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"Und erlöse uns von allen Üblen" #95: Kleopatra jagt weiter

Der Mörder aus Überzeugung beginnt ein neues Leben. Der Kontakt zur Polizeireporterin reißt ab. Ein Fortsetzungsroman, Teil 95.

Was bisher geschah: Mit einer Falschmeldung zum Mordfall Freypen wird die Journalistin Hofwieser aus der Schusslinie gebracht. Sie will in Ruhe ihr Buch schreiben.

In 100 Teilen bis zur Bundestagswahl 2017 erscheint der Politkrimi "Und erlöse uns von allen Üblen" online als Fortsetzungsroman im Tagesspiegel. Hier Folge 95 vom 18. September.

"Was ist denn das für ein neuer Geheimbund, die Assassinen?", fragt in Berlin bei der Morgenlage ausgerechnet die Ministerin aus Mecklenburg-Vorpommern, in deren bräsigem Dialekt sich das Wort Assassinen wie der Name eines Faschingsvereins anhört. Der Innenminister antwortet ihr ernsthaft. Er habe auch keine Ahnung, wer hinter diesen Assassinen steckt. Nachfragen beim Verfassungsschutz und beim Bundesnachrichtendienst waren ergebnislos geblieben und die zuständige Ermittlerin hatte ihm sogar vorgeschlagen, umgehend diese abenteuerliche neue Verschwörungstheorie zu dementieren. Nach ihren Erkenntnissen, so Susanne Hornstein und sie hatte ganz bewusst dabei hoch gepokert, entspreche absolut nichts davon irgendwelchen belastbaren Erkenntnissen. Ihm sogar angeboten, noch einmal nach Hamburg zu fahren, und sich erneut um Details in den Fällen Freypen und Schwarzkoff zu kümmern. Was der Minister ablehnte, denn dieser Artikel war nicht etwa schädlich, wie er dank politischer Erfahrung erkannte, nur frei erfunden. "Wir wissen es nicht, wir wissen es wirklich nicht", antwortete er deshalb seiner Kollegin, "keiner hat von denen je etwas gehört, ich meine, in der Jetztzeit. Historisch natürlich. Weil das alles aber schön passend Verwirrung stiftet, werden wir das Ganze nicht mal dementieren. Wir lassen das einfach unkommentiert so stehen. Die Botschaft, dass wir in unsicheren Zeiten wie diesen die einzige stabile Größe sind, diese Botschaft wird unterschwellig ankommen, das habe ich im Gefühl. Assassinen sollen mir dabei recht sein, auch wenn es sie gar nicht gibt."

Die politische Reaktion in Berlin war  also genau so, wie es Lionel Zartmann vorausgesagt hatte. Daran denkt er allerdings nicht mehr, als er nach der Landung in Amsterdam und dann nach der Ankunft in Den Haag immer wieder, sowohl auf dem Festnetz als auch auf dem Handy, die Nummer von Andrea Hofwieser wählt. Das Klingeln kommt an, aber sie nimmt nie ab.

Dass Karl Mulder zu elf Jahren Haft verurteilt worden war, erfuhr Lionel Zartmann Wochen später durch eine Email seines Freundes Alain. Die Höhe der Strafe schien ihm angemessen, der Fall Schwarzkoff an sich interessierte ihn nicht mehr. Offiziell endete seine Dienstzeit bei EUROPOL zwar erst in zwei Wochen am 1. Januar 2016, aber er war bereits da angekommen, wo er seine Zukunft sah, und da gab es keine Zeitungen, die Meldungen über verurteilte Mörder aus Deutschland druckten und auch bei seinem täglichen Blick auf SPIEGEL Online noch vor dem Frühstück war die Höhe der Strafe nur noch eine kurze Nachricht wert. Selbst der anonyme Mob, der sonst alles und jeden beschimpfte, hatte Besseres, also Schlechteres zu tun als Mulders Fall zu kommentieren.

"Wie geht es deiner Katze?", mailte er statt dessen neugierig als Antwort und Retin verstand sofort, was Zartmann eigentlich wissen wollte. "Kleopatra geht es sehr gut", schrieb er, "sie hat gerade erst eine besonders dicke Maus gefangen. Sie vermisst dich und deine kleinen gebratenen Zuwendungen, also muss sie jetzt selbst auf die Jagd gehen."

