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"Und erlöse uns von allen Üblen" #37: Kein Mord im klassischen Sinne

Eine Gruppe junger Polizisten sieht Selbstjustiz als Notwehr. Sie schmieden einen Bund. Ein Fortsetzungsroman, Teil 37.

Was bisher geschah: Vier junge EUROPOL-Beamte haben beschlossen, selber für Gerechtigkeit zu sorgen - mit Selbstjustiz.

In 100 Teilen bis zur Bundestagswahl 2017 erscheint der Politkrimi "Und erlöse uns von allen Üblen" online als Fortsetzungsroman im Tagesspiegel. Hier Folge 37 vom 22. Juli.

"Nehmen wir mal als Beispiel einen Drogendealer", sagte Ruud kauend, "wer außer seiner Mutter würde weinen, wenn es den erwischt? Wahrscheinlich nicht mal die. Und wie viele Mütter würden sich statt dessen freuen, Mütter, deren Kinder von diesem gewissenlosen Arschloch das Zeug bekommen haben oder sogar dabei draufgegangen sind? Mit Haftbefehl ist nicht ranzukommen an solche Typen wie die, da lachen die nur und rufen wegen der Kaution ihre Bank an." Er ließ keinen Zweifel daran, welche Lösung er bevorzugen würde.

Peter wiederum erinnerte an das berühmte Beispiel, wie sich die Mafia auf ihre Art von einem ganz besonderen Problem befreite: "Die haben doch damals diesen Bankier, der offenbar zu viel über die Geschäfte des Vatikans mit den Ehrenwerten Herren aus Sizilien wusste, einfach unter einer Brücke in London ruhig gestellt. Aufgehängt. Selbstmord. Wir wussten, dass es keiner war. Aber beweisen?"

Retin war das schon zu konkret geworden, zu groß die Sorge, dass sein Vorschlag, der wirklich nicht spontan aus der Situation geboren war, in Anekdoten des Augenblicks unterging, die jeder von ihnen parat hatte. Er blieb also ernst, nahm seine Brille ab, legte sie neben sich ins Gras und unterbrach: "Noch einmal, und wenn wir das wirklich machen? Nicht nach Lust und Laune und einmal pro Mo­nat, weil wir gerade nichts besseres zu tun haben. Natürlich nicht. Das wäre in der Tat verbrecherisch. Es muss etwas ganz besonderes sein, ein ganz einmaliger Fall, wenn wir uns zu einem Mord entschließen, und es müssen schon Figuren sein, an die normale Mörder nicht herankommen. Nur wir mit unserer Ausbildung und unseren Fähigkeiten. Also Aktionen nur in ganz bestimmten eindeutigen Fällen und nach präzise festgelegten Regeln und nach einer Methode, die wir gelernt haben ..." Als er merkte, wie ihn die anderen verständnislos anschauten, setzte er nach: "Unseren seltsamen Unterricht meine ich. Diese ganzen Mordmethoden, die sie uns in den letzten Wochen erklärt haben."

"Was meinst du mit festen Regeln?", fragte Lionel Zartmann. Peter McFerrer knuffte ihn freundschaftlich in die Seite: "Unser Deutscher will erst mal ein Formblatt."

Alle lachten.

"Erste Regel", sagte dann Retin, "es werden nur einstimmige Beschlüsse umgesetzt. Zweite Regel: Sobald es eine Gegenstimme gibt, ist der Fall gestorben, und zwar für immer. Dritte Regel: Es müssen eindeutige Beweise vorliegen. Vierte Regel: Wir greifen nur dann ein, wenn die Justiz auf normalem Weg keine Chance mehr hat. Fünfte Regel: Es dürfen nie Unschuldige gefährdet werden, und falls das nicht zu vermeiden ist, man also anders nicht an die herankommen sollte, wird die Aktion abgebrochen. Sechste Regel: Nur ganz hoch oben bei den Top-Schweinen zuschlagen." Er setzte seine Brille wieder auf, schaute aber keinen an.

