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"Und erlöse uns von allen Üblen" #88: Die Ermittlerin macht sich Vorwürfe

Der Innenminister ist mit dem Abschlussbericht zum Mordfall Freypen zufrieden. Der Leibwächter lässt sich sein Schweigen bezahlen. Ein Fortsetzungsroman, Teil 88.

Was bisher geschah: Der tote Verleger gilt als Drahtzieher für den Mord am Rechtsnationalen Freypen. Die Politik ist erleichtert.

In 100 Teilen bis zur Bundestagswahl 2017 erscheint der Politkrimi "Und erlöse uns von allen Üblen" online als Fortsetzungsroman im Tagesspiegel. Hier Folge 88 vom 11. September.

Die Frage am Kabinettstisch in Berlin, ob man es denn hinter sich habe, war trotzdem ernst gemeint. Hier ging es nicht um einen simplen Mord, sondern um Macht, und ein Sprung der Rechten über die Fünf-Prozent-Hürde würde die herrschende Koalition bei der nächsten Wahl die Macht kosten. Die Hardliner in der Koalition, die rechts von sich nur noch die Wand duldeten, hatten bis zu den tödlichen Schüssen auf Schwarzkoff befürchtet, dass es den Strategen von der Nationalen Alternative gelingen könnte, ihren erschossenen Führer Joachim Freypen als Märtyrer aufzubauen und mit dem Toten an der Spitze in den Wahlkampf zu ziehen. Der Deutsche an sich liebte Märtyrer und deren Witwen, falls sie blond waren. Helga Freypen übrigens hatte nach der Live-Übertragung des Mordes an Jens-Peter Schwarzkoff geweint, und diesmal waren ihre Tränen echt.

Der Regierungschef war nicht besonders traurig über den Tod von Jens-Peter Schwarzkoff. Natürlich ließ er an Julia Schwarzkoff eines der Standardschreiben in Sachen Beileid - unter diesem Stichwort war eine Form in seinem Vorzimmer gespeichert, in der nur die jeweiligen Namen geändert werden mussten - abschicken und machte auch vor den Fernsehkameras ein ernstes Gesicht. Wichtig war ihm aber nur der politische Aspekt der Hamburger Bluttat, denn die Ermordung des Verlegers durch das Mitglied einer rechtsradikalen Partei würde zunächst einmal dieser Partei schaden.

Susanne Hornsteins Abschlussbericht liegt offen auf dem Schreibtisch des Innenministers, als er sie bittet, Platz zu nehmen. "Glückwunsch", sagt er, "Sie haben wieder mal hervorragende Arbeit geleistet, Frau Doktor Hornstein."

"Was ist daran hervorragend", sagt sie bitter, "im Gegenteil, in Wirklichkeit habe ich versagt. Ich habe den Mörder von Freypen nicht gefunden und werde den wahrscheinlich auch nicht mehr finden. Der mutmaßliche Auftraggeber ist tot, mutmaßlich wie gesagt, bewiesen ist nichts, und wir können aus ihm nichts mehr herausholen. Mitwisser dürfte es nach unseren Erfahrungen in solchen Fällen wohl kaum geben. Also bleibt der Killer unbestraft. Das ganze nennt sich Gerechtigkeit. Was also sollte hervorragend sein?"

"Aber ich bitte Sie, mehr können Sie nun wirklich nicht erwarten. Einer klugen Frau wie Ihnen muss ich ja auch nicht erklären, dass es zwischen Recht und Gerechtigkeit einen gewaltigen Unterschied gibt und nur in den seltensten Fällen beides übereinstimmt. Schön, wenn man auch noch den Schützen verhaftet hätte, aber der Killer ist sicher längst wieder dort, wo er hergekommen ist. In Moskau zum Beispiel. Oder in Tirana. Dort kann man derzeit schon für tausend Euro einen Mörder kaufen, habe ich mir sagen lassen. Die Tatwaffe haben Sie gefunden oder? Sehen Sie. Wer außer Schwarzkoff sollte die auf einem Golfplatz versteckt haben? Das Erpressungsmotiv ist einleuchtend, dieser Mord damals an dem armen Mädchen. Das haben doch auch Sie selbst herausgebracht. Dass nun dieser Freypen-Mann verrückt gespielt und den Verleger erschossen hat, ja ich bitte Sie, dafür können Sie doch nichts."

Er verschluckt die Bemerkung, dass die blutige Lösung des Falles Freypen in Berlin beifällig aufgenommen worden ist und kein Interesse mehr daran besteht, mehr zu erfahren. Nach seinen In­formationen war das die vorherrschende Meinung in allen demokratischen Parteien.

