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US-Soldat als Stasi-Spitzel: So gehen die USA mit Verrätern um

Spione aus den eigenen Reihen verfolgt Amerika unerbittlich. Das hat auch Jeffrey Carney erfahren. Der US-Soldat war in den 80ern in Berlin stationiert und einer der Top-Informanten der Stasi. Was ihm passierte, könnte Edward Snowden noch bevorstehen. Ein Besuch bei einem Geächteten.

Es war die kaum durchdachte Entscheidung eines damals gerade 19-jährigen Burschen aus Ohio. Eines US-Soldaten, stationiert in Berlin. In einer lauen Berliner Frühlingsnacht im April 1983 klopfte Air-Force-Sergeant Jeffrey Carney an eine Grenzpforte in der Friedrichstraße. Er hatte ein paar Bier zu viel getrunken in der „Harfe“ in Berlin-Wilmersdorf und dann noch einen Abstecher in eine Schwulenbar am Nollendorfplatz gemacht. Keine gute Grundlage, um zu erkennen, welche Wendung dieser Moment seinem Leben geben würde.

Auf sein Klopfen hin öffnete ein Grenzpolizist die Tür am Checkpoint Charlie, sie wurde eine Pforte in ein anderes Leben. Sie führte Carney nicht nur nach Ost-Berlin, auf das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik. Hinter dieser Tür trat Carney ein in die Schattenwelt des Verrats.

Carney, Deckname „Kid“, bot in jener Nacht der DDR seine Dienste an, sein Deutsch war exzellent, sein Einsatzgebiet exquisit. Sogleich wurde er wieder in den Westen geschickt und arbeitete als Angehöriger der „6912th Electronic Security Group“, der er war, knapp drei Jahre für den Ostblock. Er verriet amerikanische Militärgeheimnisse an die Stasi und lieferte vertrauliche Dokumente.

Elf Jahre, sieben Monate, sechseinhalb Stunden

1985 ging er selbst in die DDR aus Furcht, seine Homosexualität könnte auffliegen. Von Berlin aus hörte er die militärischen, diplomatischen Nachrichtenwege des Westens ab, unter anderem auch die seiner früheren Berliner Einheit. Dann kam der Mauerfall, und wenig später der Air-Force-Geheimdienst OSI, der den Verräter 1991 in Ostberlin aufspürte und nach Amerika brachte. Elf Jahre, sieben Monate, 20 Tage und sechseinhalb Stunden hat Carney im Militärgefängnis von Fort Leavenworth gesessen, 2003 kam er frei. Jede einzelne Stunde hat er gezählt, er sagt: „Die Spionage hat mein Leben zerstört.“

Das Leben des Jeffrey Carney ist zwischen steife Aktendeckel gepresst. Zwei seiner sieben Ordner, 3000 Seiten sind es insgesamt, hat er vor sich auf einem runden Bistrotisch im „Boston Stoker“ ausgebreitet. Das „Stoker“ liegt an der 34. Straße in Dayton, Ohio, im Nordosten der USA, 140 000 Einwohner. Draußen pfeift der Herbstwind über die Prärie. Es gab hier mal Industrie, es gab auch mehr Einwohner, 200 000 waren es, jetzt gibt es noch das Militär. Dayton ist ein schlechter Platz für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Carney ist mittlerweile 50, ein kräftiger, großer Mann mit ernsten braunen Augen. Er trägt eine schwarze Jeans und eine schwarze Cargojacke, die aussehen, als seien sie eigens für diesen tristen Ort entworfen. Er blättert durch die Dokumente und zeigt einen DDR-Ausweis, ausgestellt 1985 in Ost-Berlin. Ordentlich abgeheftet hat er auch eine Liste der Gegenstände, die ihm die Stasi für die erste eigene Wohnung bereitgestellt hat, einen Kühlschrank, Stuhl, Esstisch.

