-based community“. In einer Parodie des Satirikers Stephen Colbert klingt die neue rechte Ideologie so: „Wörterbücher und Lexika hin oder her. Die sind alle elitär. Sie wollen dir dauernd sagen, was wahr ist und was falsch. Oder was passiert ist oder nicht passiert ist. Ich glaube nicht an solche Bücher. Wir sind eben eine geteilte Nation – geteilt in die, die mit dem Kopf denken, und die, die mit dem Herzen wissen. Und die Wahrheit kommt nun mal vom Herzen.“

Kommt sie denn nicht von dort? Folgt man der biblischen Schöpfungsgeschichte, steht bereits am Anfang der Menschheit ein Irrsinniger. Schickt Gott eine Sintflut, um die Menschen, die er geschaffen hat, von der Erde zu vertilgen? Noah war überzeugt davon. Also baute er ein großes Schiff, die Arche, um sich und seine Familie sowie sämtliche Tierarten vor den Wassermassen zu retten. Keiner glaubte Noah, man verspottete ihn. Das aber störte ihn nicht. Ohne Unterlass zimmerte er sein Schiff und ließ die Tierarten darauf Quartier beziehen. Eine göttliche Stimme hatte es ihm so gesagt.

Sollen Menschen, denen Unrecht geschieht, sich wehren?

Diese Geschichte kennen nicht nur Juden und Christen, sondern auch Muslime, obwohl Noah im Koran weniger Schiffbauer ist als Verkünder von Gottes Strafgericht. Noah ist für diese Gläubigen ein Held, ein Vorbild. Ebenso wie andere Urväter es sind. Allein gegen alle, das Recht und die Wahrheit im Gepäck, von Zeitgenossen verhöhnt und verlacht: Was für nichtreligiöse Menschen als Ideal in einem Western wie „High Noon“ durch Gary Cooper symbolisiert wird, ist für Christen ein konstitutives Element ihres Glaubens.

Sollen Menschen, denen Unrecht geschieht, sich wehren? Nein, predigte Jesus, stattdessen sollen sie die andere Wange hinhalten. Als er diese Lehre verkündete, wurde er verlacht, verfolgt, schließlich gekreuzigt. Später entwickelte sich daraus die größte Religionsgemeinschaft der Welt, das Christentum.

Aber wer hält sich schon an die Wangenhinhaltelehre? Ein solches Ethos überfordert die Menschen doch. Oder nicht? Vor elf Jahren wurde in einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Pennsylvania ein Massaker verübt. Ein Mann war in eine Schule der Amish-Gemeinde eingedrungen, erschoss fünf Mädchen und danach sich selbst. Der Attentäter gehörte nicht zur Gemeinde. Wie reagierten nun die sehr frommen Amish-Gläubigen auf die Tat? Dreißig von ihnen nahmen an der Beerdigung des Attentäters teil. Für dessen Witwe sammelten sie Geld. Wie soll die Überschrift dazu lauten? „Irre Fromme“ oder „Verrückte Bibeltreue“? Das hängt, wie stets, vom Standpunkt ab.

Einer gegen alle, gegen die herrschende Vernunft, gegen den common sense, gegen alle Prognosen des Scheiterns: Das gibt es natürlich auch im profanen Leben. Kann der Mensch bis zum Nordpol reisen, den Mount Everest bezwingen, per Schiff von Europa nach Indien reisen, sich den Traum vom Fliegen erfüllen, auf dem Mond spazieren gehen? Kann er zeigen, dass die Erde sich um die Sonne dreht, Mensch und Affe gemeinsame Vorfahren haben, alle Menschen gleich sind?

Was verrückt ist oder genial: Darüber richtet die Geschichte

Oder aktueller: Kann es sein, dass die Idee des Unternehmers Elon Musk realisiert wird, mit Hilfe eines Hochgeschwindigkeitssystems namens Hyperloop, das Transportkapseln auf Luftkissen durch Vakuumröhren schießt, schneller zu werden als ein Flugzeug? Ob Tesla, SpaceX oder Künstliche Intelligenz: Am Anfang steht der Einfall eines Sonderlings, den keiner ernst nimmt. Was folgt, ist der Aufbruch in die Unversicherbarkeit, getragen von starker Hoffnung, einer fixen Idee sowie der Begabung, sich über Kritik und Widerstände hinwegsetzen zu können. Was verrückt ist oder genial: Darüber richtet die Geschichte.