In ihrem Bericht, der sich nur auf Indizien stützt, hatte Susanne Hornstein nichts schreiben dürfen von ihren erneut gewachsenen Zweifeln an der offiziellen Version. Aus dem Abstand von zwei Tagen betrachtet, bleibt heute die entscheidende Frage offen, selbst wenn sie mit keinem mehr darüber sprechen kann: Warum zum Teufel hat sich Schwarzkoff als Alibi ausgerechnet eine so leicht nachzuprüfende Geschichte wie eine versuchte Vergewaltigung ausgedacht? Darauf gibt es eigentlich nur eine einzige logische Antwort: Weil die Geschichte eben doch stimmte. Und warum hatte dann Andrea Hofwieser gelogen? Weil sie sich rächen wollte an Schwarzkoff. So simpel klang das zwar überzeugend, aber das hilft Susanne Hornstein nicht weiter. Sie macht sich Vorwürfe, dass sie indirekt schuld ist am Tod von zwei Menschen, am Tod von Lawerenz und am Tod von Schwarzkoff. Beide könnten ohne ihre Ermittlungen noch leben. Was um Gottes Willen ist daran gerecht?

Erstaunlicherweise hat Georg Krucht mit ihr genau darüber gesprochen, als sie sich heute morgen von ihm verabschiedete. Die Sonderkommission in Sachen Freypen war aufgelöst worden. Für die Verhöre von Karl Mulder brauchte er nicht mehr das BKA, die Beweise seiner Schuld, die zu bestreiten Mulder nicht vorhatte, sogar optisch dokumentiert und bis zum Prozess würde der ehemalige Polizist in Untersuchungshaft bleiben. Selbst wenn er mit Totschlag im Affekt davonkommen sollte - die nächsten Jahre würde Mulder ganz sicher im Knast verbringen. Die Nationale Alternative, vertreten durch ihre neue Vorsitzende Helga Freypen, hatte es zunächst abgelehnt, ihm einen Anwalt zu stellen. Sich dann aber vom juristischen Berater der Partei überzeugen lassen, dass dies keine so gute Idee sei in Anbetracht der Tatsache, dass Mulder dem ermordeten Joachim Freypen doch sehr, sehr nahe gestanden hat. So nahe, dass er über alle Aktivitäten genau berichten könnte.

Daraufhin bekam Mulder den besten Anwalt und der hatte zum ersten Gespräch mit seinem Mandanten auch die Zusage mitgebracht, dass selbstverständlich während einer möglichen Haftzeit sein Gehalt von der Partei weiterbezahlt würde. Mulder rechnete realistisch mit mindestens zehn Jahren Haft, was bei seinem Einkommen mehr als eine Million Belohnung ausmachte, die es im anderen Fall gege­ben hätte. Er stimmte deshalb dem Stillhalteabkommen zu, denn draußen gab es eh keinen Menschen, den er vermissen würde. Auch keinen, der ihn vermissen würde. Nur Mulders Männer sandten ihrem Chef Glückwünsche ins Gefängnis. Für sie wenigstens war er ein Held. Und sie hatten ihn durch die Blumen, die sie schickten, wissen lassen, dass sie sich um Andrea Hofwieser zu kümmern gedachten. Auf die besprochene Art.

"Susanne", hatte Krucht beim Abschied am Flughafen gesagt, und sie daraufhin im ersten Moment befürchtet, nun wollte er vielleicht doch wieder auf die Nacht anspielen, in der er sie so hatte nennen dürfen, aber zum letzten Mal war es dem Hamburger Beamten gelungen, seine Kollegin zu verblüffen, denn er meinte gar nicht sie, sondern die andere: "Susanne hätte damals auch gern weitergelebt. Sie war siebzehn. Die beiden, die sie nicht haben leben lassen, hatten immerhin danach noch vierzig Jahre, so oder so, bevor sie sterben mussten. Die haben also ein Leben gehabt. Sehen Sie die Geschichte doch mal aus diesem Blickwinkel. Sie haben nicht etwa Unschuldige ans Messer geliefert, denn unschuldig war in dieser ganzen Affäre nur eine, das Mädchen Susanne." Seine kühle Analyse half  Susanne Hornstein und sie hatte es sogar gewagt, sich mit einem leisen Kuss auf die bärtige Wange von Krucht zu verabschieden. Der hatte gespürt, dass es Dankbarkeit war, und nicht mehr.

"Wollen Sie nicht mal ein paar Tage Urlaub machen, Frau Doktor Hornstein?", unterbricht der Minister ihre Gedanken und legt ihren Abschlussbericht zur Seite: "Die letzten Wochen nach dem Attentat waren selbst für eine Frau wie Sie vielleicht ein bisschen viel." Er macht nicht den Eindruck, dass ihn ihre Antwort wirklich interessiert, aber sie nützt die Gelegenheit. Wer weiß, wann sie ihn wieder unter vier Augen sprechen kann.

"Vielen Dank. Sie haben sicher nichts dagegen, wenn ich zum Beispiel in Wiesbaden Urlaub mache und mich mal umhöre, ob es da vielleicht andere Aufgaben für mich gibt? Dachte ich mir. Hätten Sie denn auch nichts dagegen, wenn ich mich da mal ganz offiziell erkundige, ob EUROPOL mich brauchen könnte? Lawerenzs Selbst.. Lawerenzs Tod ist vielleicht der richtige Anstoß dafür, dass ich noch einmal was ganz anderes mache." Der Minister schaut seine seltsame Parteifreundin lange an, bevor er antwortet, wie immer vorsichtig und jedes Wort abwägend: "Gehen Sie davon aus, dass ich nichts dagegen haben würde."

Und morgen lesen Sie: Der Mörder kommt ins Grübeln.

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