Er wollte nicht mehr Jeffrey Carney heißen

Aber kein Dokument zeigt sein Problem so gut, wie sein amerikanischer Führerschein, ausgegeben vom Führerscheinamt Dayton. Die Beamten haben als Namen Jens Karney eingetragen. Er wollte es so, er wollte nicht mehr Jeffrey Carney heißen, als er nach seiner Verhaftung unfreiwillig wieder in den Vereinigten Staaten war. 1994 schon hat er deshalb offiziell seinen Namen ändern lassen.

Sein erstes Leben hatte Karney hinter sich gelassen, als er 1983 erstmals durch die Tür in den Osten getreten war. Sein zweites Leben wurde ihm genommen, als die Mauer fiel und die Jäger des US-Militärs ihn zurück nach Amerika schleppten. Nun ist er wieder nach Ohio gegangen, aber er fühlt sich nicht zu Hause in diesem Amerika. Er ist auch nicht mehr zu Hause in Deutschland. Er ist ein Mann, der durch die Spionage seinen Platz im Leben verloren hat.

Zehn Jahre nach seiner Haftentlassung leidet er unter einem posttraumatischen Belastungssyndrom, ständige Kopfschmerzen begleiten ihn. Eine angemessene Arbeitsstelle habe er hier nicht finden können und kaum Freunde. „Immer wenn ich mich bewerbe, muss ich doch angeben, ob ich vorbestraft bin“, erzählt Karney. Und es wolle doch keiner einen einstellen, der sein eigenes Land verraten hat. Er traut sich nicht, sich zu öffnen und Leuten in seiner Umgebung seine Geschichte zu erzählen. Dabei ist es nicht so, dass er sich schämt. Er bedauere, anderen Menschen Schaden zugefügt zu haben. „Aber ich stehe zu dem, was ich getan habe.“

Für Verräter gibt es kein Pardon

Jens Karney hat in diesem Sommer die Nachrichten über Edward Snowden verfolgt. Snowden hat sich nicht wie Karney mit einem anderen Staat gemein gemacht, sondern lässt als Whistleblower die Öffentlichkeit an seinem Wissen teilhaben. Aber er hat sich wie Karney gegen das amerikanische Paradigma von Militär, Sicherheit und Überwachung gestellt. Beide haben damit, so sieht es die US-Regierung, ihr Land verraten. Für Verräter gibt es in den USA kein Pardon, auch nicht unter dem vermeintlich liberalen Präsidenten Obama. Der Gefreite Bradley Manning ist im August zu 35 Jahren Haft verurteilt worden, weil er 2010 geheime Regierungsdokumente an Wikileaks gegeben hatte. Die Weltmacht vergibt und vergisst nicht, das sollte die Botschaft sein, bei Manning wie bei Jens Karney.

Manchmal fragt sich Karney, ob sie Edward Snowden wohl auch holen kommen, er kann sich ja nicht ewig in Moskau verstecken. Sie werden wissen, wo sie ihn aufspüren können. Irgendwo, irgendwann. Und wenn es, wie bei Karney, acht Jahre dauert.

Es war der 21. April 1991, ein Sonntag. Jens Karney kehrte gerade von einer Urlaubsreise aus Frankreich heim, nach Friedrichshain. Die DDR war untergegangen. Er hatte sich wie viele Ehemalige vom Ministerium zum U-Bahnfahrer ausbilden lassen und war nun eingesetzt auf der Linie 2. Vor seinem Haus in der Pintschstraße 12 parkte an diesem Frühlingsabend ein weißer Lieferwagen. Die Scheiben waren beschlagen. Mögen wohl Ukrainer oder Litauer darin übernachten, dachte Karney, er schöpfte keinen Verdacht. Am nächsten Morgen trat er aus dem Haus, um sich auf den Weg nach Buckow zu machen. Ein neues Auto für sich und seinen Freund wollte er dort kaufen, das war der Plan. Der Lieferwagen stand noch immer da.