Als die Mitglieder einer calvinistischen Sekte im Jahre 1620 in England die „Mayflower“ bestiegen, um nach Amerika zu segeln, wusste keiner von ihnen, was sie erwartet. Sie fürchteten sich vor Indianern und wilden Tieren. Im ersten Winter in Plymouth starb die Hälfte von ihnen an Krankheit und Hunger. Doch die Überlebenden, die ersten Siedler, legten den Grundstein für das spätere Entstehen einer globalen Supermacht.

Am Anfang war immer der Wahnwitz, verkörpert durch Menschen, die als Toren und Narren verspottet wurden, als verschroben und verrückt galten. Sie scheinen den Gemeinsinn (sensus communis) verloren und durch den Eigensinn (sensus privatus) ersetzt zu haben. Doch vom Wahnwitz zum Wahnsinn ist der Weg oft nur kurz. Muss nicht im Zeitalter des Postfaktischen, von „fake news“ und Filterblasen, von Verschwörungstheorien und „alternativen Wahrheiten“ vor allem erneut eine Lanze für Rationalität und Realität gebrochen werden?

Was tun gegen zu viel Bauch und zu wenig Kopf, gegen zu viel Herz und zu wenig Verstand? Wer diesen Konflikt rein appellativ lösen will („Rettet die Vernunft!“), verkennt die oft faszinierende Attraktivität der anti-elitären, anti-autoritären und anti-intellektuellen Pose. Jeder darf über alles mitreden, keiner hat qua Herkunft, Bildung und Amt ein Recht auf die Wahrheit: Das erinnert frappierend an den rebellischen Impuls Martin Luthers, an dessen Lehre vom Priestertum aller Gläubigen. „Denn was aus der Taufe gekrochen ist“, schrieb Luther, „das kann sich rühmen, dass es schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht sei.“

Nur wer verstanden wird, kann überzeugt werden

Evangelikale weiße Männer gehören zu den treuesten Wählern Trumps. Ähnlich wie er lehnen sie alles ab, was ihrer Intuition widerspricht – die Evolutionstheorie, die soziale Konstruktion von Geschlechtsidentitäten. Trump ist für sie derjenige, der keine Angst hat, seine individuelle Wahrheit gegen den kollektiven Zeitgeist zu stellen. Sie stellen ihn vom Gestus her in eine Linie mit Noah, Jesus und Luther.

Ohne Wahnwitz keine Erkenntnis, ohne Vernunft keine Realität. Wenn dieses extreme Spannungsverhältnis nicht ausgehalten, sondern als eine Entweder-Oder-Entscheidung dargestellt wird – hier die Wissenschaft, dort der Aberglaube, hier der Kopf, dort das Herz –, besteht die Gefahr, dass sich die jeweiligen Lager mental einbetonieren. Nur wer versteht, kann überzeugen. Nur wer verstanden wird, kann überzeugt werden.

Im Buch „Phaidros“ von Platon wird ein fiktives Gespräch wiedergegeben zwischen Sokrates und dessen Freund Phaidros. Es geht um die Frage, ob die Liebesleidenschaft eine gute oder schlechte Voraussetzung für eine Freundschaft sei. Phaidros verliest eine Schrift des Redenschreibers Lysias, der gegen die erotische Begierde als Grundlage für eine dauerhafte Freundschaft plädiert. Denn die Leidenschaft erkaltet eines Tages, und dann bereut man womöglich die Wohltaten, die man dem Geliebten erwiesen hat. Besser sei es, einen Freund aus freiem Entschluss zu wählen, ohne von einem starken Gefühl gesteuert zu werden. Zunächst stimmt Sokrates zu. Dann aber widerspricht er gewissermaßen sich selbst. Der Wahnsinn der erotischen Leidenschaft sei nicht negativ zu bewerten. Verzückung und Begeisterung könnten ein Zeichen göttlicher Gunst sein und zur Erkenntnis führen. Enthusiasmus und Inspiration seien dem nüchternen Verstand oft überlegen.

Generationen von Philosophen haben über den „Phaidros“ nachgedacht. Verteidigt der Ultrarationalist Platon plötzlich das Irrationale? Er billigt ja nicht nur die „mania“, die Raserei, sondern sieht in ihr sogar eine Voraussetzung für wichtige Einsichten. Gelöst ist der Streit nicht. Kopf und Bauch ergänzen sich, und ihr Verhältnis zueinander bleibt paradox. Wäre die Welt ohne einen „irren Raketenmann“ wie Mike Hughes wirklich besser? Wahrscheinlich nicht. Es darf nur nicht zu viele von seiner Art geben.

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