zum Hauptinhalt

Politik: Wie viel Demokratie verträgt das Klima?

Das Abkommen von Rio ist bereits 20 Jahre alt. Aber der Treibhausgas-Ausstoß ist nicht gebremst, im Gegenteil. Wir haben zwei Wissenschaftler gefragt, wie das Problem zu lösen ist.

Es gibt nicht viele, die ernsthaft eine Ökodiktatur fordern würden. Denn Freiheit und Recht für jeden Einzelnen sind unantastbare Güter. Aber einige Menschen verzweifeln schon an der Langsamkeit und mangelnden Entschlossenheit der Politik, das Klima wirkungsvoll zu schützen. Der aktuelle Fünf-Jahres-Plan in China mit seinen ambitionierten Klimazielen sieht deshalb für manche Umweltschützer vielversprechend aus – und wird vielfach als Indiz dafür begriffen, dass ein undemokratischer Staat beim Schutz der Erdatmosphäre kraftvoll vorangehen kann.

Doch China hat zahlreiche Klima-Facetten, die ein verwirrendes Gesamtbild erzeugen. Beim gescheiterten Klimagipfel in Kopenhagen 2009 beispielsweise hat sich China als autoritärer Staat nicht von den meisten demokratischen Staaten unterschieden, mit denen es dort verhandelt hat. Fast alle haben schlicht und stur ihre nationalen Interessen an die erste Stelle gerückt. Fast niemand – außerhalb der dafür auf vielfache Weise lächerlich gemachten Europäischen Union – war dazu bereit, globale Verantwortung zu übernehmen.

Umgekehrt gibt es tatsächlich das China, das sich rasant modernisiert und dabei Großartiges leistet, nicht zuletzt für den Umweltschutz. Von der westlichen Welt wird etwa grob unterschätzt, dass das Reich der Mitte entschlossen ist, ein internes Emissionshandelssystem aufzubauen. Kann also ein zentralistischer Staat ohne Parteienwettbewerb große Transformationsprozesse besser planen und umsetzen? Interessanterweise taugt China gar nicht als Testfall für diese These. Denn das Land ist durchaus anders, als dies von außen erscheinen mag: Vieles wird in der Provinz umgesetzt, vieles ist von Bürgermeistern großer Städte oder auch kleiner Dörfer zu verantworten. Mit anderen Worten, auch China ist letztlich ein ungeheuer zersplittertes, vielfältiges Gefüge von Einflüssen, Machtstrukturen und Entscheidungsbefugnissen mit einer guten Prise demokratischer Anarchie. Die Vorstellung, das Land werde von einer großen Schaltstelle mit perfektem Durchgriff nach unten regiert, ist nur ein Mythos.

Wichtiger ist mir aber Folgendes. Für grundlegende Veränderungsprozesse, mit denen eine Gesellschaft Herausforderungen wie dem demografischen Wandel oder eben der drohenden Klimadestabilisierung zu begegnen sucht, benötigt man vor allem Kreativität und Innovation. Beides wird in demokratischen Gemeinschaften am besten gefördert und genutzt. Chinesische Schüler schneiden beispielsweise in Mathematik bei Bildungsvergleichen hervorragend ab, hinsichtlich Fantasie belegen sie aber nur hintere Plätze. Das ist genau das Problem: Kreativität kann man nicht verordnen. Das gilt für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Die zahllosen Suchprozesse, die notwendig sind, um den Übergang vom fossil-nuklearen zum nachhaltigen Energiesystem zu bewältigen, müssen von vielen umgesetzt und unterstützt werden. Es gibt wohl kein historisches Beispiel dafür, dass eine Diktatur je mehr soziale Fantasie entwickelt hätte als eine offene Gesellschaft.

