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Wochenrückblick zur Bundestagswahl: Der ratlose Aufbruch nach dem Beben

Falscher Jubel bei den Verlierern, Klassenfahrt-Stimmung bei den Neuen, Hilflosigkeit bei den Etablierten. Die Wahl hat das politische Berlin erschüttert. Ein Wochenrückblick.

Von Robert Birnbaum

Die Frau von der Verwaltung lässt den Finger über ihre lange Namensliste gleiten. „Ham’wa jetzt alle?“, fragt sie ihre Nachbarin. Die schaut auf ihre Liste auf dem nüchternen weißen Resopaltisch: Nee, bei mir fehlen noch ein paar. Das passiert aber auch jedes Mal, wenn die Neulinge im Bundestag noch nicht wissen, wo es das Starter-Paket abzuholen gibt mit den ersten Handreichungen fürs Abgeordneten-Dasein. Durch die Glasfront hinter dem Resopaltisch sieht man die Deutschlandfahne auf dem Nordwestturm des Reichstags träge im Wind schwingen.

Alles wie immer am ersten Parlamentstag nach einer Wahl, eigentlich, wenn nicht ein paar Schritte weiter Volker Kauder vor einer Stellwand stünde und ein Gesicht zöge wie einer, der sich nicht anmerken lassen will, dass er grade ein Glas Essig schlucken musste.

Nichts ist wie immer. Die CDU/CSU-Fraktion hat ihren Chef mit einem derart widerwilligen Ergebnis wiedergewählt, dass andere bei so was schon hingeschmissen haben: 75 Prozent, mehr als 50 Gegenstimmen. Eine Tür weiter schlägt der SPD-Chef Martin Schulz Andrea Nahles als neue Fraktionsvorsitzende vor. Er hätte am liebsten sich selber vorgeschlagen, aber das darf auch keiner merken.

Gauland will in einen der Türme des Reichstagsgebäudes

Keine hundert Meter von hier über die Spree hinweg aber sitzt eine knappe Hundertschaft von Neulingen hinter einer kreisrunden Fensterfront. Im großen Saal im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus tagen sonst Untersuchungsausschüsse und Enquetekommissionen. Jetzt dient er behelfsmäßig als Fraktionssaal für die AfD. Eine Dauerlösung ist das nicht. Alexander Gauland hat schon Anspruch auf Platz in einem der vier Türme angemeldet, die sich bisher die älteren Parteien teilten – er will da aus symbolischen Gründen hin, und außerdem ist seine Fraktion ja auch die drittgrößte.

Wenn die anderen klug sind, geben sie Gauland umstandslos seinen Turm. Aber mit der Klugheit ist es in der erschütterten Republik in diesen Tagen so eine Sache.

Am Montagabend treffen sich die „Seeheimer“ zum Sommerfest im Garten der Parlamentarischen Gesellschaft. Die Seeheimer sind die Realos der SPD. Auf dem Rasen mit den Partyzelten stehen Davongekommene und andere, die jetzt auf einmal Ehemalige sind. 20,5 Prozent! Die politische Katastrophe hat auch praktische Kehrseiten. Wo sollen die Mitarbeiter bloß so schnell unterkommen? Politikberatung, PR? „Ich hab’ schon ein Angebot von Burson-Marsteller, aber da will ich nicht hin“, sagt ein junger Mann. Eine PR-Agentur ist nun einmal etwas anderes als eine Bundestagsfraktion.

