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Gegen die "Gender-Ideologie" - so wurde 2016 in Hessen gegen den neuen Sexualkunde-Lehrplan demonstriert.

© Boris Roessler picture alliance / dpa

Urteil zu Sexualkunde: Fantasie steigert die Erregung

Schulische Aufklärung wird als politisches Thema überschätzt. Die Sorge vor "Frühsexualisierung" beruht auf Misstrauen gegen sich selbst. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Immer schlecht, wenn Aufklärung mit einem Missverständnis beginnt. So war es auch vor ein paar Jahren im Schweizer Kanton Basel, als dort die Sexualkunde im Grundschulalter begann. „Sexbox“ wurde die Kiste mit Unterrichtsmaterial genannt, die neben zwei Puppen (klassisch: Mädchen und Junge) vor allem Lesestoff enthielt. Eher harmlos, aber weil es noch eine Sexbox für Ältere gab, mit Holzpenis und Plüschvagina, bestand Verwechslungsgefahr, die von interessierter Seite gefördert wurde. Jetzt müssen die Kleinsten Penetration erlernen, so sah es aus, weshalb bald das in Deutschland auch in CSU- und AfD-Kreisen benutzte Schlagwort von der „Frühsexualisierung“ die Runde machte – und eine Reihe von Eltern auf die Bäume brachte.

Ziel sei, Kinder vor Missbrauch zu schützen, meint das Gericht

Von dort holte jetzt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) das letzte verbliebene Paar herunter. Am Donnerstag wies er die Klagen auf Unterrichtsbefreiung zurück und bestätigte das Recht des Schweizer Staates, Kinder zu derartigen Lehrstunden zu verpflichten. Schließlich gelte es, sie vor Missbrauch und sexueller Gewalt zu schützen, hieß es. Außerdem sei das Unterrichtskonzept zurückhaltend, es solle nur auf Fragen eingegangen werden.

Derartiges zu belächeln, hieße, zu unterschätzen, was viele bewegt. Beim Thema Sexualkunde stehen Rechte und Ansprüche von Eltern, Kind und Staat in einem empfindlichen Verhältnis. Es geht um Innerstes. Auch in Baden-Württemberg kam es zum Aufstand, als die Regierung die Lehrpläne mit schwul-lesbischen Inhalten modernisierte. Das Intime wird schnell politisch. In Basel war es der Gedanke an den Holzpenis, in Stuttgart die Sorge, Kinder könnten in Praktiken unterwiesen werden, die sich außerhalb traditioneller Ehehygiene bewegen.

Die Schamkultur erneuert sich auf sympathische Weise

Nur ist es dabei wie mit dem Sex insgesamt: Die Fantasie hat eine mindestens so große Bedeutung wie die Realität. Viele Vorstellungen von dem, was da in den Schulen abläuft, eignen sich zwar für Empörung und Mobilisierung. In Wahrheit aber bleibt die Sexualkunde, was sie immer war. Ein bisschen spröde, bei Älteren manchmal etwas peinlich, bei Kindern vor der Pubertät ein Nachdenken über die eigene Körperlichkeit. Dies alles im Kontext einer Schamkultur, die sich trotz 68er-Revolution, Dauer-Emanzipation und Netzpornos immer wieder auf sympathische Weise erneuert.

Es zählt, was Mama und Papa sagen

Nach allem, was man weiß, ist die in manchen Kreisen gefürchtete „Frühsexualisierung“ etwas, das Eltern weit mehr zusetzt als ihren Kindern. Dass Kinder in Sachen Sexualkunde einen Bezugspunkt außerhalb des Elternhauses haben, unter staatlicher Obhut und Kontrolle, fördert die Autonomie. Was Mama und Papa sagen, bleibt ohnehin das Wichtigste. Eltern, die das vergessen, hegen kein Misstrauen gegen den Staat, sondern gegen sich selbst.

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