Die Sehnsucht nach zentraler Steuerung entspringt wohl der Einschätzung, dass das Halten eines einmal gefundenen „richtigen Kurses“ dann leichter fiele. Dies ist jedoch ein doppelter Trugschluss. Zum einen müssen eingeschlagene Wege immer wieder kritisch überprüft werden, um Sackgassen oder gar Abgründe zu vermeiden. Zum anderen stimmt es keineswegs, dass nur eine Diktatur transformative Lösungen gezielt auswählen und rasch vorantreiben kann. Auch eine demokratische Regierung vermag dies zu tun, wenn sie über die entsprechende Mehrheit verfügt. Die Energiewende in Deutschland ist ein gutes Beispiel dafür. Die Bundesregierung hat immerhin einen Ausstieg aus der Kernenergie innerhalb von nur elf Jahren verordnet und zugleich am Einstieg in eine emissionsarme Volkswirtschaft festgehalten. Alles ist auf völlig legitime Weise geschehen, konzipiert und befürwortet durch eine überwältigende Mehrheit gewählter Volksvertreter!

Halten wir also fest: Eine freiheitliche Gesellschaft kann ebenso massive Strategiewechsel durchführen wie Diktaturen. Aber sie hat den – für die Politik zugegebenermaßen gelegentlich lästigen – Vorteil der permanenten kritischen Überprüfung durch die Öffentlichkeit, durch die Medien, ja letztendlich durch die Wähler. Aber sie hat die kreativen Kräfte auf ihrer Seite. Die deutsche Energiewende, die meines Erachtens nicht scheitern wird, ist gerade ein Beweis für – und nicht gegen – die Kraft einer Demokratie.

Wo das eigentliche Problem liegt, zeigt sich regelmäßig bei den sogenannten Weltklimagipfeln. Was uns fehlt, ist eine Weltgesellschaft über konvergierende Konsummuster hinaus. Eine Weltgesellschaft, getragen von Weltbürgern, welche die Lösung jener Probleme vorantreibt, die von Einzelstaaten nicht bewältigt werden können. Kein Weltstaat, der alles regelt bis ins letzte Bergtal des Planeten hinein, sondern einige weltweite Institutionen, welche an die Seite der bunten Staatenwelt treten.

Um das Klima zu schützen, muss man ganz bestimmt nicht nationale Demokratien durch Diktaturen ersetzen, sondern so etwas wie eine globale Demokratie ermöglichen. Das bedeutet sogar, nationale Diktaturen unter verstärkten Liberalisierungsdruck zu setzen. Letztendlich – ja, ich will es aussprechen – wäre aber eine demokratisch gewählte Weltregierung die einzig angemessene Antwort auf unsere Weltprobleme. Ob wir jemals da hinkommen und wie, ist ungewiss. Aber den Gedanken nicht zu denken wagen, wäre ebenso feige wie töricht.

Für diese Weltgesellschaft von Morgen muss wie für die nationalen Gesellschaften von heute gelten, dass sie die Rechte künftiger Generationen ebenfalls zu berücksichtigen versuchen. Unsere ungeborenen Kindeskinder sind diejenigen, die den Klimawandel in seiner zunehmenden Wucht erleben werden. Unser Wohlstand heute geht vielfach auf ihre Kosten. Deshalb habe ich mehrfach vorgeschlagen, Ombudsleute für die künftigen Generationen zu schaffen – gleichsam als Sprecher für diejenigen, die noch keine Stimme haben können. Das wäre eine Erweiterung der Demokratie, keine Beschränkung. Es geht um mehr, nicht um weniger Mitbestimmung.

Für künstlich aufgeblasen halte ich das Argument, dass demokratische Systeme nur zur kurzfristigen Krisenbewältigung in der Lage sind, weil sie im Takt kurzer Wahlperioden denken und handeln. Wahlen finden in demokratischen Gesellschaften alle vier bis fünf Jahre statt. In China werden alle fünf Jahre neue Wirtschaftspläne und Soll-Zahlen aufgelegt. Tatsächlich stelle ich mir die Diskussionen in diversen Politbüros genauso chaotisch vor wie die Debatten in gewissen Fraktionssitzungen des Deutschen Bundestags. Aber macht es das besser? Das kurzfristige Denken ist ein Kennzeichen, das unsere gesamte Epoche bestimmt. Das ist eine soziologisches Herausforderung, keine Krise der demokratischen Regierungsführung. Ich sehe also nicht, wie in den Mechanismen der Diktatur die Langfristigkeit automatisch eingebaut sein sollte.