Was Retin damit meinte, hatte wiederum Lionel sofort verstanden. In den vergangenen Wochen hatte irgendwo auf der Welt die Gerechtigkeit dank Kleopatra einen ihrer seltenen Siege errungen . War die dicke Maus jener tödliche Autounfall des russischen Gazprom-Managers, der früher beim KGB für Gegenspionage zuständig gewesen ist? Oder waren es die Enthüllungen über die britische UKIP, deren Abgeordnete im Straßburger Parlament Stimmung machten gegen Europa, sich nichtsdestotrotz aber schamlos aus europäischen Subventionstöpfen bedienten, wie die Öffentlichkeit durch plötzlich aufgetauchte Emails erfahren hatte. Die Behauptung von Parteiführer Nigel Farage, es handele sich um geschickte Fälschungen, glaubten ihm viele seiner bisherigen Wähler nicht  und wollten es ihm bei der nächsten Wahl heimzahlen.

Die Muster Mord, getarnt als Unfall, und Rufmord mit Hilfe der Veröffentlichungen von Geheimdokumenten, passte ideal zur Methode Kleopatra. Zartmann fühlte sich ausgeschlossen. Keiner hatte ihn um seinen Rat gefragt. Du wolltest es nicht anders, wies er sich selbst zurecht. Du wolltest aufhören, niemand hat dich dazu gezwungen. Umso besser, wenn dich die anderen schon jetzt nicht mehr brauchen. Dennoch kam er sich ein wenig vor wie ein ehemaliger Firmeninhaber, dem das neue Management als Berater zwar noch ein Büro zur Verfügung stellte, aber nichts mehr von ihm wissen wollte.

Am Abend rief er Alain an. Da sie es untereinander immer vermieden hatten, mehr am Telefon zu sagen als das, was jeder zufällige  Lauscher hätte erfahren dürfen, behielt er seine Gedanken für sich. Der Franzose merkte aber an Lionels knapper nächster Frage- "Irgendwelche Post für mich?"- , dass sein Freund beleidigt war. Das freute ihn.

"Nein, nichts", sagte er genüsslich, "nur die üblichen Einladungen zu Vorträgen oder Fortbildungskursen, aber das brauchst du ja nicht mehr. Ach, fast hätte ich es vergessen, da war die Anfrage einer Journalistin, die was wissen will zum Fall Barschel. Peter hat noch was entdeckt, was noch nicht gar zu bekannt ist, aber auch nicht so geheim, und das haben wir ihr mit ein paar unverbindlichen Zeilen in deinem Namen geschickt."

"Bist du wahnsinnig, das ..."

"Ich weiß, wer das ist, Lionel, wir haben ihr natürlich nichts geschickt, und erst recht nicht in deinem Namen., sondern nur deine neue Adresse und die neue Email mitgeteilt. Wir können schließlich nicht entscheiden, ob du überhaupt Fragen von ihr beantworten willst oder lieber nicht. Das ist deine private Angelegenheit."

Dabei lachte er wissend so frech, dass auch Lionel nicht anders konnte als in das Lachen einzustimmen.

Er hatte seinen Ausstieg nie bereut, es fehlte ihm nicht der Reiz des unverhofften Abenteuers, aber manchmal fehlten ihm seine Freunde. Der Abschied von EUROPOL war ihm schwer gefallen. Am letzten Abend vor seinem Abflug in der bis auf die Küche und den großen Esstisch schon leergeräumten Wohnung in Den Haag hatte er noch einmal für alle gekocht, und sich selbst dabei übertroffen: Knusprige Makrelen und Rotaugen in Gemüseschaum, leicht gesalzene in Rhabarber pochierte Ente, zum Nachtisch Quarkkuchen auf Rosenblättern. Für ihn roch es trotzdem säuerlich nach Rente und nach Altenteil. Doch genau das Gegenteil hatte er vor: ein neues und auf andere Art span­nendes Leben. Alain und Peter und Ruud, die seit jenem Treffen im Sommer seinen künftigen Wohnort kannten, konnten seiner Sehnsucht zumindest einen konkreten Namen geben. Sie vermittelten in ihrer typischen Spottlust, die er früher phantasievoll gekontert hätte, durch einstudierte Sketche ihm dennoch ganz gezielt ihre Botschaft, dass er mehr verlieren würde als sie. Das war ihre Art von subtiler Rache an seinem Aus­stieg, um den sie ihn in Wahrheit aber beneideten.

Peter McFerrer, der es geschafft hatte, nicht nur seine Frau, sondern sogar seine vier Töchter in den Auftritt einzubauen, sang nach der Vorspeise im Chor seiner Familie wie am Grab eines zu früh Verstorbenen Amazing Grace . Ruud van Rey erzählte nach dem Hauptgang von einem alten Weintrinker, der im Keller mit all seinen Flaschen eingeschlossen war, sich langsam, aber glücklich durch die besten Jahrgänge soff und plötzlich in einem fernen Land als Küchen­junge bei Kentucky Fried Chicken aufwachte. Alain Retin war sich selbst treu geblieben. Während er sonst mit geklauter Lyrik toter Dichter sperrige Frauen betörte, nahm der intellektuelle Träumer diesmal das Gedicht An die rothaarige Bettlerin von Charles Baudelaire, das er auf ein Liebespaar namens Lionel und eine ganz bestimmte Rothaarige umgeschrieben hatte.