"Siebte Regel", ergänzte Peter McFerrer britisch trocken, "wir sollten uns nicht erwischen lassen", und zündete sich eine Zigarette an. Lionel Hartmann starrte nur gedankenverloren vor sich hin und Alain Retin breitete die Hände aus, als wolle er sagen, das ist es von meiner Seite, nun müsst ihr entscheiden.

Auf der sonnigen Lichtung waren kaum Geräusche zu hören, nur einmal flog ein Rabe unter lautem Krächzen über die Wipfel davon. "Die können hundertvierzig Jahre alt werden", bemerkte der Deutsche beiläufig, und blickte dem Vogel nach, aber er sagte dies nur zu sich selbst. Alle spürten die Spannung, keinem war nach den üblichen Scherzen zumute, mit denen sie sich normalerweise gegenseitig foppten. Keiner aber wollte den entscheidenden Satz als erster aussprechen.

Peter McFerrer dachte an die vielen schlaflosen Nächte, in denen er sich voll ohnmächtiger Wut genau das gewünscht hatte, was Alain gerade vorgeschlagen hatte. Weil wieder mal die Beweise nicht ausreichend waren, weil wieder mal ein geschickter Anwalt einen der Typen rausgehauen hatte, von denen sie sicher wussten, dass er schuldig war. Lionel Zartmann erinnerte sich an eines seiner ersten juristischen Seminare an der Universität in Tübingen, als er während einer akademischen Debatte vehement gegen die Todesstrafe plädiert hatte. Nichts anderes als Todesstrafe hatte Retin gerade vorgeschlagen, oder...?

Ruud van Rey dagegen überlegte schon, wie man ihre Aktionen so tarnen könnte, dass es niemals eine Spur zu ihnen geben würde. Tarnung und Gegenattacke waren seine Spezialgebiete, vorrangig dabei die Tarnung, und deshalb lagen solche Überlegungen für ihn nahe. Die Idee an sich fand sofort seine Zustimmung, die passte zu seiner Überzeugung, dass jeder für seine Taten auf Erden bezahlen müsse und nicht erst vor dem Jüngsten Gericht. Er setzte sich deshalb entschlossen aufrecht hin und wischte ein paar Blätter von seinen Jeans: "Ich mache mit", erklärte er bestimmt und von ihm klang das so normal wie die Aufstockung eines Einsatzes beim Poker. Retin nickte, als habe er dies nicht anders erwartet von dem Holländer und schaute Peter McFerrer an.

"Was unterscheidet uns denn eigentlich noch von anderen Mördern, falls wir so etwas beschließen", fragte der und sagte dann doch das, was er eigentlich hatte vermeiden wollen, "falls wir selbst einen Mord begehen?"

Die Antwort kam überraschend nicht von Alain und nicht von Riley, sondern ausgerechnet von Lionel Zartmann: "Das ist nicht Mord im klassischen Sinne. Das ist eine Art Notwehr. Ließe sich sogar juristisch begründen, aber das will ich euch ersparen. Entscheidend ist die Philosophie, die hinter Alains Idee steckt. Man tötet einen Schuldigen, damit der keine Unschuldigen mehr töten kann. Und das kann nicht nur notwendig sein, also zwingende Notwehr, sondern sogar eine moralische Verantwortung. Selbst die katholische Kirche verdammt nicht die Todesstrafe, wenn sie der einzig mögliche Weg ist, wie es im Katechismus so schön heißt, Menschenleben vor einem ungerechten Angreifer zu verteidigen."

Alle schauten ihn bewundernd an und er lauschte ungläubig den eigenen Worten, blieb aber ohne äußere Regung. Dann fügte er ruhig hinzu: "Ich bin dafür, plädiere aber für eine weitere Regel, die achte: Was einmal beschlossen wurde, wird nie wieder in Frage gestellt ."

In gespielter Verzweiflung hob McFerrer seine Arme über den Kopf: "Da bleibt mir ja nichts anderes übrig, Freunde, sonst fangt ihr noch bei mir als lästigem Mitwisser zu üben an. Also, ich bin auf jeden Fall dabei."

Und morgen lesen Sie: Vier Polizisten finden einen Decknamen.

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