In dem Fahrzeug hatten drei Männer eines OSI-Greiftrupps in der Nacht die Stellung gehalten. Im Observationsbericht des Air-Force-Geheimdienstes wird später stehen, dass Technical Sergeant Robert Owens praktisch sicher gewesen sei, Jeffrey Carney identifiziert zu haben, als dieser am Morgen aus dem Haus trat. Karney lief die Pintschstraße in Richtung Kochhannstraße.

Souveränitätsrechte spielten für die Amerikaner keine Rolle

„Sie folgten mir, natürlich wusste ich da, was kommen würde. Irgendwann musste es ja so weit sein“, erinnert sich Karney heute.

„Das Subjekt drehte sich sechs- oder achtmal um“, notierte Special Sergeant Jeffrey Hawkins.

Plötzlich verlor der Dritte im Greiftrupp-Kommando, Special Sergeant Thomas McBroom, „das Subjekt“ aus dem Blick und begann zu rennen. Alle begannen zu rennen, bis auf Karney. Der drehte sich um und wartete, bis die Jäger ihn fassten. Einen Tag später flogen die Amerikaner ihren wertvollen Fang über Tempelhof und Frankfurt nach Washington aus. Deutsche Behörden waren an der Entführung nach heutigem Erkenntnisstand weder beteiligt noch über sie informiert.

Souveränitätsrechte, die Deutschland mit der Einheit errungen hatte, spielten für die Amerikaner keine Rolle. Doch auch im Nachhinein hat die Bundesregierung nur leise protestiert. Karneys Bemühungen, die bundesdeutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen, nachdem die DDR ihm ihre doch geschenkt hatte, wurden zudem preußisch korrekt abgelehnt. Eine deutsche Identität steht Karney, den alles Deutsche schon seit seiner Kindheit fasziniert und dessen Deutsch heute noch berlinerisch klingt, nicht zu.

Die Bescheide stecken noch alle in seinem Aktenkonvolut, aus dem er inzwischen auch ein Buch gemacht hat. Seine Memoiren „Against All Enemies“ sind im August 2013 erschienen.

Die Air Force interessierte sich für den sprachbegabten Jungen

Als knapp 17-Jähriger hatte sich Jeffrey Carney mehr zufällig bei der Air Force gemeldet. Er wollte nur weg aus Cincinnati, weg vom emotional brutalen Vater und einer Mutter, die sich immer wieder quälen ließ. Aber die Rekrutierungsleute der Armee waren nicht da, als Jeffrey vor deren Tür stand. Dafür aber ein Anwerber der Air Force im Büro nebenan. Der interessierte sich für den extrem sprachbegabten Jungen. Und so kam es, dass die Air Force Carney nach der Grundausbildung als Abhörspezialist in Berlin einsetzen sollte.

Für wen er dort noch arbeiten würde, erfuhr Carney erst, als er am 21. April 1982 den Fuß erstmals auf deutschen Boden setzte: „Die NSA war unser Pate“, erinnert er sich heute noch mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Schaudern. Die Air Force arbeitete der National Security Agency auch von Berlin aus zu. Und wie heute hatte auch in den 80er Jahren die Abkürzung NSA einen allmächtigen, geheimnisvollen Klang. Von da an saß Carney mit seinen Kopfhörern an einem Pult in Berlin-Marienfelde und hörte, wie sich die DDR-Flieger verständigten. Mal hat er mitgeschnitten, mal nur Notizen gemacht. Was mit den Informationen geschah, war dann nicht mehr seine Sache.

Was dann folgt, erinnert sehr an die innere Not Bradley Mannings: Ein junger schwuler US-Soldat spürt die Verachtung seiner Kameraden. Er sieht sich als Person in die Enge getrieben, und dann stößt er auf Dinge, die ihm politisch wie persönlich nicht behagen. Die Hubschrauberhetzjagd auf Unbewaffnete in Bagdad war es, die Manning aufgewühlt hat, Provokationsflüge der Amerikaner am Eisernen Vorhang machten dem jungen Carney Angst, sie könnten einen Atomkrieg auslösen.

Der Verrat wird zu einem Ventil.