„Ja, klar haben wir auf die Schnauze gekriegt“

Auf der Bühne begrüßt Seeheimer-Sprecher Johannes Kahrs die Gäste und den Ex-Kanzlerkandidaten. „Martin Schulz hat in diesem Wahlkampf gekämpft, und zwar mehr, als man das von jedem anderen erwarten kann“, sagt Kahrs. Der scheidende Fraktionschef Thomas Oppermann ruft „das neue Dreamteam der SPD, Andrea Nahles und Martin Schulz“ aus. Die weibliche Hälfte des Dreamteams steht vor der Bühne und klatscht mit dem Jubel mit, der die männliche Hälfte empfängt. „Ja, klar haben wir auf die Schnauze gekriegt“, ruft Schulz, „aber wir stehen!“ Dass die Partei sich nicht beuge, und was das Ergebnis angehe: „Wir werden das beim nächsten Mal, wenn wir das anpacken, verdoppeln!“

In den hinteren Reihen schütteln manche den Kopf. Wo steht eigentlich geschrieben, dass man als Politiker dummes Zeug reden muss? Jahre werde es dauern, die Partei wieder in die Spur zu bringen, glauben Erfahrene. Nicht um Ducken oder Beugen wird es gehen, sondern um Grübeln: War die dritte krachende Niederlage in Folge wirklich wieder bloß eine Panne? „Bei manchen von uns wird es noch lange dauern, bis der Kater vorbei ist“, sagt einer, als Schulz fertig und der falsche Jubel verklungen ist, „und dann wird die Sache noch einmal anders aussehen.“ Vielleicht sieht das Dreamteam bis dahin auch noch einmal anders aus. In diesen Tagen ist weniges sicher für Wahlverlierer.

Die CSU will nicht die "Drecksarbeit" machen

Horst Seehofer steht in einer Traube Journalisten im Foyer vor der Unionsfraktion. Man kann ihn nur schlecht verstehen, weil er leise redet und sich ihm so viele Mikrofone entgegenstrecken, dass sie für normale Ohren sozusagen nichts mehr übrig lassen. Aber die Fetzen reichen aus. „Das Ganze muss im richtigen Stil erfolgen und am richtigen Platz“ – da ist also von Rücktrittsrufen die Rede und vom CSU-Parteitag. „Man muss reden über ein Wahlergebnis wie am Sonntag!“ Hörst du, Angela? „Wir brauchen kein Versöhnungstreffen. Wir sind versöhnt.

Dummes Zeug eben. Vorhin hat ungefähr an der gleichen Stelle einer von Seehofers Parteigängern gestanden und zwischen den Lippen hervorgepresst, wenn die Merkel glaube, dass die CSU jetzt für sie die Drecksarbeit mache und die Obergrenze aufgebe, bloß damit sie in diesem komischen Bündnis weiter regieren könne, dann habe sie sich geschnitten. „Wann ist denn diese Wahl verloren gegangen?“, grollt der Mann. „Am 4. September 2015, an keinem anderen Tag!“ Damals, als die Kanzlerin die Grenzen wochenlang freigab.

Auferstanden aus Ruinen – die FDP ist zurück

Über die Kanzlerin wird noch zu reden sein und über die Sache mit den Flüchtlingen auch, aber bevor es zu depressiv wird – vielleicht ein kurzer Blick über drei Straßen zu den Newcomern? Nein, nicht denen. Den anderen. Im großen Saal im Erdgeschoss des Hans-Dietrich-Genscher-Hauses türmen sich Koffer und Taschen, darüber zwitschert Klassentreffen-Lärm. Vorne fällt die FDP-Generalsekretärin Nicola Beer jedem um den Hals; in einer Ecke klatschen sich zwei ab, die sich von früher aus dem Bundestag kennen. Auferstanden aus Ruinen – sie sind zurück!

Aber sie haben noch nichts. Keine Räume, keine Computer, keine Arbeitsplätze. Hinter geschlossener Tür bittet Fraktionsgeschäftsführer Marco Buschmann die frisch gewählten Abgeordneten zur Kasse: 2000 Euro pro Person für ein provisorisches Großbüro im Kofferchaossaal. Ob das als Kredit gemeint ist oder als Spende, will keiner wissen. Egal. Und was kostet Jamaika? Ach, auch erst mal egal. Das soll der Christian Lindner regeln. Was kostet die Welt!

