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Auch 70 Jahre nach Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte versuchen weltweit Akteure, den internationalen Grundkonsens der Menschenrechte anzugreifen.

© dpa/ Salvatore Di Nolfi

Vor der Bundestagswahl: Menschenrechte müssen zum Leitbild der Politik werden

Wie können und wollen wir unsere Zukunft aktiv gestalten, damit sie eine Zukunft mit Menschenrechten ist? Ein Gastbeitrag des Generalsekretärs von Amnesty International Deutschland.

Mit Menschenrechten beginnt alles. Menschenrechte erlauben uns, Mensch sein zu können. Man selbst zu sein. Sich frei zu bewegen. Darauf vertrauen zu dürfen, nicht versklavt oder gefoltert zu werden; nicht Willkür oder Gewalt ausgesetzt zu sein. Selbstbestimmt entscheiden zu können, woran man glaubt, was man denkt. Sagen zu dürfen, was man denkt – oder eben es auch nicht sagen zu müssen. Offen zeigen zu können, was man liest oder wen man liebt – oder eben dies alles für sich zu behalten. Das Recht, sich nicht gegenüber Anderen oder dem Staat dafür rechtfertigen zu müssen, was wir im vertrauten Kreis sagen; wenn wir „die Mächtigen“ kritisieren oder auf öffentlichen Plätzen demonstrieren.

Dahinter steckt unser zutiefst menschliches Bedürfnis nach persönlicher Freiheit. Nach Privatsphäre. Denn nur sie schützt vor Fremdkontrolle und sichert Selbstbestimmung.

Was ist aus diesem Bedürfnis geworden? Es ist noch da, aber es scheint nicht mehr den gleichen Stellenwert zu haben. Es scheint uns nichts auszumachen, wenn wir auf Flughäfen und Bahnhöfen gescannt und ausgewertet werden. Dass Dienste wie Whatsapp Verzeichnisse anlegen, die Big Brother klein erscheinen lassen. Wenn der Staat unsere Daten sammelt, unabhängig davon, ob wir dafür einen Anlass gegeben haben. Aber es macht etwas mit uns: Das Wissen, beobachtet zu sein, hat immer Einfluss auf uns. Was machen Sie, wenn eine Kamera auf sie gerichtet wird? Je nach Situation lächeln Sie, drehen sich weg oder machen Faxen – auf jeden Fall ändern Sie ihr Verhalten.

Menschenrechte in Deutschland zur Selbstverständlichkeit geworden

Das Recht auf Privatsphäre steht nur beispielhaft für eine Reihe von Themen, bei denen droht, dass wir eine entscheidende Frage aus den Augen verlieren: Wie können und wollen wir unsere Zukunft aktiv gestalten, damit sie eine Zukunft mit Menschenrechten ist? Wie bewahren, ja besser, verteidigen wir unsere Menschenrechte (und die unserer Kinder) für die Zukunft?

Gut 70 Jahre nach Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte versuchen weltweit politische Akteure, die an die Macht drängen oder bereits an der Macht hängen, den internationalen Grundkonsens der Menschenrechte anzugreifen. Sie grenzen Bevölkerungsgruppen aus, erklären friedliche Kritiker, Andersdenkende oder Ausländer zu Gegnern, denen man ihre Rechte absprechen dürfe.

Für uns in Deutschland sind Menschenrechte weitgehend zur Selbstverständlichkeit geworden. Das ist gut so. Für die Frage, in welchem Land wir leben wollen, haben wir einen Kompass: unser Selbstverständnis einer freiheitlich demokratischen Grundordnung mit Gewaltenteilung, Schutz der Bürgerrechte, Teilhabe, Minderheitenschutz und Achtung der Menschenrechte. Aber welches Gewicht räumen wir den Menschenrechten ein, wenn dieses Selbstverständnis auf vielerlei Weise angegriffen wird? Haben wir den Mut, diese Errungenschaft des letzten Jahrhunderts zu verteidigen?

Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland.
Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland.

© Amnesty Deutschland

Wir können und müssen mutiger sein

Hinterfragen wir Verhältnismäßigkeit und rechtsstaatliche Voraussetzungen bei der Einschränkung unserer Freiheitsrechte in der Terrorbekämpfung? Beschäftigen wir uns mit der Frage, wie Gesellschaft und Gesetze gestaltet sein müssen, damit Grund- und Bürgerrechte im digitalen 21. Jahrhundert mit Datenvernetzung, künstlicher Intelligenz und globalen Internetkonzernen gewahrt bleiben? Wie Bildung, Gesundheit, Teilhabe gesichert werden können? Überdenken wir Rüstungsexporte in Krisengebiete? Wie schützen wir Männer, Frauen, Kinder, die vor Verfolgung bei uns Schutz suchen und hier durch rassistische Angriffe bedroht werden? Stehen wir denen zur Seite, die in Ägypten, Honduras oder Indien friedlich für ihre Rechte eintreten und dabei Repressalien ihrer Regierung ausgesetzt sind? Wollen wir wirklich zulassen, dass mit EU-Unterstützung Flüchtende von der libyschen Küstenwache ergriffen und in Haftzentren gebracht werden, wo Misshandlungen, Erpressung und Vergewaltigung an der Tagesordnung sind?

Ja, für die gesellschaftlichen und weltpolitischen Herausforderungen gibt es keine einfachen Antworten. Deshalb braucht es unseren menschenrechtlichen Kompass, um die Richtung zu weisen. Und Mut, um Kurs zu halten.

Wir leben in einem Rechtsstaat, Deutschland ist weltweit geschätzt und beliebt. Wir sind ein wirtschaftlich starkes wie politisch einflussreiches Land. Wir können und müssen mutiger sein. Nach innen und nach außen.

Menschenrechte müssen zum Leitbild der Politik werden

Es ist Zeit, dass wir der neuen Bundesregierung den klaren Auftrag geben, Menschenrechte zum Leitbild unserer Politik zu machen. Es ist Zeit, daran zu erinnern, dass die Mitglieder des neuen Bundestages sich nicht in erster Linie der Fraktionsdisziplin oder „Realpolitik“ verpflichtet fühlen sollten, sondern vor allem der Idee der Menschenrechte, die unter anderem in Artikel 1 unseres Grundgesetzes verankert ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Als Allererstes sind am Sonntag jedoch wir selbst, die wir wählen dürfen, gefragt: Können Partei und Kandidaten meiner Wahl für eine Gesellschaft mit Grund- und Menschenrechten, Teilhabe und Gerechtigkeit für alle eintreten? Wer vorhatte, nicht zu wählen, sollte sich dringend in Bewegung setzen: Es gilt zu verhindern, dass diejenigen, die uns zurück in eine Gesellschaft ohne Menschenrechte für alle Menschen führen wollen, dies tun können.

Das konsequente Eintreten für unser Selbstverständnis und eine Zukunft mit Menschenrechten wird uns in den nächsten Jahren auch manchmal Dinge abverlangen. Aber wenn wir nicht mehr den Mut haben für das uns Selbstverständliche einzutreten – für was dann?

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