Ein Schaden in Höhe von 14,5 Milliarden Dollar

Nachtschicht um Nachtschicht machte sich Carney künftig vom US-Quartier in Berlin-Tempelhof am frühen Abend mit dem Fahrrad auf, um eine präparierte Lipton-Eistee-Dose abzuholen. Im hohlen Boden konnte er eine schwarze Minox-Kamera und Filme transportieren. Während der Schicht fotografierte er Dokumente oder stahl Originale. Am nächsten Morgen übergab er sie dann seinem DDR-Kontaktmann oder brachte sie zu einem toten Briefkasten im Wald. Carney brachte Trainingshandbücher für Abhörspezialisten, gab einen ungeschützten Telefonverteiler der US-Streitkräfte im Berliner Grunewald preis und informierte den Ostblock über Pläne des Westens gegen die Kommunikationsinfrastruktur des Ostens.

Auch als Carney nach Ablauf seiner zwei Jahre in Berlin nach Texas zurückversetzt wurde, betrieb der Spion seine Dienste für das sozialistische Deutschland weiter. Von der Goodfellow Air Force Base aus brachte er seine Berichte persönlich über die Grenze zu einem Stasi-Kontaktmann nach Mexiko. Später wird es heißen, Carney habe der US-Armee einen Schaden in Höhe von 14,5 Milliarden Dollar zugefügt.

Noch mehr als in Berlin aber fühlte sich Carney in Texas wie ein Fremder. Psychisch stark angeschlagen setzte er sich im Herbst 1985 deshalb unerlaubt von seiner Truppe ab und klopfte bei der DDR-Botschaft in Mexiko an. Über Kuba wurde Carney nach Ost-Berlin zurückgebracht und später, als er sich erholt hatte, dort als Abhörspezialist gegen die Amerikaner eingesetzt. Bis das Ministerium für Staatssicherheit zu existieren aufhörte und aus dem Air-Man Jeffrey Carney der U-Bahnfahrer Jens Karney wurde.

Karney ist nicht angekommen

In einer kleinen Einfamilienhaussiedlung im Norden von Dayton steht Karney vor seinem Haus. Er zeigt es, leicht verschämt. Dem Besucher erlaubt er nur einen Blick von außen auf den Bungalowbau aus roten Klinkern. Er teilt sich das Haus mit anderen Ex-Gefangenen, deshalb will er nicht hineinführen. Wegen der Privatsphäre meint er. Im Gefängnis hatte ihn ein Air-Force-Offizier angeschrieben. Einer, der sich aus christlichen Motiven der gefallenen Seelen annimmt. In dessen Haus lebt Karney jetzt und hat die Rolle des Hausmeisters. Einen Adoptivsohn aus schwierigen Verhältnissen hat er auch bei sich aufgenommen. Aber Karney, wie er da steht, wirkt nicht wie einer, der angekommen ist. Er liebe sein Land. Nichts wünsche er sich sehnlicher, „als in Amerika wieder zu Hause sein zu können“. Aber: einmal Spion, immer Spion. Diese Lektion hat Karney gelernt. „Du kommst irgendwann raus. Aber es ist nie vorbei.“

Von seinem Heim aus fährt Karney in Richtung Süden den Brandt Pike entlang. Zehn Autominuten entfernt liegt das National-Air-Force-Museum, drei riesige graue Hangars. Die Hallen sind vollgestopft mit Bombern aus all den Kriegen, die die Vereinigten Staaten geführt haben. Im zweiten Hangar ist ein Trakt, den Karney regelmäßig besucht. Ein Foto zeigt ihn in Lebensgröße, zwei Stelltafeln erzählen seine Geschichte. „Unglücklicherweise haben auch Angehörige der Air Force gegen die Vereinigten Staaten spioniert“, steht hier in einem großgedruckten Text. „Der Fall von Jeffrey M. Carney ist ein Beispiel, wie Menschen in Versuchung kommen können, sich gegen ihr eigenes Land zu wenden.“

Zumindest sein Platz in der Geschichte ist Jens Karney mittlerweile zugewiesen worden.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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