Zurück in den Reichstag, ein Stockwerk nach oben mit dem Fahrstuhl – im Protokollsaal treffen sich die neuen und die alten Grünen. Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir haben kurz etwas zu besprechen und essen jeder einen Apfel dabei. Vor ihnen auf einem grün eingepackten Stehtisch ragt ein einsames Sonnenblümchen aus einer schlanken Glasvase. Irgendjemand muss das minimalistische Design vor dem Wahlsonntag bestellt haben, passend zu den Umfragen, die die Grünen eher in Richtung Fünf-Prozent-Hürde rutschen sahen.

„Wo gibt’s denn hier das Zubehör?“

Die Wähler waren großzügiger. In dem Gewusel rund um die beiden Apfelesser wird über Posten in einer künftigen Jamaika-Koalition spekuliert. Will Özdemir das Außenministerium? Göring-Eckardt die Umwelt? Und wenn die beiden aus dem Realo-Lager zugreifen, welcher Linke wäre Nummer drei? Claudia Roth?

Nun ist es nicht so, dass sie nicht insgeheim alle einen gehörigen Respekt vor der Aufgabe hätten, vier Parteien nebst sämtlichen Flügeln für ein einzigartiges Koalitionsexperiment zusammenzuführen. Aber das hat noch Zeit. Vor der Niedersachsen-Wahl am 15. Oktober passiert nichts, schon weil sich erst Merkel und Seehofer einigen müssen. Özdemir postet am Mittwoch ein Foto mit seinem kleinen Sohn, wie sie „Politiker ärgere dich nicht“ spielen. Der Vater wird gleich mit der grünen Katrin-Figur den nächsten Zug machen, man sieht aber nicht, ob er dabei einen roten Martin rauskegeln wird oder die schwarze Angela oder einen gelben Christian.

AfD-Blau existiert nicht. Das Spiel ist schon älter. Ausgabe Bundesrepublik-Alt, sozusagen.

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Die Neuen müssen erst einmal ihre Namensschilder suchen. „Wo gibt’s denn hier das Zubehör?“, trompetet einer über den Flur im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus. Das mit den Namensschildern ist wichtig – von den Abgeordneten der „Alternative für Deutschland“ haben sich viele noch nie gesehen. Das Zubehör ist auch wichtig: Bahncard zum Umsonstfahren – man ist jetzt privilegiert –, Hausordnung, Wegweiser durchs Parlament und zur Kantine. Ein einziger AfD-Abgeordneter ist hier vorher schon einmal gewesen: Martin Hohmann, wegen seiner „Tätervolk“-Rede seinerzeit von Angela Merkel aus der Unionsfraktion hinausgeworfen.

Man hätte den Herrn mit dem Briten-Spleen auch auslachen können

Jetzt ist der ebenfalls wieder da, zusammen mit 93 Neulingen. Drüben im Plenarsaal schrauben Arbeiter im Blaumann an neuen Stuhlreihen für die 709 Volksvertretersitze herum, obwohl noch gar nicht klar ist, wo zum Beispiel die AfD hinkommt und – wichtig, wichtig – wie viele von den Vorzugsplätzen in der ersten Reihe sie kriegt.

Aber der frisch gewählte Fraktionschef Gauland setzt bei seiner ersten Pressekonferenz ein wildentschlossenes Gesicht auf und seine Ko-Vorsitzende Alice Weidel ein empörtes, so als wollten sie vorsorglich mitteilen: Mit uns nicht! Gauland hatte tags zuvor wissen lassen, dass sie sich „unser Land und unser Volk zurückholen“ werden. Das ist für eine 12,6-Prozent-Partei ein erstaunlich hochgestecktes Ziel. Für die Eroberung der Stühle im Plenarsaal wird es aber reichen.

Spannender wird die Frage, ob es weiter reicht. Viel wird davon abhängen, wie die anderen mit den Neuen umgehen. Gaulands Spruch hat prompt wieder die üblichen Empörungswellen ausgelöst, was belegt, dass der Einfluss seiner Truppen auf die öffentliche Debatte ihre reale Stärke weit übersteigt. Man hätte den alten Herrn mit seinem Briten-Spleen ja zum Beispiel auch auslachen können.