Die große Widerspruchslinie trennt vor allem diejenigen, die viel besitzen, von denjenigen, die wenig haben. Für den Klimawandel sind von den aktuell rund sieben Milliarden Menschen weitgehend nur rund eine Milliarde verantwortlich. Die anderen sechs Milliarden tragen wenig zu den Treibhausgasemissionen bei, weil sie keinen Zugang zu den entsprechenden Ressourcen haben. Die Besitzenden mit besonderer Klimaverantwortung sind inzwischen in allen Ländern beheimatet. Es sind vor allem die oberen Mittelschichten in China, Brasilien, Indien, in den USA, in Deutschland, wo auch immer.

Entscheidend ist also eher der Gegensatz zwischen arm und reich. Der Satz „Armut ist der größte Umweltkiller“ stimmt einfach nicht, wie die Wissenschaft immer wieder nachweist. Mit dem Wohlstand, getrieben von endlichen fossilen Brennstoffen, steigt der Kohlendioxidausstoß. Natürlich gibt es effizientere Technologien. Aber die Effizienzgewinne werden durch den Mehrverbrauch oder durch neue Verbrauchergruppen, die in die Mittelschicht aufsteigen, aufgezehrt. Drastisch ausgedrückt stehlen die heute Besitzenden den Kindern der Habenichtse ihre Zukunft. Und eine Diktatur schafft es in der Regel viel wirkungsvoller, die Macht- und Besitzverhältnisse eines Landes zu konservieren.

Die letztlich nur ärgerliche Debatte über eine Ökodiktatur wird im wesentlichen von zwei Lagern geschürt. Da gibt es die ehrlich Besorgten, die aufgrund einer relativ naiven Einschätzung politischer Prozesse glauben, es könnte den „wohlmeinenden Diktator“ geben. In Wirklichkeit wird das Gerede von der Ökodiktatur aber gerade von denjenigen inszeniert, denen Umweltsorgen und Umweltvorsorge Ärgernisse sind. Da ist es ein probates Mittel, diejenigen, welche auf die Probleme des übermäßigen Ressourcenverbrauchs hinweisen, als vermeintliche Sympathisanten einer Ökodiktatur zu diskreditieren.

Was wir brauchen, ist eine globale Verfassung, die über die Charta der Vereinten Nationen hinausgeht. Man könnte die Handlungsfelder globaler Institutionen auf drei oder vier entscheidende Herausforderungen begrenzen: die Wahrung der Menschenrechte, den Klimaschutz, vielleicht auch die globale medizinische Versorgung oder die Abwehr von Asteroiden aus dem All. Wer das völlig anders sieht, kann beispielsweise die Rückkehr zum deutschen Zollverein von 1834 fordern, wofür sich angesichts der Krise Europas sicherlich glühende Befürworter finden werden. Es kann doch nicht sein, dass nur die Finanzmärkte den Daumen heben oder senken über die Zukunft ganzer Nationen. Das ist nicht nur die Diktatur des Jetzt – es ist die Diktatur der schnellen Vorteilnahme. Und alles andere als demokratisch.

BRASILIEN
Föderale Republik seit 1989 wieder eine Demokratie

Einwohner: 196,6 Millionen (UN 2011)

Lebenserwartung: 71 Jahre Männer, 77 Jahre Frauen (UN)

BIP pro Kopf: 9 390 US-Dollar (Weltbank 2010)

CO2-Ausstoß pro Kopf/Jahr: 5 Tonnen. Brasiliens hoher Wert erklärt sich durch den Verlust des Amazonas-Regenwalds.

Hans-Joachim Schellnhuber ist Direktor des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderungen der Regierung.

Zur Startseite