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Ein US-Panzer vom Typ M1A2 Abrams bei einer Militärübung in Bulgarien.

© AFP

Wladimir Putin und die Nato: Droht ein neuer Kalter Krieg?

Putin bestellt 40 neue Atomraketen. Die Nato verlegt Militär ins Baltikum: Ein neues Wettrüsten, das vielen Angst macht. Wer hat Schuld – und wie groß ist die Gefahr?

Eine Angst geht um in Europa: die Angst vor einem neuen Kalten Krieg, vor neuem Wettrüsten, neuen Atomwaffen und einem neuen Gleichgewicht des Schreckens. Russlands Präsident Wladimir Putin kündigte vor zwei Wochen die Aufstockung seines Nukleararsenals um 40 neue Interkontinentalraketen an. „Sie werden fähig sein, selbst technisch perfekteste Raketenabwehrsysteme zu überwinden.“

Auch die Nato hat das Gefühl, sich besser wappnen zu müssen. Am Montag betonte der neue US-Verteidigungsminister Ashton Carter in Berlin: „Nur ein aktiveres Deutschland und ein aktiveres Europa können sicherstellen, dass Wladimir Putin die Uhr nicht zurückdrehen kann.“ Er lobte das deutsche Engagement bei der schnellen Eingreiftruppe der Allianz. Sie soll unter anderem die baltischen Staaten vor russischer Bedrohung schützen. Die USA wollen Panzer und anderes schweres Gerät in die östlichen Mitgliedstaaten der Nato verlegen. Nachmittags besuchte Carter mit Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen und ihren Kolleginnen aus Holland und Norwegen das Deutsch-Niederländische Korps in Münster, den Sitz der schnellen Eingreiftruppe. Anschließend reiste er nach Estland und von dort zur Beratung der Nato-Verteidigungsminister nach Brüssel. Die beschlossen, die Eingreiftruppe zu verdoppeln, auf 30 000 bis 40 000 Mann.

„Wir werden uns nicht in einen Rüstungswettlauf hineinziehen lassen“, wiegelte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ab, „aber wir müssen dafür sorgen, dass unsere Mitgliedstaaten sicher sind.“ Die Nato sei mit einem „neuen Sicherheitsumfeld“ konfrontiert. Diese Formulierung ist vertragsrechtlich wichtig mit Blick auf die Nato-Russland-Grundakte, siehe unten.

Die Nato betont die defensiven Absichten

Carter und von der Leyen betonen die defensiven Absichten. Bei der Verlegung der Panzer gehe es um Ausbildung und um das Ziel, „die Widerstandsfähigkeit der Allianz an ihren Rändern zu erhöhen“, sagt Carter. Von der Leyen pflichtet bei: „Wir verstehen die Stationierung als ein Zeichen der Sicherheit.“ Die Deutschen werden „nie vergessen, dass die USA uns geschützt haben“.

Damit spricht sie freilich, erstens, nur aus der Perspektive der Westdeutschen. Zweitens waren die schon im Kalten Krieg gespalten in ihren Ansichten, wer die Schuld am Wettrüsten trage und wie man es stoppen könne. 500 000 Deutsche demonstrierten im Bonner Hofgarten gegen die Nato-Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen und Marschflugkörpern. Nur 30 000 fanden sich zum Protest gegen die sowjetischen SS-20-Raketen zusammen, deren Aufstellung die Nato erst zu ihrer Reaktion bewegt hatte. Daran erinnerte die grüne Europaabgeordnete Marieluise Beck jetzt in Berlin bei einer Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung.

Auch heute gelten die Deutschen in Ost wie West als die am leichtesten zu verunsichernden Kantonisten im Nato-Gebiet – weshalb die USA besonders um sie werben und Russland seine Propaganda auf Deutschland konzentriert. Eine Pew- Umfrage hat unlängst ergeben, dass die Deutschen von allen Alliierten am wenigsten gewillt sind, im Falle eines russischen Angriffs auf Nato-Gebiet ihre Bündnispflichten zu erfüllen. Im Nato-Durchschnitt sind 48 Prozent dafür, 42 dagegen. In Deutschland sind 58 Prozent abgeneigt.

