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"Und erlöse uns von allen Üblen" #89: Kleopatra droht Gefahr

Die Polizeireporterin bekommt Gewissensbisse. Und auch der Mörder kommt ins Nachdenken. Ein Fortsetzungsroman, Teil 89.

Was bisher geschah: Chefermittlerin Hornstein hat ihren Abschlussbericht vorgelegt. Außer ihr sind alle zufrieden damit.

In 100 Teilen bis zur Bundestagswahl 2017 erscheint der Politkrimi "Und erlöse uns von allen Üblen" online als Fortsetzungsroman im Tagesspiegel. Hier Folge 89 vom 12. September.

Das Farbfoto von der Beerdigung Jens-Peter Schwarzkoffs erschien auf der ersten Seite seiner Zeitung. Die Witwe hat die Leiche, die bereits 24 Stunden nach der Tat freigegeben worden war, einäschern lassen und dann kurz hinter Cuxhaven auf dem Meer verstreut. Angeblich sei das der Wunsch ihres Mannes gewesen, erklärte sie Freunden, die sich konsterniert bei ihr meldeten, nachdem sie das Bild mit der einsam schwimmenden Rose und kaum erkennbaren Rußflocken auf grau-grünen Wellen gesehen hatten. In Wirklichkeit hatte ihr Mann nie über den Tod mit ihr gesprochen. Sie wollte die angesichts der Prominenz des Verlegers voraussehbare offizielle Trauerfeier mit den üblichen Heerscharen von Kameraleuten und Fotografen vermeiden, vor allem sich selbst das Defilee der verlogenen Beileider ersparen, und das war ihr gelungen. Das Foto auf hoher See hatte sie selbst aufgenommen und auch dabei keinen Schmerz gefühlt.

Verloren hatte Julia Schwarzkoff ihren Mann schon vor ihrer Hochzeit und nicht erst jetzt. Verlassen hatte er sie schon vor sechsunddreißig Jahren, wenn auch nicht physisch, aber das machte schon lange keinen Unterschied mehr für sie. Sie hatte im Gegenteil das Gefühl einer Freiheit, an die sie nicht mehr geglaubt hatte.

Andrea Hofwieser ging es ähnlich wie Susanne Hornstein, sie fühlte sich mitschuldig am Tod Schwarzkoffs. Ihre Aussage war es schließlich, die zu seiner Verhaftung geführt hat, und letztlich zu den tödlichen Schüssen. Er hatte für eine versuchte Vergewaltigung mit seinem Leben bezahlt. So brutal ließen sich die Tatsachen in einem Satz zusammenfassen. Da sie gelernt hatte, zwar allen anderen, aber sich selbst nie etwas vorzumachen, suchte sie nicht nach Ausflüchten, die ihr Gewissen beruhigen konnten. Ihre Wohnung hatte sie seit Tagen nicht mehr verlassen, denn die Verbindung zwischen der im Artikel genannten geheimnisvollen Andrea H. und der wirklichen Andrea Hofwieser hatte selbst der dümmste Reporter herausbekommen. Einige dieser Dummköpfe standen vor der Tür und warteten auf einen Abschuss, also ein Foto, wenn sie das Haus verlassen sollte. Sie ließ sich deshalb alles liefern, was sie brauchte. Da sie die üblichen Tricks in solchen Fällen kannte, beispielsweise als Lieferanten verkleidete Journalisten, bat sie die pensionierten Redakteure, die auf ihrem Flur wohnten, um kollegiale Hilfe. Eine Bitte, die von denen gern erfüllt wurde. Die kauften ein für sie und fühlten sich so jung wie einst, als Tarnung und geheime Treffen ihren journalistischen Alltag spannend gemacht hatten.

Das dauernde Telefongeklingel hatte sie trotz Anrufbeantworter genervt, aber ihre Handynummer kannten nur wenige. Der Chefredakteur ihrer Zeitung zum Beispiel, aber der hatte sich erstaunlicherweise gar nicht gemeldet. Dass sie diese für ihn atypische Diskretion ausgerechnet Julia Schwarzkoff zu verdanken hatte, ahnte sie nicht.