Danach versprachen sie feierlich, Lionel spätestens im kommenden Frühjahr zu besuchen, aber Peter nahm das Pathos aus der Ankündigung, weil er ihn an die Bedingungen erinnerte, unter denen sie seinem Abschiedsgesuch zugestimmt hat­ten: "Das Motto lautet: Alle zu einem, und da dann einer für alle. Und einer für alle heißt: Du zahlst alles für alle." Das Original des Gedichtes übrigens fand Zartmann am anderen Tag im Bad mit einem Zusatz in Alains Handschrift. "Vielleicht kannst du es noch mal in der ursprünglichen Form brauchen: "Und das Tuch, das leicht sich löst, Zeig' dem sünd'gen Blick entblößt Deiner Brüste strahlend Paar, Wie zwei Augen klar."

Zartmann musste an diesen Abend denken, als das Gespräch mit Alain beendet war und er wieder an seinem Schreibtisch saß. Der stand im obersten Stockwerk eines in englischer Tradition gebauten reetgedeckten Cottages am Rande eines großen Gartens, verborgen hinter struppigen, dichten Hecken, die auch dann Schutz vor unerwünschten Blicken boten, wenn sie bereits alle Blätter verloren hatten. Zum Haupthaus des Désirade und zum Pool, wo sie vor einigen Monaten gesessen hatten, um über Freypen zu entscheiden, waren es nur knapp hundert Meter. Die ging Lionel Zartmann, der sich in das Hotel von Charles de Polex eingekauft hatte, jeden Tag.

Kriminaldirektor Lionel Zartmann, einer der Topexperten der internationalen Polizei, wie bekannt, mehrfacher Mörder aus Überzeugung, wie nicht bekannt, war Mitbesitzer und gleichzeitig bei Bedarf auch Koch des Hotels geworden. Er plante nicht mehr den perfekten Mord, er plante statt dessen das perfekte Menue, das er zum Beispiel an Ostern zubereiten wollte.

Charles de Polex empfand seinen neuen Partner als ideale Ergänzung auch wegen der gemeinsamen Schwäche für britische Lebensart. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Zartmann noch Strategien entwickelt, die sogenannten Kunden auf den Fahndungslisten von EUROPOL einzufangen. Jetzt benutzte er seinen kühlen Verstand für ganz andere Strategien, aber um Kunden ging es letztlich auch, um möglichst viele Gäste fürs Hotel.

Alle Versuche, mit Andrea Hofwieser vor seinem Wechsel wenigstens noch einmal zu reden, waren gescheitert. Sie war einfach nicht erreichbar gewesen. Selbst ihre Emailnummer existierte scheinbar nicht mehr, die Nachrichten wurden mit dem Vermerk Mail Demon Delivery , nicht zustellbar, an ihn zurück gesandt. Nachdem er es vergeblich sogar auf ihrer Festnetznummer versuchte, hatte er schließlich Georg Krucht in Hamburg angerufen und sich unter alten Kollegen erkundigt, ob es im Fall Freypen denn neue Erkenntnisse gebe? Diese Reporterin zum Beispiel, diese Frau Hofwieser, die mal bei ihm in Den Haag gewesen sei, schrieb die wirklich ihren angekündigten Politthriller? Nein, es gebe nichts Neues.

Was diese Andrea Hofwieser betraf, die sei angeblich untergetaucht. Irgendwo an der Algarve, hatte ihm jemand von der Abendpost erzählt. Um ungestört zu schreiben, vielleicht aber auch aus Angst vor diesen seltsamen Schlägertypen der Nationalen Alternative. Der Brief, den Zartmann daraufhin  an die Redaktion geschickt hatte mit der Bitte um Weiterleitung, war nach drei Wochen ungeöffnet zurückgesandt worden. Danach hatte er es endgültig aufgegeben und war jetzt sogar froh, dass sie seinen Zeilen nie bekommen hatte. Aus denen hätte man entnehmen können, wie sehr er sie vermisste. Heute war Andrea Hofwieser nur noch eine Erinnerung, an jedem Tag wurde sie ein bisschen blasser.

Das glaubst auch nur du, sagte sein anderes Ich, der alte Zartmann, und freute sich, dass er letztlich recht behalten hatte. Ich habe dich immer gewarnt vor dieser Frau, mein Sohn. Die wirst du nicht mehr los, Lionel. So oder so. Warten wir's ab, sagte der, warten wir's ab. Jetzt hat sie durch Alain meine Adresse, jetzt liegt es an ihr sich zu melden.

Und morgen lesen Sie: Der Erfolg der Nationalen Alternative macht die anderen Parteien nervös.

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