Dabei geben sich die meisten Deutschen anderthalb Jahre nach Annexion der Krim und rund einem Jahr offenen Kriegs in der Ostukraine keinen Illusionen über Putin mehr hin. 55 Prozent gaben in einer Allensbach-Umfrage vom März Russland die Schuld am Konflikt. Nur zehn Prozent sehen in Moskau laut einer weiteren Umfrage vom April noch einen verlässlichen Partner. 76 Prozent bewerten das deutsch-russische Verhältnis als gestört. Aber stärker als der Wille, sich Putin entgegenzustellen, ist offenbar die Angst vor Wettrüsten und Kriegsgefahr.

Selbstredend behaupten sowohl Putin als auch die Nato, dass sie lediglich Gegenmaßnahmen ergreifen nach aggressiven Handlungen der anderen Seite. Auffallend oft taucht in deutschen Medien die Formulierung auf, Moskaus Aufstockung der Atomraketen sei womöglich nur der „Gegenzug“ zur Verlegung von Nato-Soldaten und Kriegsgerät in die östlichen Nato-Staaten. Dabei behauptet niemand im Westen ernsthaft, dass die Allianz dies tue, weil sie einen Angriff auf Russland plane.

Ohnehin mahnen die Zahlen an Waffen und Soldaten, um die es heute geht, zurückhaltend beim Vergleich mit dem Wettrüsten im Kalten Krieg zu sein. Mitte der 1980er Jahre, als die Trennlinie noch mitten durch Deutschland verlief, hatte die Sowjetunion vier Millionen Soldaten unter Waffen, einen Gutteil davon an der Grenze zu China. In den papiernen Gegenüberstellungen für Europa verfügte die Nato über 58 Divisionen mit knapp 9000 Panzern, der Warschauer Pakt über 106 Divisionen mit 30 000 Panzern. Bei der Zahl der Geschütze war der Osten dreifach überlegen, bei Kampfflugzeugen zweifach. Aus dem Stand einsatzfähig wäre aber nur ein Teil der Truppen gewesen, auf westlicher Seite etwas unter, auf östlicher Seite etwas über eine halbe Million Soldaten.

Das Baltikum wäre nahezu wehrlos

An der heutigen potenziellen Konfliktlinie im Baltikum, auf die die Nato ihre Prävention angesichts des Kriegs in der Ukraine ausrichtet, stehen nach einer Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) von 2011 rund 18 000 estnische, lettische und litauische Soldaten, die über drei Kampfpanzer und rund 500 Artilleriegeschütze verfügen. In den angrenzenden russischen Militärbezirken sind es 40 000 Soldaten mit über tausend Kampfpanzern und mehr als 1100 Geschützen. Das ist einerseits ein verschwindend kleiner Teil der Kampfkraft, die sich im wahren Kalten Krieg gegenüberstand. Und andererseits ein Kräfteverhältnis, das es für die Nato ratsam erscheinen lässt, einige tausend Soldaten samt Gerät zum schnellen Eingreifen bereitzuhalten.

Auch bei den Atomwaffen machen Putins 40 modernisierte Raketen zahlenmäßig keinen großen Unterschied. Im Kalten Krieg hatten beide Seiten tausende Trägersysteme und mehr als zehntausend Sprengköpfe. 2009 begrenzten Russland und die USA auf Barack Obamas Initiative im dritten Start-Abkommen die Zahl der Atomsprengköpfe jeder Seite auf maximal 1550 und die der Trägersysteme auf 800 – eine Veringerung des strategischen Atomwaffenarsenals um ein Drittel.

Die FES-Studie von 2011 hatte das Ziel, das Potenzial für weitere konventionelle Abrüstung auszuloten. Sie ging davon aus, dass „Russland in den letzten beiden Jahrzehnten kaum in neue Waffensysteme investiert oder die vorhandenen modernisiert hat“. Das hat sich geändert. Putin hat die Militärausgaben drastisch erhöht. Russland liegt auf Platz drei hinter den USA und China, obwohl seine ökonomische Leistungskraft – knapp drei Prozent der Weltwirtschaft – das nicht hergibt.

Putin begründet diese unverhältnismäßigen Investitionen ins Militär mit angeblichen Plänen der Nato, Russland einzukreisen. Er wirft dem Westen auch häufig vor, Zusagen und Abkommen gebrochen zu haben. Bei näherem Hinsehen liegen die Vertragsbrüche auf russischer Seite. Nach den friedlichen Revolutionen in Ostmitteleuropa und dem Ende der Blockkonfrontation hatten Moskau und der Westen mehrere Abkommen über eine neue Friedensordnung in Europa und die Begrenzung der Rüstung getroffen, an die Russland sich heute nicht mehr halten möchte.