Aber den anderen ist das Lachen ziemlich im Hals stecken geblieben seit diesem 24. September, den Christ- und den Sozialdemokraten zumal. Dass die „Alternative“ ihnen so viele Wähler abspenstig gemacht hat, ist schlimm genug. Schlimmer ist die Hilflosigkeit angesichts des Phänomens. Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier hat sie am Montag in der Sitzung der CDU-Spitze unfreiwillig deutlich offen gelegt. Früher, hat der alte Recke sinniert, hätten einen die Leute gewählt, wenn es der Wirtschaft gut gehe. Heute, konnten alle Anwesenden für sich still ergänzen, zählt das offenbar nicht.

Empörte Rentner, erschütterte Politiker

Bouffiers Satz erinnerte etwas an den griesgrämigen älteren Onkel, der beim Anblick der 68er Langhaarmode grummelte, dass die Gammler mal wieder einen Krieg bräuchten. Der Vergleich ist insofern nicht ganz unzulässig, als viele Abgeordnete aus dem Wahlkampf die irritierende Erfahrung mitbrachten, dass AfD-Wähler keineswegs Schlechterverdiener sein müssen.

Ein CSU-Mann erzählt von dem älteren Herrn, der sich darüber aufregte, wie viel Krankenversicherung er als Rentner zahlen müsse, 540 Euro! Erst auf mehrfache Nachfrage rückte der Empörte damit heraus, dass er gut 3000 Euro Rente kriegt. „Wenn das ein Grund ist, uns nicht mehr zu wählen“, sagt der Christsoziale, „was soll ich dann bitt’schön noch tun?“ Oder dieser ständige Spruch an den Wahlkampfständen: „Für nichts habt ihr angeblich Geld, aber den Flüchtlingen schiebt ihr’s in den A...!“ Glatt könnte einem der Verdacht kommen, die Schwarze Null habe zur Niederlage der Union ihr Gutteil beigetragen.

„Aber wenn ich auch dafür verantwortlich bin – in Gottes Namen“

Selbst die geübte Unerschütterlichkeit in Person zeigt dieser Tage Nerven. Gefragt, ob nicht der Umstand zum Erstarken der Kleinen beigetragen habe, dass zwischen der Merkel-CDU und der Schulz-SPD die Unterschiede so gering seien, schüttelte Angela Merkel am Montag den Kopf: „Aber wenn ich auch dafür verantwortlich bin – in Gottes Namen.“ Ansonsten ist die Kanzlerin jetzt abwechselnd im Niedersachsen-Wahlkampf, auf EU-Gipfeln und mit Seehofer beschäftigt, hat also leider keine Zeit für eine allzu ausgedehnte Rückschau.

Die 94 Blauen aber sind jetzt für vier Jahre da – genau gesagt 93 plus eine, wegen Frauke-Petry-Schwund. Offiziell geben die anderen Parteien die Parole „betonte Normalität“ aus und verweisen auf die Geschäftsordnung. Tatsächlich sollte man, um mit seinem Ex-Präsidenten Norbert Lammert zu sprechen, den „Domestizierungseffekt des deutschen Parlamentarismus“ nicht unterschätzen. Der Bundestag ist eine Maschine mit einer Besatzung im Kleinstadtformat, nicht vergleichbar mit dem Dorfidyll deutscher Landtage.

Aber dass sich die AfD zwischen Ausschussberatungen über das Vierte Finanzmarktregulierungsergänzungsgesetz und langen Plenarnächten von selbst verliert, glaubt keiner. Am Dienstag kommt Franz Josef Jung zum letzten Mal aus dem Saal der Unionsfraktion. Der Hesse scheidet aus. Er geht ohne Wehmut. Er kennt Gauland nämlich von früher, als der heutige AfD-Häuptling Chef der Staatskanzlei in Wiesbaden war und Jung CDU-Generalsekretär. „Dass ich mich nicht mehr mit dem Gauland rumärgern muss ...“ Jung lacht auf und drückt die Fahrstuhltaste.

Mitarbeit: asi, ce, fiem, hmt

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