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"Und erlöse uns von allen Üblen" #36: Eine staatstragende Tarnung

Vier junge Polizisten beschließen, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen - durch Mord. Aus der Idee entstehen Pläne. Ein Fortsetzungsroman, Teil 36.

Was bisher geschah: Bei einem EUROPOL-Seminar lernen sich vier junge Polizisten aus vier Ländern kennen. Sie eint die Idee von einer höheren Gerechtigkeit, die auch Mord zulässt.

In 100 Teilen bis zur Bundestagswahl 2017 erscheint der Politkrimi "Und erlöse uns von allen Üblen" online als Fortsetzungsroman im Tagesspiegel. Hier Folge 36 vom 21. Juli.

Als sie jetzt so friedlich mit ihren Baguettes und dem Käse und dem Champagner im Schatten auf der Lichtung saßen, verstanden McFerrer, van Rey und Zartmann auf einmal, warum Alain Retin bei der Erarbeitung der letzten Fassung ihres Referats dennoch auf einem anderen Schluss bestand, den er spöttisch staatstragend nannte, und warum er so und nicht anders formuliert hatte:

"Natürlich sind dies auf den ersten Blick einleuchtende Beispiele für eine moralisch begründbare Selbstjustiz, aber selbst dann niemals erlaubt, wenn die Schuldigen - wie aus vielen Beispielen bekannt - trotz ihrer Verbrechen mit geringen Strafen davonka­men, weil für solche Politiker oder solche Manager die passenden Paragraphen fehlten oder gar auf immer ungestraft, weil es nie gelang, sie überhaupt vor Gericht zu stellen. Niemand hat das Recht, in solchen Fällen am Gesetz vorbei für Gerechtigkeit zu sorgen, nur weil das Recht versagte. Wenn das Ge­waltmonopol des Staates in Frage gestellt wird, herrscht allgemeines Chaos. Wer mordet, aus welchen angeblich guten Gründen auch immer, ist selbst nicht besser als der Mörder, den er auslöscht." 

McFerrer hatte bemängelt, aber er hatte ja als SAS-Spezialist für sogenannte Counterattacks als einziger schon ganz andere Erfahrungen, dass dieses Fazit nichts weiter sei als politisch korrekte Langeweile. Also ziemliche Scheiße. Dass doch insgeheim keiner, auch ihre Vorgesetzten nicht, in bestimmten Fällen einer Auge-um-Auge-Lösung wie im Alten Testament widersprechen würde. Insgeheim. Also warum das nicht mal so provokant und deutlich hinschreiben?   

Retin dagegen hatte wie immer weitergedacht. Er ist der Stratege und eine Debatte über Selbstjustiz aufgrund ihrer Arbeit wollte er um jeden Preis ver­meiden. Was er den anderen auf der Waldlichtung gerade vorgeschlagen hat, war schließlich von ihm seit langem und mit allen möglichen Konsequenzen in Gedanken durchgespielt worden.

Aber erst in Colmar, als er die Männer getroffen hatte, mit denen er jetzt auf dem Boden im Kreis saß, schien ihm plötzlich machbar, was zuvor nur eine verlockende wahnsinnige Idee war. Mit ihren Fähigkeiten würden sich geradezu ideal ergänzen. Mit van Rey, McFerrer und Zartmann könnte er seine Idee endlich in Taten umsetzen. Eine einmalige Chance also. Dafür war er sogar bereit, den Umzug von Paris nach Den Haag in Kauf nehmen, denn zu EUROPOL hatte sich Retin eher unwillig überreden lassen. Sich bislang nur überlegt, wie er noch am geschicktesten der Ehre entgehen könnte, als der angeblich beste Mann in der Sureté von der Seine im Namen Europas dorthin geschickt zu werden. Obwohl er wusste, dass es in Den Haag eine Universität mit vielen sicher schönen Studentinnen gab.

Retin war überzeugt, es würde nur darauf ankommen, im richtigen Moment den Anstoß zu geben, denn die anderen schienen ihm reif dafür. Ein Risiko musste er eingehen - dass sie ihn für wahnsinnig erklären würden, aber das schien ihm angesichts der Dimension seines Plans nicht so wichtig und außerdem war es nichts Neues für ihn, dass ihn seine Umgebung ab und zu für irre hielt.

Ihre Reaktionen überraschten ihn deshalb eigentlich nicht, weder die von Rey, noch die von McFerrer oder Zartmann. Entscheidend war, dass keiner entsetzt war und mit Mord unter welchen Bedingungen auch immer niemals und unter keinen Umständen etwas zu haben wollte. Sondern nur beruflich, also mit den Morden von denen, die sie dann jagten. Dann hätte er seine Anregung als Scherz verkaufen und für immer begraben müssen.

Falls es jetzt aber nicht beim unverbindlichen Gedankenspiel enden sollte, dann würde bald, und spätestens dann, wenn sie alle in Den Haag waren, ein geheimes Leben beginnen neben dem offiziellen. Das erforderte genaue Planung, sinnvolle Strategien und vor allem perfekte Tarnung. Kein Ermittler sollte in Zukunft bei gewissen merkwürdigen Todesfällen eine Verbindung herstellen können zu den vier Männern, die gemeinsam jenen Aufsatz geschrieben hatten. Denn auch die Kollegen aus den anderen Ländern gehörten zu den besten Polizisten Europas und wer sie unterschätzte, war schon verloren.

Deshalb Retins politisch korrekte Schlusssätze. Die hatte er im Hinblick auf die Tarnung, die sie brauchen würden, ganz bewusst gesetzestreu hingeschrieben. So begeistert wie die anderen war Alain Retin daher nicht gewesen, als sie erfuhren, dass ihre Arbeit abgedruckt wird und bereits beschlossen, dass ihre erste Aktion frühestens ein Jahr nach der Veröffentlichung stattfinden sollte - wenn alle bereits vergessen hatten, was da so drinstand.

Und morgen lesen Sie: Die vier Polizisten müssen sich entscheiden.

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