Im November 1990 bekräftigten die früheren Vertragspartner der KSZE – der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die sich 1975 auf die Unveränderbarkeit der Grenzen, den Gewaltverzicht und grundlegende Menschenrechte geeinigt hatte – in der Charta von Paris deren Grundsätze. Sie bekannten sich zur Demokratie als einzig zulässiger Regierungsform und sicherten jedem Staat das Recht zu, seine Bündniszugehörigkeit frei zu wählen. Trotz der Unterschrift unter das Prinzip möchte Moskau die freie Wahl ökonomischer und militärischer Bündnisse ehemaligen Sowjetrepubliken heute in der Praxis nicht mehr erlauben.

Parallel kam der KSE-Vertrag über die Begrenzung konventioneller Streitkräfte in Europa. Noch existierte der Warschauer Pakt. Jede Seite durfte maximal 40 000 Kampfpanzer, 60 000 gepanzerte Kampffahrzeuge, 40 000 Artilleriewaffen, 13 600 Kampfflugzeuge und 4000 Angriffshubschrauber haben. Rund 60 000 schwere Waffensysteme wurden danach vernichtet.

Dann überholten die Ereignisse die Absprache. Der Warschauer Pakt und die Sowjetunion lösten sich auf. Die kollektiven Obergrenzen verlangten nach einer regionalen Anpassung. Diese Aktualisierungen wurden 1996 in Wien und 1999 in Istanbul verhandelt. Russland lehnte die Umsetzung später jedoch ab und kündigte den Vertrag im März 2015 – unter Hinweis darauf, dass die USA 3000 Soldaten zu einem Manöver ins Baltikum gebracht hatten. Der wahre Knackpunkt war, dass Russland die Istanbuler Klausel nicht erfüllen möchte, wonach kein Staat Truppen in einem anderen Staat ohne dessen Zustimmung stationieren darf. Russische Einheiten halten als angebliche Friedenstruppen Teile von Moldawien, Georgien und neuerdings der Ukraine besetzt.

Russland hat die Verträge gebrochen

1997 bot die Nato Russland eine strategische Partnerschaft an, um die Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns diplomatisch abzufedern. 2002 wurden die regelmäßigen Konsultationen zum Nato-Russland-Rat aufgewertet. Erneut verpflichteten sich beide Seiten zum Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen irgendeinen Staat, dessen Souveränität, territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit. Die Freiheit der Bündniswahl wurde bekräftigt. Außerdem erklärte die Nato, sie werde keine Atomwaffen in die neuen Nato-Staaten bringen und „im gegenwärtigen und vorhersehbaren Sicherheitsumfeld“ … „eher nicht zusätzlich substanzielle Kampftruppen dauerhaft stationieren“.

Mit dem gewaltsamen Vorgehen in der Ukraine hat Russland die Verträge gebrochen und das Sicherheitsumfeld verändert. Die Voraussetzung für die Zusagen der Nato sind entfallen. Und doch hält sich die Allianz weiter daran, stationiert nicht dauerhaft substanzielle Kampftruppen im Baltikum, sondern baut eine Eingreiftruppe im alten Nato-Gebiet auf. Die Grundakte erlaubt ihr weit mehr: „In diesem Zusammenhang können, falls erforderlich, Verstärkungen erfolgen für den Fall der Verteidigung gegen eine Aggressionsdrohung und für Missionen zur Stützung des Friedens.“

Stefan Meister, Russland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) sieht in Putins neuen Atomraketen weniger eine Reaktion auf westliche Truppenverlegungen ins Baltikum als einen innenpolitischen Versuch, von der Wirtschaftskrise abzulenken. Kurz zuvor, im Mai 2015, wurde ein Einbruch der russischen Industrieproduktion um 5,5 Prozent bekannt. Putin habe sich gegen Reformen entschieden, meint Meister. Als Alternative bleibe nur die nationale und militärische Mobilisierung der Gesellschaft.

So beunruhigend die jüngsten Entwicklungen wirken: Im Vergleich zum Kalten Krieg ist es ein Wettrüsten auf Sparflamme.

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