Mit wem sonst sollte ich reden?, entschuldigte sie sich selbst, als sie Lionels Nummer in Den Haag drückte. Wieder nur die Stimme vom Band und die Aufforderung, eine Nachricht zu hinterlassen. Sie versuchte es in seinem Büro. Die Sekretärin konnte sich an ihren Namen erinnern - Sie haben doch diesen Brief an den Herrn Kriminaldirektor geschrieben? - , aber sie bedauerte, nicht durchstellen zu können. Er habe außer Haus ein wichtiges Meeting mit Kollegen und sie werde ihm morgen früh ausrichten, dass sich Frau Hofwieser gemeldet habe.

Anfangs hat Ruud van Rey noch ein wenig mürrisch gemurmelt, er sei wirklich sehr gespannt, ob das von Lionel einberufene Treffen wirklich so dringend sein würde. Nach dem ersten Glas Wein aus den Vorräten Zartmanns, die er nur für ganz besondere Gelegenheiten aus einem von ihm gemieteten Höhlenkeller holt , vergisst der Holländer seine schlechte Laune. Er hebt fragend den Blick zu ihrem Gastgeber. "Ein Hermitage von Chave", sagt Lionel Zartmann und macht die Geste des Nachschenkens, "bedient euch bitte selbst, ich habe zu tun." Er prüft die Temperaturen im Backofen, sticht mit einer Gabel vorsichtig in wie silberne Geschenke verpackte Kartoffeln in Alufolie und nimmt dann auch selbst einen Schluck aus seinem Glas.

Peter McFerrer sitzt zusammen mit Alain Retin auf dem Boden vor dem Stapel von Jazz- Schallplatten, die ihr Gastgeber gerade auf einer Auktion aus dem Nachlass eines Sammlers erworben hat. Ab und zu hört man bewunderndes Raunen, wenn sie wieder eine seltene Kostbarkeit entdeckt haben, die sie dann auf der Stereoanlage kurz anspielen.

"Wie habt ihr es eigentlich hinbekommen, dieser Bank, wie hieß sie nochmal.. ", fragt Ruud seinen britischen Kollegen

"Seeman Brothers."

"Richtig, Seeman Brothers, also wie hat es funktioniert, dass plötzlich auf deren  Rechnern eindeutige Belege dafür zu finden waren, dass sie für die Ndrangheta oder auch die Russenmafia Geld waschen würden?"

"Ich erkläre es dir mal einfach. Man kann, wenn man die Mittel hat und die Methoden kennt, nicht nur Einträge auf Facebook löschen oder die Propagandavideos der IS-Schlächter zerstören oder den Schleusern einen Virus überspielen, der ihre gesamte Infrastruktur lahmlegt. Sondern auch eigens hergestelltes Material wie ein trojanisches Pferd, deshalb Trojaner, insgeheim bei denen von der anderen Straßenseite installieren. Und dies dann bei Gelegenheit gegen sie als Beweismittel verwenden."

"Dürft ihr das denn? Ist ja hier bei EUROPOL wohl kaum erlaubt. In Deutschland erst recht nicht. Die streiten sich ja noch immer darum, ob man gewisse Daten von gewissen Verdächtigen wenigstens zehn Wochen lang speichern darf oder ob das ein Eingriff ist in die Privatsphäre unschuldiger Bürger."

"Inzwischen dürfen wir es", mischt sich Lionel aus der Küche heraus ein, "aber nur nach richterlichem Beschluss."

"Und das glaubst du, Lionel? Ich wette, dass in Gefahr und Not, wie das bei euch so schön heißt, kein Richter mit einem Antrag auf Erlaubnis belästigt wird. Weiß man doch spätestens sei Edward Snowdens Enthüllungen, dass sich vor allem unsere amerikanischen Freunde von der NSA einen Teufel darum scheren, ob etwas erlaubt ist oder nicht", antwortet Red und erzählt dann weiter von jenem "Rufmord", nach den ihm Alain fragte.

"Also. Wir haben ja unser berühmtes CCTV Überwachungssystem in London. Schätzungsweise eine Million Kameras. An besonderen touristischen Highlights der Stadt haben wir zusätzlich die modernen Gesichtserkennungssoftware eingebaut. Auch im Bankenviertel. Eines Tages meldete das System von den Überwachungskameras am Eingang von Seeman Brothers eine Übereinstimmung von bestimmten seriös auftretenden Kunden der Bank mit Typen, die per internationalem Haftbefehl gesucht wurden. Wir ahnten zwar lange schon, dass die Bank als Geldwaschanlage für kriminelle Organisationen diente, aber beweisen konnten wir nichts. Ein Kollege bei MI 5 hat nach der Alarmmeldung mittels einer bestimmten Software, die wir dann auf deren Buchhaltung überspielten, schmutzige Geschäfte in Höhe von 750 Millionen Pfund eingebaut, alles belegbar durch Transfers mit Daten, Uhrzeit, Summe. Diese Festplatten haben wir dann bei einer Razzia am nächsten Tag konfisziert und hatten dadurch Beweise, die wir selbst wasserdicht gemacht hatten. Die Bankmanager konnten sich die Vorgänge nicht erklären, weil sie sicher gewesen waren, sorgfältig alle Spuren vermieden zu haben, die zu ihren eigentlichen Kunden geführt hatten. Half ihnen aber nichts. Sie wurden verhaftet, verurteilt, die Bank geschlossen. Ihre Anwälte sprechen  noch heute von Rufmord. Womit sie eigentlich recht haben."

Er lachte.

Während des Essens herrscht fast andächtiges Schweigen, im Hintergrund läuft eine knisternde Live-Aufnahme des letzten Auftritts von Richard Tauber 1947 als Octavio in Mozarts Don Giovanni.  Zartmann hatte seinen Freunden zunächst einen Langustinensalat mit Olivenöl und Trüffeln vorgesetzt und danach Kartoffeln mit Schweinsfüßen und Foie Gras gefüllt. Eine eigene Kreation.

"Zur Sache, Leute", beginnt dann ihr Gastgeber, dem sie mit erhobenen Gläsern für seine Kochkunst zugetoastet haben, "warum ich euch zu diesem Abend gebeten habe. Also: Ich muss nicht die ganze Geschichte noch einmal erzählen, die kennt ihr ja. Vor zwei Tagen ist der Hauptverdächtige in diesem Mordfall nach seiner Freilassung aus der Untersuchungshaft erschossen worden. Einer von Freypens Leuten, Karl Mulder, ist der Schütze. An seiner Verurteilung dürfte kein Zweifel bestehen."

Macht dann eine kleine Pause, in der er sich umständlich eine Zigarette ansteckt: "Unsere Regeln besagen aber, dass eine Aktion dann nicht durchgeführt werden darf, falls Unschuldige darunter leiden würden. Schwarzkoff ist, wie ihr besser wisst als andere, unschuldig. Er hat Freypen nicht ermordet. Eigentlich ist auch der unschuldig, der ihn erschossen hat, denn auf die Idee wäre er nie gekommen, wenn er gewusst hätte, dass der mit dem Attentat nichts zu tun hat."

"Aber das ist alles passiert, nachdem du ... nachdem Freypen gestorben ist. Es bestand kein Anlass, während der Vorbereitung oder während der Ausführung die Aktion abzubrechen. Es ging nur um dieses Schreibtischmörder, um niemand sonst. Da gab es keine Unschuldigen, die plötzlich, sagen wir mal so, in dein Schussfeld geraten sind. Also konnte von Dir auch keine Regel verletzt werden", erwidert Alain und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. "Wenn man Täter mit den Mitteln des Rechtsstaates nicht erledigen kann, dann erledigen eben wir sie."

Für ihn ist das alles logisch und es besteht nicht der geringste Anlass zu Selbstkritik. Er spürt jedoch die Gefahr, die seiner geliebten Kleopatra droht. "Wer die Schlechten verschont, verletzt die Guten", setzt er noch nach und als ihn die anderen fragend anschauen, verzichtet er sogar auf seine üblichen Scherze, dass sie alle zu ungebildet seien, um ihm folgen zu können: "Stammt von Publilius Syrus, römischer Dichter, lange vor Christus."

Und morgen lesen Sie: Der Freypen-Mörder will sich einen Lebenstraum erfüllen.

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